Über den Iran, Deutschland und Günther Grass

Mittelweg in den Abgrund

Anhand einer kurzen Geschichte des Iran-Konflikts erklärt ­Matthias Küntzel, warum Günter Grass’ Gedicht gegen Israel keine Zäsur war, sondern adäquater Ausdruck des deutschen Massenbewusstseins ist.

Man hatte sich schon daran gewöhnt – an die immer gleichen Drohungen des iranischen Regimes gegen Israel, an die Dauermeldungen über das iranische Atomprogramm, an das routinierte Gespräch über Sanktionen. Doch plötzlich spricht die Welt – und seit dem Skandal um Günter Grass auch Deutschland – von Krieg.
Der US-amerikanische Verteidigungsminister Leon E. Panetta erklärt, dass noch im Sommer dieses Jahres mit einem israelischen Angriff auf iranische Atomstandorte zu rechnen sei. Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Geheimdienstkomitees des amerikanischen Senats, stimmt zu: »Ich glaube, dass 2012 das entscheidende Jahr für die Hinnahme oder die Abwehr einer iranischen Atombombe sein wird.« Ronen Bergman schließlich, ein israelischer Geheimdienstexperte, fasst das Ergebnis seiner Recherchen in der New York Times so zusammen: »Ich kam zu dem Schluss, dass Israel Iran tatsächlich 2012 angreifen wird.«
Am 8. November 2011 veröffentlichte die Internationale Atomenergie-Agentur (IAA) einen Bericht, der belegt, dass im Iran Atomwaffenforschungen betrieben werden. Seither beeilt sich das iranische Regime, die Schlüsselanlagen für die Herstellung einer Bombe in unzugängliche Bergstollen zu verlegen. Damit schwindet Israels Möglichkeit, sich der Bedrohung zu erwehren. Für einen Militärschlag sei nicht mehr sehr viel Zeit, erklärte daher der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak: »Später kann bereits zu spät sein.«
2012 könnte sich also als das Jahr erweisen, in dem sich entscheidet, ob das einzige offen antisemitische Regime der Welt die Möglichkeit erhält, sich zur Atommacht aufzuschwingen und den versteckten Krieg, den es seit 30 Jahren mit dem Ziel der Auslöschung Israels führt, zu einem offenen zu machen, oder ob Israel und seine westlichen Bündnispartner dies noch zu verhindern wissen. Drei Möglichkeiten stehen zur Wahl.
Im ersten Fall greift Israel iranische Atomzentren an. Die Risiken einer solchen Aktion sind atemberaubend, wie schon ein Blick auf die Landkarte zeigt. Militärisch müsste Israel die Leistungsfähigkeit seiner Streitkräfte bis zum Äußersten beanspruchen, während der Iran mit weitreichenden Raketen und mit Angriffen aus Libanon und Gaza zurückschlagen könnte. Politisch müsste Israel eine beispiellose Isolierung in Kauf nehmen, während sich ausgerechnet der Iran zum Opfer stilisieren und einen neuen Schulterschluss zwischen Bervölkerung und Regime herbeiführen könnte.
Im zweiten Fall wird der Iran über die Bombe verfügen: entweder fertigmontiert oder vormontiert im Regal, so dass er gleichsam mittels einer Schraubenzieherumdrehung zur Atommacht werden kann. Die Risiken wären beispiellos – nicht wegen der Technik der Bombe, sondern aufgrund der Weltsicht und Ambition derer, die über sie verfügten.
So wohnt der khomeinistischen Ideologie eine expansive Dynamik inne  – ein wichtiger Grund, warum die arabischen Staaten, die sich mit Atomwaffen in Israel oder Pakistan abfinden konnten, die iranische Bombe derart fürchten, dass sie glauben, sich eigene Atomarsenale verschaffen zu müssen.
Darüber hinaus bestände die Aussicht auf ein nukleares Wettrüsten in der instabilsten Region der Welt. Mehr noch, der Iran wäre in der Lage, sein Angebot, Nuklearmaterial an Gruppen wie die Hizbollah weiterzugeben, wahrzumachen: Die Gefahr des nuklearen Terrorismus würde sich immens vergrößern.
Schließlich erhöhte sich die Gefahr des Atomkriegs aus einem weiteren Grund: Hätte das Regime die Bombe, würde man sie ihm schwerlich entwinden können, ohne dass es zu Atomwaffeneinsätzen käme. Die Welt stünde vor der Entscheidung, die Khomeinisten gewähren zu lassen oder über sie zu siegen – dann aber zu einem unvorstellbar hohen Preis.
Die Skrupel, die viele israelische Politiker und Militärangehörige bei dem Gedanken an einen Angriff auf iranische Atomanlagen quälen, sind somit ebenso begründet wie die Gewissheit, dass dem Iran die Bombe verwehrt werden muss. Bleibt noch der dritte Weg – die Verhinderung der atomaren Bewaffnung des Iran durch ökonomischen und politischen Druck.

