War beim Parteitag in Göttingen

Sieg der Frühaufsteher

Die Partei »Die Linke« hat auf ihrem Bundesparteitag den endgültigen Bruch zwischen ihren auseinanderstrebenden Flügeln vermieden. Trotzdem steht sie vor einer ungewissen Zukunft.

Die Lokhalle Göttingen ist ein 90 Jahre altes Industriedenkmal, das inzwischen zum Veranstaltungszentrum umgebaut wurde. Hier, zwischen Bahnhof, Multiplex-Kino und Intercity-Hotel, kam am Wochenende »Die Linke« zu ihrem dritten Bundesparteitag zusammen. Viele Unkenrufe hatte es zuvor gegeben, wie den, die Partei könne bald genauso wie die Lokhalle zum Denkmal einer untergegangenen Epoche werden. Einer Epoche, in der es in Deutschland eine Partei links von der Sozialdemokratie gab.
»In der Linkspartei werden Inhalte über Köpfe transportiert. Für inhaltliche Arbeit mit emanzipatorischem Impetus gibt es dagegen nur wenige Anknüpfungspunkte«, sagt ein junger Mann aus dem Umfeld der »Emanzipatorischen Linken« kurz vor Beginn des Parteitags am Samstagmorgen. Die relativ junge Strömung will bisher vernachlässigte Themen wie etwa Prekarisierung ins Zentrum rücken. Ein anderer Mann um die 50, der vor dem Eingang Flugblätter verteilt und Mitglied der trotzkistischen SAV ist, macht klar, was das heißt: Entscheidend sei es, Dietmar Bartsch als neuen Vorsitzenden zu verhindern: »Der will die Unterwerfung unserer Partei unter die SPD.«
Auch auf Twitter machen die Gegner von Bartsch aufgeregt Front gegen den Spitzenkandidaten des Reformflügels. Der dazu gehörige Hashtag heißt #nobartsch. In der nationalbolschwestischen Jungen Welt hetzt Werner Pirker: »Bartsch ist ein Meister der Apparat-Intrige«, wettert er, Bartsch gehöre »mit Schimpf und Schande davongejagt«, im Falle seiner Wahl als Nachfolger von Klaus Ernst »wäre eine Austrittswelle garantiert«.

Von dem Bemühen um eine kooperative Führung, in der die verschiedenen Parteiflügel gleichberechtigt vertreten sind, ist in diesen Kreisen wenig zu spüren. Der traditionalistische Flügel, bestehend aus vorwiegend in Westdeutschland beheimateten linken Gewerkschaftern, ehemaligen SPD-Mitgliedern und Vertretern linker Splittergruppen, schart sich hinter Oskar Lafontaine. Der frühere Parteivorsitzende will die Wahl des ihm verhassten Bartsch verhindern. Der vorwiegend ostdeutsche Reformerflügel hingegen hält seinen Kandidaten für genau den richtigen Mann für den Parteivorsitz. Rollen nun tatsächlich zwei Züge aufeinander zu, wie die Situation vor dem Parteitag beschrieben wurde? Zum Auftakt spricht Manfred Sohn vom gastgebenden Landesverband Niedersachsen ein Grußwort. Er hoffe auf ein Signal von dem Parteitag, nämlich, dass »die Linke unkaputtbar« sei. Ob das wirklich so ist, fragen sich in Göttingen nicht nur die anwesenden Journalisten, sondern auch immer mehr Parteimitglieder. Es kommt zur ersten Kampfabstimmung – aber nur über die Frage, ob man am Folgetag wie vorgesehen um acht oder doch erst um neun Uhr weitermacht. Die Frühaufsteher sind in der Mehrheit.
In seiner Abschiedsrede zeichnet der scheidende Vorsitzende, Klaus Ernst, ein dramatisches Bild. Ganze Kreisverbände lösten sich auf, es gebe einen dramatischen Mitgliederschwund, ja sogar »Zerfallserscheinungen« . Der bayerische Gewerkschafter räumt auch eigene Fehler ein. Das hält ihn nicht davon ab, gegen Dietmar Bartsch zu polemisieren, ohne dessen Namen zu nennen. Ernst erntet dafür viel Beifall und einzelne Pfiffe. Werbung für einen integrativen Vorstand sieht anders aus.
Ernst, der mit seiner Co-Vorsitzenden Gesine Lötzsch (die bereits im April zurückgetreten ist) eine chaotische Amtszeit hinter sich hat, lobt Lafontaine in höchsten Tönen. Ob hier irgendjemand der Meinung sei, dass »der Rückzug von Oskar uns stärker gemacht hat«, fragt der frühere IG-Metall-Funktionär. Trotzig antwortet eine junge Frau im Rausgehen: »Ja!« Sie ist Mitglied im »Forum Demokratischer Sozialismus« (FDS), der größten organisierten Reformerströmung der Partei. Im FDS will man weg von der Fixierung auf die SPD als politische Gegnerin. Im Gespräch erzählt sie, wie ihre Basisorganisation in einem Berliner Innenstadtbezirk schleichend von Lafontaine-Anhängern übernommen worden und inhaltliche Arbeit immer schwieriger geworden sei, dass man daraufhin einen neuen Zusammenschluss gegründet habe und deswegen als »Spalter« beschimpft werde. Während der folgenden Generaldebatte über den Leitantrag des Parteivorstandes wird es plötzlich sehr still im Saal: Die sächsische Bundestagsabgeordnete Katja Kipping spricht. Sie fordert ein »Ende der Grabenkämpfe«. Die 34jährige ist für viele die letzte Hoffnung für die am Abgrund stehende Partei. Sie hat ein Team mit moderaten Vertreterinnen und Vertretern beider Flügel zusammengestellt und strebt mit der nordrhein-westfälischen Landessprecherin Katharina Schwabedissen eine weibliche Doppelspitze an. Die beiden Frauen wollen »einen Aufbruch weg vom Lagerdenken, hin zu einer neuen Linken«.

