In Mexiko nehmen Morde an Journalisten zu

Tote berichten nicht

In Mexiko wurden in den ersten Monaten dieses Jahres bereits so viele Journalisten ermordet wie im gesamten Vorjahr. Inzwischen gilt das Land für Journalisten als einer der gefährlichsten Orte der Welt.

»Jede Woche kommen etwa vier Journalisten zu uns, weil sie nicht weiter wissen und Schutz brauchen«, erklärt Sara Lovera. Sie ist nicht nur in Mexiko, sondern auch international eine bekannte Journalistin und arbeitet ehrenamtlich in der Casa de Protección a Periodistas (CPP). Das Haus, in dem gefährdete Journalisten Aufnahme finden, befindet sich in Mexiko-Stadt. In der Hauptstadt ist es sicherer als in vielen der anderen 31 mexikanischen Bundesstaaten. Besonders riskant ist die Arbeit im Norden des Landes an der Grenze zu den USA, wo sich die Kartelle beim Verteilungskampf um Transportrouten und Einflussgebiete des Drogenhandels bekriegen. Doch in den vergangenen 18 Monaten ist auch der Bundessstaat Veracruz an der Atlantikküste am Golf von Mexiko für mexikanische Reporterinnen und Reporter zu einem riskanten Einsatzgebiet geworden. Nicht weniger als zehn Journalistinnen und Journalisten wurden dort seit Ende 2010 ermordet. Die jüngste Mordserie mit vier Opfern wurde binnen einer Woche verübt, zwischen dem 28. April und dem 4. Mai.

Diese vier Morde seien ein Signal an die Politik und die Presse des Landes gewesen, meint Lovera: Sicherheit gibt es für Mexikos Journalistinnen und Journalisten nicht. »Während die Abgeordneten ein Gesetz debattierten, um uns Journalisten besser zu schützen, wurden diese vier Kollegen brutal ermordet. Das ist kein Zufall«, gibt sie zu bedenken. Derart viele Morde an Reporterinnen und Reportern innerhalb einer Woche hat es in Mexiko noch nicht gegeben. »Das Grundproblem ist, dass in Mexiko die Verbrechen nicht geahndet werden. Die Straflosigkeit führt zu immer weiteren Morden«, sagt die Reporterin, die für die Agentur Cimac Noticias arbeitet und auch zu ihren Gründerinnen gehört.
Cimac Noticias berichtet in feministisch-emanzipatorischer Absicht über Menschen- und Frauenrechte. Diese existieren in Mexiko nur auf dem Papier, wie man an der Anzahl derer, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden, ablesen kann. Mehr als 50 000 Morde im sogenannten Drogenkrieg hat es seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón 2006 gegeben, hinzu kommen mehr als 30 000 Witwen, Abertausende von Waisen und unbekannten Opfern. Darunter seien viele Frauen, denn Morde an Frauen würden nicht separat registriert. Das kritisieren die Mitglieder von Cimac Noticias.
In Mexiko-Stadt können Journalistinnen und Journalisten noch relativ unbehelligt arbeiten, so Lovera. Sicherlich gebe es den einen oder anderen Versuch der Einschüchterung, aber Morde wie die an Marcela Yarce und Rocío González Anfang September 2011 seien die Ausnahme. Außergewöhnlich war in diesem Fall auch die schnelle Aufklärung, denn bereits einen Monat nach den Morden wurden die mutmaßlichen Täter dingfest gemacht. 97 Prozent der Morde an Journalistinnen und Journalisten bleiben hingegen straffrei. »Wir brauchen ein neues Justizsystem, mehr und bessere Ermittler. Da sollte investiert und nicht ausschließlich aufs Militär gesetzt werden«, kritisiert Lovera. Längst haben auch internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen (ROG) die Untätigkeit der staatlichen Institutionen kritisiert. Erhebungen von ROG zufolge ist Mexiko das gefährlichste Land der westlichen Welt für Berichterstatter, mit der Ausrufung des staatlichen »Krieges gegen die Drogenkartelle« durch Calderón Ende 2006 habe sich die Situation noch verschlimmert. Insgesamt sind nationalen Statistiken zufolge in den vergangenen zehn Jahren 83 Journalistinnen und Journalisten in Mexiko ermordet worden, weitere 14 sind spurlos verschwunden. Allein in diesem Jahr sind bisher elf Journalistinnen und Journalisten ermordet worden, ebenso viele wie im gesamten Jahr zuvor. Veracruz ist dabei erneut der gefährlichste Bundesstaat, es folgen diejenigen im Grenzgebiet zu den USA.