Gefährliche Kompromisse

Schon im August 2007 warnte Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vor der »katastrophalen Alternative«, auf die der Iran-Konflikt heute zuzusteuern scheint: entweder die iranische Bombe oder die Bombardierung des Iran. Deshalb müsse man dem Regime mit »verschärften europäischen Sanktionen« einen Kurswechsel ohne Waffengewalt aufnötigen. Vor fünf Jahren, als das Atomwaffenprogramm noch in seinen Anfängen stand, hatte dieses Konzept gute Chancen. Heute müssten die Folgen der Sanktionen weitaus einschneidender sein. Die Machthaber in Teheran müssten rasch vor die Entscheidung gestellt werden, entweder das Atomwaffenprogramm oder ihre Herrschaft zu verlieren. Hiervon aber kann, auch wenn der Sanktionsdruck seit Beginn 2012 zugenommen hat, keine Rede sein. Zwar finden sich in der jüngsten, im März von den EU-Außenministern verabschiedeten EU-Sanktionsverordnung Nr. 267/2012 einige Artikel, die Handelsverbote formulieren. Weitaus größer aber ist die Anzahl der Ausnahmebestimmungen. So erlaubt Artikel 6 selbst noch den Handel mit nuklearen Komponenten, solange diese für das iranische Atomkraftwerk in Buschehr bestimmt sind.
Von gefährlichen Kompromissen ist auch der Umgang mit der iranischen Zentralbank geprägt. Während die USA, Großbritannien und Kanada diese Bank wegen ihrer Rolle im Atomwaffenprogramm einschränkungslos boykottieren, geht die EU einen anderen Weg: »Die Einfrierung der Konten der iranischen Zentralbank in Europa wurde mit der Ausnahme versehen, dass (…) die Finanzierung von erlaubtem Handel weiterhin gestattet (bleibt)«, meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang dieses Jahres. Von dieser Ausnahme machen Firmen aus Deutschland eifrig Gebrauch. So erfreute der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau seine Mitglieder in einer Stellungnahme vom 23. Januar mit der Nachricht, dass »auch weiterhin Zahlungen für legale Iran-Lieferungen über die iranische Zentralbank abgewickelt werden (können)«. Andere deutsche Firmen haben wiederum keine Mühe, die Sanktionen zu umgehen, wie Ende März die Financial Times Deutschland berichtete. Das Bundeswirtschaftsministerium lege »seit Monaten schützend die Hände über die iranischen Exportgeschäfte der Unternehmer«, beschwerte sich selbst das Handelsblatt, das am 17. Januar unter der Überschrift »Die Iran-Connection« schrieb: »Der prekärste Teil der deutschen Iran-Exporte, die Ausfuhr von Gütern mit potentiellem militärischen Verwendungszweck, hat in den vergangenen Monaten (…) sogar zugelegt.«
Diese Beispiele aus jüngerer Zeit – aus einer Zeit mithin, in der ein Militärschlag bereits deutlich wahrscheinlicher zu werden begann – zeugen von einer Prioritätensetzung, die man als unglaublich skrupellos oder als beispiellos dumm bezeichnen muss. Einige der europäischen Akteure scheinen mit derart halbherzigen Sanktionen weniger den Iran als vielmehr Israel aufhalten zu wollen: »Alles Bemühen um Sanktionen geschieht in der klaren Absicht, einen Militärschlag zu vermeiden«, sagte zum Beispiel Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, in einem Gespräch mit rp online. Die Maxime »Israel bremsen, nicht Iran« dominiert gegenwärtig auch die Verhandlungsstrategie der fünf Vetomächte des Sicherheitsrats und Deutschlands (»5+1«) mit dem Iran. »Wenn die Verhandlungen scheitern, ist ein israelischer Militärschlag so gut wie sicher. Das müssen wir um jeden Preis verhindern«, warnte Jean Asselborn, der luxemburgische Außenminister, am 12. März im Spiegel. »Um jeden Preis« heißt für ihn ausdrücklich: »Selbst wenn wir inhaltlich nicht vorankommen, müssen wir die Verhandlungen am Laufen halten.« Da kann man den Spott Mahmoud Ahmadinejads durchaus verstehen. Wer sich den iranischen Plänen in den Weg stelle, verkündete er wenige Tage vor Beginn der neuen Verhandlungen, werde »seines Platzes verwiesen und bekommt eine solche Ohrfeige, dass er seinen Heimweg nicht mehr findet.« Es müsste also schon ein Wunder geschehen, sollte es tatsächlich noch gelingen, die Gefahr einer militärischen Eskalation zu reduzieren und den Iran durch nicht-militärischen Zwang zur Räson zu bringen.

