Studentenproteste in Québec

Aufstand in der schönen Provinz

Seit Mitte Februar protestieren Studierende in der kanadischen Provinz Québec ­gegen die Erhöhung der Studiengebühren. Mittlerweile solidarisieren sich auch ­Studierende anderer Provinzen mit dem Protest.

Québec erlebt momentan die größten Proteste in der Geschichte der kanadischen Provinz und die bisher größten Studierendenproteste Nordamerikas. Auslöser der ersten Demonstrationen, die sich zunächst auf Montréal konzentrierten, war die von der Regierung geplante Erhöhung der Studiengebühren um umgerechnet etwa 250 Euro pro Jahr in den nächsten fünf Jahren. Bisher beliefen sich die Studiengebühren in Québec auf mindestens 1600 Euro pro Jahr, die niedrigsten in ganz Kanada.
Mitte Februar begannen Studierende der so­zialwissenschaftlichen Fakultät der Université Laval aus Protest gegen diese Erhöhung der Studiengebühren um etwa 80 Prozent, den Unterricht zu boykottieren. Kurz darauf schlossen sich Studierende weiterer Fakultäten der Université du Québec à Montréal an, am 22. März streikten in Québec bereits 166 068 Studierende. Es folgten Proteste auf den Straßen Montréals, später auch in kleineren Städten wie Val-d’Or und Gaspe.
Auch nach dem Anfang Mai ausgehandelten »Kompromiss«, der vorsieht, dass die Gebühren um ungefähr 200 Euro pro Jahr in den nächsten sieben Jahren erhöht und im Gegenzug Semesterbeiträge gesenkt werden sollen, wurden die Proteste stärker und entschlossener. Die Nationalversammlung Québecs erließ daraufhin nach vereinzelten Krawallen Mitte Mai das Gesetz 78. Dieses schreibt vor, dass Protestmärsche mindestens acht Stunden vor Beginn mit genauen Angaben zur Marschroute angemeldet werden müssen. Wer sich vermummt oder Kommilitoninnen und Kommilitonen den Zugang zur Universität versperrt, wird mit einer Geldstrafe belegt. Gegen das Gesetz haben Studierendenvertretungen und Gewerkschaften inzwischen Klage eingereicht, selbst Anwältinnen und Anwälte demonstrierten in ihren schwarzen Roben gegen diese Einschränkung der Meinungsfreiheit. Amnesty International kritisierte das Gesetz gar als »Schmähung der Grundrechte«.
Mittlerweile richtet sich der Protest nicht mehr nur gegen die Erhöhung der Studiengebühren, sondern auch gegen das Gesetz 78. Mit ihrer repressiven Strategie hat die Provinzregierung eine Dynamik entfacht, die sich nun gegen sie wendet. Am 22. Mai demonstrierten über eine viertel Million Menschen – unangemeldet – in Montréal. Dabei kam es zum wiederholten Mal zu Massenfestnahmen. Viele der fast 700 Festgenommenen erhielten Geldstrafen. In den vergangenen Wochen ging die Polizei zudem immer wieder äußerst brutal gegen Demonstrierende vor. Zwei Menschen verloren durch Tränengaseinsätze ihr Augenlicht.
Beliebte Accessoires der neuen Protestbewegung sind neben vereinzelten Molotow-Cocktails Kochtöpfe, Pfeifen und Nebelhörner. Das Topfschlagen, das zum allabendlichen Ritual geworden ist, erinnert viele an die Proteste gegen die Diktaturen in Chile und Argentinien. Andere fühlen sich an die Unruhen der »Stillen Revolution« der sechziger Jahre in Kanada erinnert, die zu tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft geführt hat und an der vor allem Studierende, Künstler und Intellektuelle beteiligt waren. Erfolg hatten auch die 2005 in Québec protestierenden Studierenden, die so geplante Kürzungen von Stipendien und Studienkrediten verhinderten.