Doch zuerst ist wieder die alte Linke dran. Nacheinander sprechen die beiden führenden Protagonisten der Vereinigung von PDS und WASG, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. Ein tiefer Graben tut sich auf. Gysi lobt ausdrücklich Bartsch, den er zwei Jahre zuvor als Bundesgeschäftsführer auf Betreiben Lafontaines noch abgesägt hatte. Gysi erklärt, die Vereinigung der Partei sei bislang nicht gelungen. Es gebe »Hass« und »pathologische Zustände«, besonders in der von ihm geführten Bundestagsfraktion. Falls es nicht gelinge, eine kooperative Führung zu bilden, und sich ein Flügel durchsetze, »wäre es besser, sich fair zu trennen«.
Spaltung der Linkspartei? Lafontaine widerspricht. Offen und scharf. Befindlichkeiten seien kein Trennungsgrund, schließlich habe man sich im Herbst mit einer Zustimmung von 95 Prozent ein gemeinsames Programm gegeben. Folglich gebe es keinen Grund, »das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen«. So weit auseinander hat man die beiden seit der Gründung der Partei im Jahr 2007 noch nie erlebt. Gysi und Lafontaine halten sehr emotionale und sehr laute Reden, das Wort »Herzanfallgefahr« macht die Runde. Beide bekommen heftigen Applaus, doch die Zustimmung zu Lafontaine ist deutlich größer. Viele Mitglieder sehnen sich nach einer charismatischen Führungsfigur.
In der Raucherecke steht eine junge Frau. Sie ist Basismitglied aus Magdeburg und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift »Bartschistin«. Das habe sie selbst anfertigen lassen, um das von den »Lafo«-Anhängern abwertend gemeinte Wort ins Positive zu wenden und so ihre Unterstützung für Bartsch zu demonstrieren, erklärt sie. »Ich hätte bestimmt schon 20 dieser Hemden verkaufen können«, fügt sie hinzu. Um Vorsitzender zu werden, wird Bartsch allerdings mehr als 20 der 550 Delegiertenstimmen benötigen.
Als die entscheidenden Wahlen näher rücken, sickert durch, dass Katharina Schwabedissen ihre Kandidatur auf Druck des linken Flügels zurückzieht. Damit ist das Konzept einer weiblichen Doppelspitze als drittem Weg zwischen Reformer- und Lafontaine-Flügel gescheitert. FDS-Mitglieder sind verärgert, dass Katja Kipping dennoch an ihrer Kandidatur festhält, und vermuten ein abgekartetes Spiel. Viele Reformer betrachten die bisherige Vize-Bundesvorsitzende nicht als ihre Repräsentantin. Sie fürchten, dass sich am Ende ein Duo aus Kipping und Bernd Riexinger durchsetzt, einem Getreuen Lafontaines aus Baden-Württemberg.