»Wir lieben die Deutschen«

Natürlich waren und sind zahlreiche internationale Akteure und Institutionen an der Schwächung der Sanktionen beteiligt: Die russische und chinesische Regierung sind hier an erster Stelle zu nennen, aber auch die Unterstützung, die der Iran zeitweilig durch die Türkei erhielt. Auch im Westen trugen etwa Italien, Spanien oder Schweden häufig zur Schwächung der Sanktionen bei. Gleichwohl ist die Bundesrepublik besonders exponiert. So hatten Anfang 2006 nicht nur die fünf Veto- und Atommächte des Sicherheitsrats, sondern zusätzlich auch Deutschland die Federführung für die internationale Iran-Diplomatie übernommen. Von allen Teilnehmern dieser Gruppe hat Deutschland die intensivsten kulturellen, politischen und ökonomischen Verbindungen zum Iran. Es ist das Land, das die EU-Ausfuhren in den Iran mit einem Anteil von 30 Prozent nicht nur quantitativ bestimmt, sondern auch qualitativ, da es anspruchsvollste Hightech-Produkte liefert. Es ist das Land, das zugleich auf eine 80 Jahre währende Geschichte der Technologiekooperation mit dem Iran zurückblicken kann. Diese Sonderstellung hat der Bundesregierung von Anfang an die Möglichkeit einer starken Einflussnahme auf das Land gegeben, die allerdings nie zur Verminderung der vom Iran ausgehenden atomaren Drohung genutzt worden ist. Im Gegenteil.
»Deutschland ist das Lieblingsland des Iran in der EU«, schwelgte der iranische Botschafter in Berlin, Ali Reza Attar. Ahmadinejad bestätigte diese Zuneigung im März in einem Interview mit dem ZDF: »Wir lieben das deutsche Volk. Und wir lieben auch die Bundesregierung. (…) Iran und Deutschland (haben) eine Sonderbeziehung. (…) Und wir haben auch, wie Sie wissen, in der Geschichte eine sehr gute Beziehung miteinander gepflegt.«
Doch da ist auf der anderen Seite die vielbeschworene besondere Beziehung Deutschlands zu Israel. »Deutschland und Israel«, führte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in ihrer Rede vor der Knesset aus, seien »für immer auf besondere Weise durch die Erinnerung an die Shoa verbunden«. Und sie fuhr fort: »Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.« Die spezifische Verbundenheit mit Israel hielt die deutsche Diplomatie jedoch nicht davon ab, das deutsch-iranische Sonderverhältnis weiter zu pflegen.
So sprach sich Bernd Erbel, der deutsche Botschafter in Teheran, noch im Oktober 2011, als der Terror des iranischen Regimes gegen die Opposition eskalierte und so viele Hinrichtungen stattfanden wie nie zuvor, für die Verstetigung der deutsch-iranischen Freundschaft aus. »Es gibt nicht viele Völker, die wie Deutsche und Iraner über Jahrhunderte hinweg einen lebhaften Austausch gepflegt und daraus Freundschaft, Vertrauen und enge Beziehungen entwickelt haben«, erklärte er anlässlich seiner Ansprache zum Tag der Deutschen Einheit in Teheran. »Dies stellt einen historischen Schatz dar, den es zu bewahren gilt.«
Über viele Jahre hinweg verfolgte Deutschland diesen janusköpfigen Kurs. Man verstand es, Israel mit nuklear bestückbaren U-Booten zu Hilfe zu kommen, ohne die Beziehung zum Iran zu beschädigen. Gleichzeitig hielt man auch unter der Präsidentschaft Ahmadinejads an dem besonderen Verhältnis zum Iran fest, ohne der Partnerschaft mit Israel nachhaltig zu schaden. Diese Mittelposition mag das jahrelange deutsche Lavieren in der Nuklearfrage erklären: hier das Versprechen, die iranische Atombombe nicht zu akzeptieren, dort der Vorsatz, auf harte Maßnahmen gegen das Regime zu verzichten; hier der Versuch, die Handelsbeziehungen mit dem Iran möglichst intakt zu halten, dort das Einverständnis, unvermeidbare Sanktionen zu befolgen.