Die Regierung steht nun unter Druck. Am 24. Mai wechselte Québecs Ministerpräsident Jean Charest seinen Stellvertreter aus. Der neu eingesetzte Daniel Gagnier hat die Aufgabe, mit allen Beteiligten zu verhandeln und den Konflikt zu lösen, der die »schöne Provinz«, wie Québec häufig genannt wird, seit über 100 Tagen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die anstehende Tourismus-Saison droht zu einem Desaster zu werden. Yves-Thomas Dorval, Präsident des Unternehmerverbands von Québec, sagte, dass die nächtlichen Proteste und das Topfschlagen vor allem im Zentrum Montréals Auswirkungen hätten, wo Gewerbetreibende und Restaurants bereits über ausbleibende Kundschaft klagten. Er behaupte nicht, es herrsche Chaos, doch ließen sich deutlich spürbare Auswirkungen nicht leugnen. Mehrtägige Verhandlungen zwischen der Regierung und Vertreterinnen und Vertretern der Studierenden haben jedoch zu keiner Einigung geführt.

Auch im 5 000 Kilometer entfernten Vancouver regt sich mit einiger Verspätung solidarischer Protest. Am 100. Tag des Streiks demonstrierten einige hundert Menschen beim üblichen Regen im Zentrum der Hauptstadt der Provinz British Columbia (BC). Auch wenn die Studiengebühren dort sogar weitaus höher sind als in Québec, scheint der Protest auf dem weiten Weg von der Ost- an die Westküste ein wenig an Kraft verloren zu haben. Spencer Keys, ehemaliger Präsident der Studierendenvereinigung der University of British Columbia, vertrat in einem Artikel die Auffassung, niemand außerhalb von Québec habe momentan die Möglichkeit, solch ausdauernde Proteste zu organisieren.
Zachary Crispin, Sprecher der Kanadischen Föderation der Studierenden von British Columbia und Mitorganisator der Demonstration, sagte hingegen, die Ereignisse in Québec hätten auch für seine Politik eine besondere Bedeutung: »Wenn ich mit der Ministerpräsidentin von BC spreche, fordere ich von ihr und ihrer Regierung, dass wir uns dem Bildungssystem von Québec annähern. Wenn dieses System nun ausgehöhlt wird, wird genau das schwierig.« Für ihn sei nicht nur das Bildungssystem, sondern auch die Studierendenbewegung in Québec vorbildlich und inspirierend. Der Streik sei dort gut organisiert, man solle also den Studierenden in anderen Regionen Kanadas vermitteln, dass dies ein erfolgversprechendes Modell sei. Er lehne die Sichtweise ab, die Studierenden in Quebec seien einfach »anders«. Auch die Organisationen seien nicht grundlegend verschieden. In Québec sei es im Gegensatz zu BC für Studentinnen und Studenten aber legal, zu streiken. Crispin betonte außerdem, dass es wegen der bisher relativ niedrigen Studiengebühren in Québec für die Studierenden ein weitaus geringeres Risiko darstelle, ein Semester durch Streik zu verlieren. In BC be­deute das, Tausende von Dollar zu riskieren.

Die Forderungen der Kanadischen Föderation der Studierenden von BC sind denen der Protestbewegung in Québec allerdings ähnlich: die Studiengebühren sollen reduziert werden, Geldmittel für Hochschulbildung wieder auf das Niveau von vor zehn Jahren aufgestockt werden und Studierende ausreichend finanzielle Unterstützung erhalten. Ein grundlegendes Problem der meisten Studentinnen und Studenten in Kanada ist, dass sie während des Studiums einen Haufen Schulden machen müssen, um Studiendarlehen, Bankkredite sowie laufende Kosten bezahlen zu können. Aber auch in BC gab es kleine Erfolge: Nachdem die Provinzregierung 2002 angekündigt hatte, den Universitäten zu gestatten, Studiengebürhen in beliebiger Höhe zu verlangen, reagierten die Studierenden mit Demonstrationen und Aktionstagen. Der Druck auf die Regierung sorgte dafür, dass die Gebühren jetzt immerhin nicht um mehr als zwei Prozent pro Jahr steigen dürfen.
Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen der Studierendenbewegungen gehe es darum, gemeinsame Kämpfe zu führen, betonte Crispin. Gregory Williams, einer der Organisatoren der Demonstration in Vancouver, forderte in seiner Rede die kompromisslose Ablehnung des Gesetzes 78: »Bei diesen Maßnahmen würde doch sogar jeder gläubige Demokrat auf der Straße kämpfen.« Wie die meisten Rednerinnen und Redner versuchte er, den Protest mit Arbeits- und Naturschutzkämpfen zu verbinden, wie auch mit dem Thema indigener Souveränität in Kanada.