Schließlich wird es genau so kommen. Kipping gewinnt klar ihre Abstimmung gegen Dora Heyenn, eine ehemalige Sozialdemokratin aus Hamburg. Sie wird vom ostdeutschen FDS unterstützt, weil die Reformer hoffen, mit der für sie akzeptablen Heyenn auch ihren Kandidaten Bartsch durchzusetzen. Nachdem der weibliche Platz der Doppelspitze besetzt ist, redet Bartsch erstmals zum Parteitag. Es ist vielleicht die Rede seines Lebens. Jedenfalls zeigt die engagierte, lebendige Ansprache ein anderes Bild von ihm als das des grauen Parteifunktionärs, als der er oft dargestellt wird. Doch es nützt nichts. Mit den Stimmen der meisten West-Linken, die gemäß der Satzung in der Stimmverteilung im Verhältnis zur Mitgliederzahl überrepräsentiert sind, und der kleinen Hausmacht von Katja Kipping entscheidet Riexinger die Abstimmung knapp für sich. Danach kommt es zu für den Zustand der Partei symptomatischen Szenen. Ein Pulk hat sich um Riexinger gebildet und jubelt ihm lautstark zu. Spontan stimmen die Anhängerinnen und Anhänger Lafontaines die »Internationale« an. Später skandieren Genossen im Stile von Fußballfans in Richtung der Bartsch-Fraktion: »Ihr habt den Krieg verloren!«
Doch am Folgetag relativiert sich einiges wieder. Zwar sind auch drei der vier im Anschluss gewählten stellvertrendenden Parteivorsitzenden dem Flügel der Traditionalisten zuzurechnen, darunter Sahra Wagenknecht. Die anderen beiden, Axel Troost und Jan van Aken, gelten allerdings als moderat. Die vierte im Bunde, Caren Lay, gehört dem FDS an. Und noch zwei weitere wichtige Posten werden mit Reformern besetzt: Matthias Höhn wird Bundesgeschäftsführer und Raju Sharma setzt sich klar gegen Heinz Bierbaum, der zum Lafontaine-Flügel zählt, als Schatzmeister durch.
Ein Vertreter der Linksjugend gibt eine persönliche Erklärung ab. Er will Presseberichten entgegentreten, wonach es Mitglieder der Parteijugendorganisationen gewesen seien, die gerufen hätten »Ihr habt den Krieg verloren«: »So etwas würden wir niemals tun.« Eine andere Delegierte entschuldigt sich halbherzig für das Singen der »Internationale«. Doch schon einige Stunden später gibt es neue Auflösungserscheinungen. Die Bundesschiedskommission tritt geschlossen zurück. Die Versammlungsleitung ist überfordert und verteilt für weitere Wahlgänge fehlerhafte Stimmzettel. Am späten Nachmittag wird erklärt, der Parteitag sei zu Ende. Viele sind erleichtert. Nun stimmen alle, wie ursprünglich geplant, die »Internationale« an. In dem alten Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung heißt es: »Es rettet uns kein höh’res Wesen,/kein Gott, kein Kaiser noch Tribun/Uns aus dem Elend zu erlösen/können wir nur selber tun!« Es passt zur Absurdität der Veranstaltung, dass die autoritätsfixierten Anhänger Lafontaines das Lied am lautesten singen. Die dritte Strophe mit der Zeile »Wir sind die stärkste der Partei’n« wird vorsichtshalber nicht gesungen. Umfragen zufolge droht der »Linken« nach den Wahlniederlagen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein auch im Bund der Sturz unter die Fünf-Prozent-Marke.
Nach den Sangesübungen herrscht erneut Verwirrung: Obwohl sozialistische Parteitage traditionell mit der »Internationale« beendet werden, signalisiert das Tagungspräsidium, dass die Veranstaltung noch nicht vorbei ist. Die Ergebnisse der Wahlen für die letzten Plätze im erweiterten Vorstand sind noch nicht verkündet. Offenbar interessiert sich schon niemand mehr dafür. Theoretisch sind sogar noch Stichwahlen möglich. Am Ende ist der Vorstand dann doch komplett. Die letzten erschöpften Delegierten verlassen Göttingen. Wie es mit der Linkspartei weitergeht, ist ungewisser denn je.