Auf diese Weise nahm Deutschland die iranische Atombombe in Kauf. Das Zaubermittel, mit dessen Hilfe die Bundesregierung einen Kriegseinsatz gegen den Iran gleichwohl zu vermeiden suchte, hieß »Containment«. Man hoffte, Barack Obama und die USA dazu veranlassen zu können, für den Fall eines iranischen Atomwaffeneinsatzes mit dem nuklearen Zweitschlag zu drohen. Man wollte, mit anderen Worten, die Logik der Abschreckung, die während des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion funktioniert hatte, auf den Iran und Israel übertragen. Man hoffte, so das israelische Sicherheitsinteresse mit der iranischen Atompolitik aussöhnen und die Sonderbeziehungen mit Israel und dem Iran aufrechterhalten zu können. Diese Rechnung ging nicht auf. Anfang März erklärte Barack Obama, gegenüber dem Iran keine Eindämmungspolitik betreiben, sondern die iranische Atombombe tatsächlich verhindern zu wollen.
Der deutsche Versuch, sich irgendwie durch die Krise zu lavieren und einen außenpolitischen Strategiewechsel entweder im Verhältnis zum Iran oder aber zu Israel zu vermeiden, war gescheitert. »Schwere Entscheidungen kommen auf uns zu«, raunte im März die Frankfurter Allgemeine Zeitung. »Bald könnte auch die Bundeskanzlerin an ihren erstaunlich wenig beachteten, in seiner Tragweite aber schwer zu übertreffenden Satz erinnert werden, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson.« Über die Frage, was diese Aussage eigentlich bedeutet, schwiegen sich die Medien jedoch aus.
Dass die deutsche Iran-Politik früher oder später scheitern würde, war absehbar. Von Anbeginn hatte Deutschland die Gefahr der iranischen Atombombe kleingeredet. »Die Tatsache, dass die deutsche Regierung trotz gegenteiliger Geheimdienstberichte dazu tendiert, die Atomfrage öffentlich herunterzuspielen, ist ziemlich rätselhaft«, beklagte bereits 1997 Peter Rudolf von der Stiftung Wissenschaft und Politik. (1) 15 Jahre später verschärft sich der Tonfall der Kritik: »Die bisherige deutsche Politik ist mit ihrer Weisheit am Ende«, beklagt beispielsweise der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, im Hausblatt der Gesellschaft für Auswärtige Politik: »Die deutsche Politik, einschließlich die der Bundesregierung, hat die Natur der Bedrohung des iranischen Nuklearprogramms weitgehend nicht begriffen.« (2)
Dies gilt aber noch viel mehr für jene Zeitgenossen und Parteien, die sich eher der Linken zurechnen. Wie ist es beispielsweise möglich, dass die Öko-Metropole Freiburg mit dem Atomwaffenzentrum Isfahan als Städtepartner kooperiert, mit einer Stadt, die einen Freund von Ahmadinejad als Bürgermeister hat? Wie ist es zu erklären, dass gerade die Linkspartei das iranische Atomprogramm verteidigt und Sanktionen bekämpft? Diese Fragen gewinnen angesichts der gegenwärtigen Eskalation an Gewicht. Immerhin sind die Repräsentanten der Achtundsechziger-Bewegung und deren Adepten in vielen Bereichen der Gesellschaft heute tonangebend.

