Die Aufarbeitung des Rechtsterrorismus

Das dokumentierte Desaster

Bei der Fahndung nach der Terrorgruppe NSU hat der Thüringer Verfassungsschutz die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehören »massiv beeinträchtigt«. Das befindet die Schäfer-Kommission in ihrem Abschlussbericht.

Unkoordinierte Durchsuchungen, fehlende Haftbefehle, mangelhafter Informationsaustausch zwischen Ämtern, unstrukturierte Aktenführung, unterbliebene Behördenzusammenarbeit, unzureichende Ermittlungen und unterlassene Faktenanalysen – das ist das Urteil des Abschlussberichts einer unabhängigen Kommission unter Leitung des ehemaligen Bundesrichters Gerhard Schäfer, die die Ermittlungen der Thüringer Behörden zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) untersuchte.
Am 15. Mai stellten Schäfer und Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) das »Gutachten zum Verhalten der Thüringer Behörden und Staatsanwaltschaften bei der Verfolgung des ›Zwickauer Trios« vor; 266 DIN-A4-Seiten umfasst dieses Dokument über behördlichen Dilettantismus. Bei der Vorstellung des Gutachtens in Erfurt wirkte Schäfer erschüttert. Eine solche Mischung aus Inkompetenz und Konkurrenz zwischen dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (TLfV) und Thüringer Landeskriminalamt (TLKA) schien ihm wohl unvorstellbar. Die Arbeit des TLfV, so Schäfer, sei ein »sehr belastendes Kapitel«.
Vom 23. November 2011 bis zum 15. Mai 2012 versuchte Schäfer mit Volkhard Wache, Bundesanwalt am Bundesgerichtshof a. D., und Gerhard Meiborg, Abteilungsleiter im rheinland-pfälzischen Justizministerium, die Ermittlungen des TLfV, des TLKA und verschiedener Staatsanwaltschaften zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe nachzuvollziehen. Die Landesregierung hatte die unabhängige Kommission eingesetzt. Der Grund steht in dem Gutachten auf Seite 12: »Als Reaktionen auf das Presseecho«.
Seit dem ersten Novemberwochenende 2011 standen Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaften wie wohl noch nie in der bundesdeutschen Geschichte in der öffentlichen Kritik. Denn am 4. November vorigen Jahres waren das »Zwickauer Trio« und seine Mordserie nur zufällig aufgeflogen. In Erfurt scheiterte am Vormittag jenen Tages ein Überfall von Mundlos und Böhnhardt auf eine Sparkasse, sie erschossen sich kurz darauf. Am Nachmittag setzte Zschäpe ihre Wohnung in Zwickau in Brand, wohl um Beweismittel zu vernichten. Vier Tage später, am 8. November, stellte sich Zschäpe, die nach Aussagen des V-Manns und Neonazis Tino Brand »nicht dumm« ist und »politisch gut mitreden konnte«, in Jena der Polizei – in der Stadt, in der das Trio sich zum Kern des NSU zusammenfand. Die Terroristen ermordeten zehn Menschen und verübten zwei Bombenanschläge mit mehreren Verletzten sowie 14 bewaffnete Banküberfälle.

Die Kritik der Kommission, die rund 20 000 Seiten Akten durcharbeitete und V-Männer und Behördenmitarbeiter vorlud, bezieht sich aber nicht allein auf die Fehler bei den Ermittlungen und die Mängel der Auswertung. Auf Seite 219 des Gutachtens wird betont: »Durch die unzureichende Übermittlung seiner (gemeint ist das TLfV, Anm. d. Verf.) gesamten Erkenntnisse zum Trio wirkten sich diese Folgen auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden dramatisch aus.« Ausführlich wird hervorgehoben: »Die Staatsanwaltschaft Gera hätte, wenn sie und das für sie ermittelnde TLKA vom TLfV ausreichend informiert worden wäre, zwingend die Vorlage des Verfahrens an den Generalbundesanwalt wegen des Verdachts des Verbrechens der Bildung terroristischer Vereinigungen (…) prüfen müssen.«
Zwei Momente in der Ermittlungsgeschichte hält die Kommission den Ermittlern besonders vor. Am früheren Morgen des 26. Januar 1998 durchsuchten in Jena Polizeibeamte Wohnungen und Garagen von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe wegen Vorbereitung einer Sprengstoffexplosion. Bei der Durchsuchung der Garage Nummer 6 war Böhnhardt äußerst hilfsbereit, fuhr seinen PKW noch aus der Garage, wohl wissend, dass dort nichts zu finden war. Gelassen wartete er die Überprüfung ab und fuhr dann einfach weg. Gleichzeitig sollten andere Garagen wie die Nummer 5 bei den Kläranlagen durchsucht werden. Doch erst als die Maßnahme anlief, meldete sich ein Polizeibeamter und sagte, er habe die Garage an Zschäpe vermietet. Die Durchsuchung verzögerte sich, weil ein Vorhängeschloss das Tor verriegelte. Hier fanden die Beamten eine Bombenwerkstatt, sie entdeckten eine fertige Rohrbombe und 1,4 Kilogramm TNT. Nach dem Fund versuchte die Polizei den zuständigen Staatsanwalt zu erreichen, der aber erkrankt war. Erst am späten Vormittag erfolgte die Entscheidung, dass die drei in Haft genommen werden dürften. Zu spät, die Neonazis tauchten unter. In der Folge lebten sie über 13 Jahre, durch ein Netzwerk von Kameraden von »Blood and Honour« (B&H) getragen, im Untergrund.
Ein »sorgfältigere Vorbereitung der Durchsuchung« hätte diese Entwicklung womöglich verhindert, deutet die Kommission an. »Bei einer zeitlich abgestimmten Durchsuchung wäre es nach dem Fund in der von Zschäpe gemieteten Garage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit möglich gewesen, jedenfalls Böhnhardt vorläufig festzunehmen, vielleicht alle drei Beschuldigten«, heißt es auf Seite 262. Mit den Bombenfunden, so die Kommission, sei ein »Niveau«, das »terroristische Züge annahm«, bereits erreicht gewesen.
Diese Einschätzung wird durch eine Befragung von Jürgen H. durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) bestätigt. Am 6. Dezember 1999 notierte der MAD, H. habe ausgesagt, dass das Trio sich wegen des zu erwartenden Strafmaßes nicht stellen werde. H., der anfänglich Kontakt zu dem Trio im Untergrund hielt, sagte weiter aus, es habe sich auf »Ebene des Rechtsterrorismus bewegt, mit dem Ziel, eine Veränderung des Staates herbeizuführen«. In der Befragung in der Kaserne in Mellrichstadt bekannte H. offen, mit Böhnhardt befreundet zu sein. Ralf Wohlleben, der schon in der Kameradschaft Jena mit den dreien bestens bekannt war und heute wegen der Beschaffung einer Waffe für sie in Haft ist, habe ihn damals gebeten, Telefonate von Böhnhardt anzunehmen und Kurierfahrten für die drei zu erledigen.