Regina Martínez war das erste Opfer der jüngsten Mordserie. Sie wurde am 28. April erwürgt aufgefunden. Die erfahrene und engagierte Journalistin arbeitete für das kritische Wochenmagazin Proceso. Es hatte sich immer wieder detailliert mit dem Drogenkrieg in Mexiko beschäftigt und gut recherchierte Hintergrundberichte geliefert. Dabei ging es auch um die Verbindungen der organisierten Kriminalität zum politischen Establishment. Eine solche Arbeit sei lebensgefährlich und die Journalistinnen und Journalisten seien dabei oftmals auf sich allein gestellt, meint Pedro Matías, ein ehemaliger Kollege von Martínez. Er arbeitete als Korrespondent im Bundesstaat Oaxaca für Proceso. Matías musste Mexiko bereits verlassen, weil seine Arbeit zu riskant geworden war. Dank der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte konnte er ein Jahr lang in Hamburg in Sicherheit leben (Jungle World 11/10). So viel Glück hatten die drei Bildjournalisten Guillermo Luna, Gabriel Huge und Esteban Rodríguez nicht. Ihre Leichen und eine weitere wurden am 3. Mai aus einem Abwasserkanal in Veracruz gefischt. Alle wiesen Folterspuren auf, auch die Leiche einer Frau, die als Freundin Lunas identifiziert wurde.
Rodríguez hatte das Fotografieren zuvor zwischenzeitlich aufgegeben, weil ihm die Arbeit zu gefährlich geworden war. Auch Huge und Luna waren sich der Bedrohung bewusst. Die Fotografen der Tageszeitung Notiver hatten im Sommer 2011 Veracruz gen Mexiko-Stadt verlassen, nachdem Huges Freundin und Kollegin Yolanda Ortiz sowie ein Kolumnist der Zeitung mit seiner Familie ermordet worden waren.
Genützt hat das Abtauchen nicht. Lokalpolitiker versichern, dass die Morde an Luna, Huge, Rodríguez und ihrer Kollegin Martínez auf jeden Fall aufgeklärt würden. Daran zweifeln Journalistenorganisationen wie Artículo 19. Die Aufklärungsquote ist nicht nur in Veracruz sehr niedrig, wo 2011 vier Journalisten ermordet wurden, zwei verschwanden und 16 den Bundesstaat wegen Gewaltandrohungen verlassen mussten. Das liege nicht nur an mangelhaften Ermittlungen, sondern auch daran, dass längst nicht alle Täter zu den Kartellen gehören, so Lovera. »Mehr als 60 Prozent der Morde gehen auf das Konto lokaler Machthaber mit handfesten eigenen Interessen«, meint sie. Ihr Kollege Matías bestätigt das.

Neben Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten haben auch Anschläge auf ganze Redaktionen zugenommen. Am 29. März explodierte eine Bombe gegenüber dem Büro der Zeitung El Expreso im an die USA grenzenden Bundesstaat Tamaulipas. Einige Tage zuvor war ein Sprengkörper vor dem Sender Televisa in Matamoros im gleichen Bundesstaat explodiert. Am 11. Mai wurde die Redaktion der Zeitung El Mañana in Nuevo Laredo, ebenfalls in Tamaulipas, beschossen. Solche Taten werde auch das Gesetz für den Schutz von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten nicht verhindern, glauben Experten wie Rogelio Hernández, der Sicherheitsverantwortliche der Menschenrechtsorganisation Casa de los Derechos de Periodista. Es fehle der politische Wille, meint Hernández. Gerade auf regionaler und lokaler Ebene sei dieser kaum vorhanden, ergänzt Lovera. So wird es wohl dabei bleiben, dass Woche für Woche Journalistinnen und Journalisten aus anderen Bundesstaaten in der CPP ankommen. Oder es gar nicht so weit schaffen. Am Sonntag vergangener Woche wurde die Leiche eines weiteren ermordeten Journalisten gefunden, der bis Dezember vorigen Jahres für die Tageszeitung El Sol de Cuernavaca gearbeitet hat: René Orta Salgado lag in Cuernavaca, der Hauptstadt des Bundesstaats Morelos, tot im Kofferraum seines Wagens.