Ein Fehler der Übersetzung

Als Präsident Ahmadinejad im Oktober 2005 dazu aufrief, Israel von der Landkarte zu tilgen, machte sich dieser Teil der Gesellschaft rar: keine Demonstrationen, keine Solidaritätsbekundungen, keine Beschäftigung mit der Ahmadinejads Politik zugrunde liegenden Ideologie. Stattdessen machte eine kleine obskure Gruppe namens »Arbeiterfotografie« mit einer sensationellen Entdeckung von sich reden: Von einer Tilgung Israels habe Ahmadinejad überhaupt nicht gesprochen, hier liege ein »Übersetzungsfehler« vor. Auf eine derart wohlfeile Ausrede hatte man, um sich mit Ahmadinejads Vernichtungsdrohung nicht weiter befassen zu müssen, offenkundig nur gewartet: das Gerücht vom Übersetzungsfehler verbreitete sich rasant. Unerheblich, dass es sich bald als eine Finte erwies, unwichtig, dass Ahmadinejad seine Zerstörungsabsicht dutzendfach wiederholte – das Gerücht wurde an prominenter Stelle von der Süddeutschen Zeitung aufgegriffen, deren Autorin Katajun Amirpur es unter der Schlagzeile »Ein Übersetzungsfehler macht gefährliche Weltpolitik« salonfähig machte.
Von nun an gab es kein Halten mehr: ZDF-Intendant Markus Schächter versicherte den Initiatoren der Gruppe »Arbeiterfotografie«, »dass alle Kolleginnen und Kollegen über diesen Vorgang (der Falschübersetzung, M. K.) Kenntnis erhalten haben.« Die »Tagesschau« bekannte »in eigener Sache: Der iranische Präsident hat nicht wörtlich die ›Tilgung Israels von der Landkarte‹ gefordert«. Der Chefredakteur der Deutschen Presseagentur versicherte: »Die DPA wird in Zukunft bei der Berichterstattung darauf achten, dass der iranische Präsident, Mahmud Ahmadinedschad, nicht die Auslöschung Israels oder dessen Tilgung von der Landkarte gefordert hatte.« Da half es auch nicht, dass der Sprachendienst des Deutschen Bundestages bestätigte, dass es die iranische Nachrichtenagentur IRIB News gewesen ist, die Ahmadinejads Worte mit »wipe Israel from the map« korrekt übersetzt hatte. Das Gerücht vom »Übersetzungsfehler« ist bis heute ein Mittel geblieben, das auch sich für aufgeklärt haltende Menschen von der Zumutung befreit, die Parole von der Auslöschung Israels ernst oder doch wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Das Schweigen der Linken, ihr historisches Versagen, auf die iranische Drohung angemessen zu reagieren, trug dazu bei, dass in Deutschland die Diskussion über die Bedeutung des iranischen Atomprogramms randständig blieb und das Gespräch über Zweck und Notwendigkeit harter Sanktionen nie wirklich begann.
Dass sich die Israelis jenen Luxus der Ignoranz nicht leisten können, liegt auf der Hand. Jahrelang mussten sie erleben, dass man sie und ihren Staat im NS-Jargon mit einem »Krebsgeschwür« verglich. Jahrelang nahmen sie den verbalen Krieg und die fieberhaften Vorbereitungen auf einen tatsächlichen Krieg hin. Jahrelang schauten sie zu, wie sich die internationale Debatte über Sanktionen, die im Dezember 2006 mit einem Beschluss des UN-Sicherheitsrats begonnen hatte, von Kompromiss zu Kompromiss schleppte, ohne auch nur das geringste Zugeständnis seitens des Iran zu erzielen. Falls sich Israel nun genötigt sehen sollte, das von der »Weltgemeinschaft« abgelehnte Atomwaffenprogramm im Alleingang und zumindest partiell zu zerstören, wäre dies nicht deshalb eine Tragödie, weil Israel zur Selbstverteidigung griffe, sondern weil Israel sich genötigt sähe, diesen Schritt im Alleingang zu vollziehen.
Die Tatsache, dass die »Weltgemeinschaft« 70 Jahre nach der Shoa erneut versagt, dass sie sich immer noch weigert, die Vernichtungsambition des Antisemitismus ernst zu nehmen und ihn zu bekämpfen – das ist die Katastrophe unserer Zeit. Das Mindeste aber, was Israel angesichts dieses offenkundigen Scheiterns erwarten kann, ist Verständnis und Solidarität.
Ein Verständnis für diese Lage Israels findet sich beim amerikanischen Präsidenten Barack Obama, obwohl auch er mannigfache Differenzen mit seinem israelischen Kollegen Benjamin Netanyahu hat: »Ich glaube, dass Premierminister Netanyahu und Verteidigungsminister Ehud Barak eine grundlegende historische Verpflichtung verspüren, Israel nicht in eine Position zu manövrieren, in der es sich nicht länger eigenständig und wirkungsvoll schützen kann.« Mit diesen Worten beweist Obama, dass er die Ratio der israelischen Iran-Politik begreift. »Ich verstehe diese Sorge«, fährt er fort, »und es ist als Konsequenz nicht überraschend, dass die Berichterstattung zumindest in diesem Land, wo eine riesengroße Mehrheit der Bevölkerung ein grundlegendes Verständnis für die Nöte und Verwundbarkeiten Israels verspürt, dessen potentielle Gefährdung betont.« Auf die Frage, wie wohl die amerikanische Öffentlichkeit auf einen israelischen Militärschlag reagieren würde, fügte er hinzu: »Wir in den Vereinigten Staaten sympathisieren instinktiv mit Israel und ich glaube, dass die Unterstützung stark und parteienübergreifend ist.« (3)