Auch die Kontakte zu Jan W., einem sächsischen Kader von B&H, hatten Telefonabhörmaßnahmen offenbart. Mit Wohlleben, W. und H. war das TLfV dem NSU sehr früh sehr nahe gekommen. Diese Spuren wurden aber nicht ernsthaft verfolgt. Selbst das TLKA erhielt kaum Hinweise. Unter nahezu 50 Mitteilungen an das TLfV von V-Leuten und Informanten dokumentiert das Gutachten nur fünf Fälle einer Weiterleitung an das TLKA.
Überdies heißt es auf Seite 98, bei einer Telefonüberwachung von W. sei festgestellt worden, dass er offenbar regen Telefonkontakt zu einem Handy hatte, »das für das Ministerium des Innern eines anderen Bundeslandes registriert war und sich in Chemnitz befand«. Schon am 25. August 1998 lautete eine SMS: »Hallo, was ist mit den Bums«. Ob der Empfänger der SMS der bereits bekannte brandenburgische Neonazi und V-Mann Carsten S. war, ist unklar. Für die Kommission stellt diese SMS aber »möglicherweise« einen »Hinweis auf Waffen« dar.
Auf Seite 220 fasst die Kommission deutlich zusammen: »Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das TLfV durch sein Verhalten die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei der Suche nach dem Trio massiv beeinträchtigt hat.«
Eine weitere Merkwürdigkeit: Das TLfV ließ bei einem Besuch der Eltern von Mundlos die Bemerkung fallen, sie sollten bei einer Kontaktaufnahme »öffentliche Fernsprecheinrichtungen« nutzen – ein indirekter Hinweis darauf, dass ihr Privatanschluss abgehört wurde. Das TLfV wollte wohl mit Mundlos einen Deal vereinbaren, das TLKA den Aufenthaltsort ermitteln.
Aufschlussreich ist jedenfalls, dass in dem Bericht auf Seite 247 festgestellt wird, die »Vorstellung, das TLfV habe das Trio logistisch unterstützt«, hätten »nahezu alle von der Kommission gehörten Beamten des TLKA« geteilt, auch »Staatsanwälte äußerten sich – zum Teil eher vorsichtig – in dieser Richtung«. Die Kommission erklärt aber, »Tatsachen, welche den Vorwurf stützen könnten, das Trio sei vom TLfV unterstützt worden, wurden von keinem einzigen Beamten vorgetragen«, und bezeichnet diesen Verdacht später als »haltlos«. Auch hätten die Überprüfungen der Kommission »keine Hinweise« darauf ergeben, dass ein Mitglied des Trios vom TLfV als Quelle geführt worden oder sonst für das TLfV tätig geworden wäre. Nicht auszuschließen sei aber, dass Gelder von V-Leuten dem Trio zugeflossen seien, heißt es auf Seite 242.

Jenseits dessen beschäftigte eine Aussage des V-Manns und Neonazis Tino Brandt am Montag bereits den Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags. In der Befragung durch die Kommission hatte Brandt ausgesagt, dreimal, viermal, vielleicht auch fünfmal die Szene vorab über Razzien der Polizei informiert zu haben.
»Die Tatsache, dass der Verfassungsschutz Neonazis mehrfach vor polizeilichen Maßnahmen warnte und später auch die Familie, stellt auch die Frage eines strafrechtlichen Verhaltens der Beteiligten«, sagte hierzu Martina Renner, thüringische Landtagsabgeordnete der Linkspartei und stellvertretende Vorsitzende des Untersuchungsausschusses.
Das Gutachten offenbart also unzählige polizeitechnische und strafrechtliche Fehler. Es erklärt aber nicht, warum der thüringsche Verfassungsschutz nicht sah, was zu sehen war, und nicht so handelte, wie es rechtlich vorgeschrieben ist. Renner meint, der wissenschaftliche Beistand von Extremismustheoretikern verstelle ebenfalls die Erkenntnis. Einer von ihnen, Eckhard Jesse, erklärte bereits 1996: »Der ›Blick nach rechts‹ ist überscharf entwickelt, der nach links hingegen getrübt.« Im Hinblick auf den Skandal um den NSU ist das eine verwegene Äußerung. Nun hat die sächsische CDU-Landtagsfraktion Jesse als Sachverständigen für den sächsischen Untersuchungsausschuss zum NSU benannt.