Israels »Freunde« und ihr Dichter

Welch profunder Unterschied zur Stimmungslage in Deutschland. Der Kontrast beginnt schon bei der besserwisserischen Haltung der Bundesregierung, Israel bei jeder sich bietenden Gelegenheit dazu aufzufordern, die Waffen zu strecken. »Teile der israelischen Regierung«, doziert der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière in einem Interview mit Bild vom 27. März, »unterschätzen die negativen Folgen eines Militärschlages. Ich habe Ehud Barak gesagt, die Folgen sind unkalkulierbar. Deswegen haben wir als Freunde Israels von diesem Schritt dringend abgeraten.« Er setzt sich fort mit dem Aufruf »Sanktionen und Kriegsdrohungen sofort beenden. Eine Erklärung aus der Friedensbewegung und Friedensforschung«, dessen Unterzeichnerliste einem Who is Who der Achundsechziger-Generation gleicht, darunter Eckart Spoo, Arno Klönne, Frank Deppe, Oskar Negt, Elmar Altvater, Andreas Buro, Wolf-Dieter Narr, Ekkehart Krippendorf, Claudia von Braunmühl sowie 1 758 weitere Unterzeichner. Der Text ihres Aufrufes verallgemeinert das Prinzip vom »Übersetzungsfehler«, indem er jegliche Schuld an der Zuspitzung des Iran-Konflikts Israel und dem Westen zuschreibt.
Einen Höhepunkt der hasserfüllten Aufwallungen gegen Israel markiert das Gedicht »Was gesagt werden muss« von Günter Grass. Hier wird die Welt vollends auf den Kopf gestellt: Grass beschränkt seine Kritik am Iran auf den Vorwurf des »Maulheldentums«, während er Israel zum »Verursacher der erkennbaren Gefahr« macht und dem Land unterstellt, mit »allesvernichtende(n) Sprengköpfe(n)« das »von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen« zu wollen. Grass schreibt bekanntlich: »Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muss, was morgen schon zu spät sein könnte.« Es war offenkundig sein Unterbewusstsein, das dem Literaturnobelpreisträger hier die Feder führte. Wenn Israel, wie Grass unterstellt, 80 Millionen Iraner zu vernichten beabsichtigt, nimmt sich die Tötung von sechs Millionen Juden beinahe harmlos aus. So hat man mit einem Federstrich die eigene Geschichte vor der Tür der Opfer entsorgt. Gleichzeitig nimmt Grass ein Regime in Schutz, das jenen Hass auf die Juden mobilisiert, den Grass aus seiner Zeit als Mitglied der Waffen-SS bestens kennt: Nicht vor der iranischen Diktatur müsse die Welt sich fürchten, betont sein Gedicht, sondern vor der israelischen Demokratie.
Zu Recht wurde dieser Beitrag in den deutschen Feuilletons kritisiert. Gleichzeitig griff ihn die deutsche Friedensbewegung anlässlich der diesjährigen Ostermärsche als eine Art Leitartikel ihres Anliegens auf. Zahllose Kommentatoren verurteilten zwar einzelne Aspekte von Grass’ Gedicht, um jedoch dessen Warnung vor einem israelischen Präventivschlag umso vehementer zu bekräftigen. Besonders ominös tat dies Jakob Augstein, der die Wochenzeitung Freitag verlegt und als Sohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein zu den wichtigsten Gesellschaftern des Spiegel-Verlags gehört.
Grass’ Text sei »eine Zäsur«, schwärmte er in einem Beitrag für Spiegel Online. »Es ist dieser Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ›Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‹ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. (…) Es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat. Sie sagte damals, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen ›Staatsräson‹.« (4)
Jakob Augstein hat Unrecht, wenn er Grass dafür rühmt, »es auf sich genommen« zu haben, den Satz »Israel gefährdet den Weltfrieden« für »uns alle« ausgesprochen zu haben. 65 Prozent aller Deutschen sprachen diesen Satz bereits 2003 im Rahmen einer EU-Umfrage aus. Sie waren sich darin einig, dass Israel »die größte Bedrohung für den Frieden in der Welt sei«. (5) Noch im Oktober 2011 hatte sogar die Bundeskanzlerin diesen Tatbestand skandalisiert: »Fast 60 Prozent aller Europäer (meinten) laut einer vor einigen Jahren durchgeführten Studie, dass die größte Bedrohung für die Welt von Israel ausgehe.« (6)
Seit langem wird Israel nicht aufgrund der nachprüfbaren Faktenlage, sondern nach dem unsichtbaren Drehbuch der »Protokolle der Weisen von Zion« zum globalen Übel stilisiert. Schon lange existiert mithin in Deutschland ein äußerst boshaftes, antisemitisch aufgeladenes Massenbewusstsein, dem Günter Grass lediglich besonders prägnant Ausdruck verliehen hat.
Statt zu schweigen und darüber nachzudenken, warum sich die gewählte israelische Regierung nunmehr genötigt sieht, über einen Militärschlag gegen iranische Atomanlagen nachzudenken, schlagen jene, die sich in den vergangenen sieben Jahren über Ahmadinejad nicht hatten äußern wollen, jetzt also Alarm – jedoch nicht, um die Bundesregierung zu einem Abbruch ihrer Sonderbeziehung mit dem Iran zu drängen, um den Sanktionsdruck zu verstärken oder um die iranische Bombe zu verhindern. Sondern um ausgerechnet diejenigen, auf die sich sämtliche iranische Auslöschungsphantasien konzentrieren, an den Pranger zu stellen. Nötig wäre das Gegenteil: den Mittelkurs zwischen Iran und Israel abzubrechen und »der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels« in dessen Aus­einandersetzung mit Iran endlich gerecht zu werden.

Anmerkungen
(1) Peter Rudolf: Managing Strategic Divergence. In: American Institute for Contemporary German Studies (Hg.): The Iranian Dilemma. Conference Report, Washington, D.C., 21. April 1997, S. 6
(2) Joachim Krause: Spiel mit dem Feuer. In: »Internationale Politik« 1/2012, S. 98 f.
(3) Zitiert nach Jeffrey Goldberg: Obama to Iran and Israel (http://www.theatlantic.com/international/archive/2012/03/obama-to-iran-…)
(4) Jakob Augstein: Es musste gesagt werden. »Spiegel Online«, 6. April 2012
(5) Thomas Fuller: EU leader attacks poll calling Israel a threat. In: »International Herald Tribune« vom 4. November 2003
(6) Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Rede der Bundeskanzlerin zur Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz im Rahmen der Jubiläumswoche zum zehnjährigen Bestehen des Jüdischen Museums Berlin am 24. Oktober 2011 in Berlin

Der Essay ist die gekürzte, redaktionell bearbeitete Fassung eines Textes, der in Matthias Küntzels gerade im LIT-Verlag veröffentlichtem Buch »Deutschland, Iran und die Bombe« erschienen ist.