Der Computerpionier Alan Turing

Kein Code war ihm zu schwer

Zum 100. Geburtstag des Computerpioniers Alan Turing, der die Enigma-Verschlüsselung der Nazis knackte.

100 Jahre alt wäre der Vater der Informatik, Alan Turing, am 23. Juni geworden – und wenn er diesen Geburtstag noch erlebt hätte, hätte sich der britische Premierminister bei der großen Feier bei ihm persönlich entschuldigen können.
Der Mann, der den Großteil der theoretischen Grundlagen für das heutige Computerzeitalter entwickelte, das Forschungsgebiet der Künstlichen Intelligenz prägte und im Zweiten Weltkrieg die Enigma-Verschlüsselung der Nazis knackte, starb jedoch, ohne jemals offiziell ein Wort des Bedauerns gehört zu haben – als Homosexueller wurde er nämlich im England der Nachkriegszeitregelrecht verfolgt.
Wie viele Hochbegabte hatte Alan Turing als Kind Probleme in der Schule. Vater Julius war beim Indian Civil Service und gehörte damit der vom Britischen Parlament eingesetzten Regierung Indiens an. Auch Turings Mutter Ethel Sara lebte in Indien – ihr Vater war der Chefingenieur der Madras Railway. Da sie ihre Kinder aber in England aufwachsen lassen wollten, kehrten sie vor Alan Turings Geburt nach London zurück. Weil sein Vater immer wieder nach Indien musste – seine Dienstzeit war nicht beendet –, lebten Alan und sein älterer Bruder John zwischendurch häufig bei einer Pflegefamilie. Obwohl seine hohe Intelligenz schon früh erkannt worden war, waren seine schulischen Leistungen nicht gut, da die Lehrer des Internats Sherborne School eher auf Geisteswissenschaften Wert legten und Naturwissenschaften als zweitrangig betrachteten. Turing fiel einige Male durch Prüfungen und hatte keinen besonders guten Notendurchschnitt beim Abitur, und das, obwohl er bereits als 16jähriger die Arbeiten Albert Einsteins gelesen und verstanden hatte.
Nach der Schulzeit studierte Turing Mathematik und veröffentlichte 1936 eine Arbeit, die Kurt Gödels Entscheidungsproblem neu formulierte. Das Entscheidungsproblem beschreibt »das Problem, die Allgemeingültigkeit von Ausdrücken festzustellen«. Entscheidend dabei ist, ob es einen Algorithmus gibt, der in endlich vielen Schritten klärt, ob ein Ausdruck gültig ist oder nicht. Die endlich vielen Schritte sind deshalb wichtig, weil es sonst zu einem Haltproblem kommt: Gibt die Maschine beispielsweise sofort aus, wenn ein Ausdruck ungültig ist, rechnet aber ansonsten unendlich immer weiter, kann die Tatsache, dass bisher noch kein »Ist nicht gültig« ausgegeben worden ist, nicht als Beweis gelten, dass der Ausdruck gültig ist. Denn das »Nicht gültig« könnte in jedem anzunehmenden Augenblick im nächsten Moment ausgegeben werden. Zur Lösung dieses Problems erfand Turing eine einfache theoretische Maschine, die Gödels universelle und arithmetisch basierte formale Sprache ersetzte – diese Maschine ist als Turing-Maschine bekannt und stellt bis heute den Schwerpunkt der Theoretischen Informatik dar. Noch immer gilt für moderne Rechner, dass nur die mathematischen Probleme, die mit einem Algorithmus auf einer Turing-Maschine gelöst werden können, auf Computern lösbar sind. 1938 erhielt er die Doktorwürde der Princeton University in den USA.
Im Zweiten Weltkrieg arbeitete er als einer der führenden Wissenschaftler in der Government Code and Cypher School in Bletchley Park, jener Einrichtung, die sich mit der Entschlüsselung von codierten Nachrichten befasste. Turing steuerte nicht nur einige mathematische Modelle als Grundlage für die Entschlüsselung der Enigma- und Fish-Verschlüsselungen Nazideutschlands bei, er konstruierte auch die Turing-Bombe, jene Maschine, die es ermöglichte, anhand von Fragmenten verschlüsselter Nachrichten maschinell mögliche Starteinstellungen der Enigma-Verschlüs­selungsmaschine herauszufinden. Ganz allein schaffte er das jedoch nicht – der Mathematiker Gordon Welchmann hatte Turings eigentlich fertiger Konstruktion noch ein entscheidendes Detail, das sogenannte Diagonal Board, hinzugefügt. Bis Kriegsende wurden mehr als 200 der elektromagnetisch arbeitenden Turing-Welchmann-Bomben gebaut und zusammengeschaltet – so war es den Codebrechern von Bletchley Park möglich, schon am Tag des Sendens die Funksprüche Nazideutschlands zu entschlüsseln. Der britische Historiker Asa Briggs, der von 1942 bis 1945 ebenfalls in Bletchley Park als Codebreaker arbeitete, sagte später über Turings Leistungen: »Man brauchte in Bletchley ein geniales Ausnahmetalent, und Turing war dieses Genie.«
Bletchley Park ist ein Anwesen in Milton Keynes, das vor dem Kauf durch die britische Admiralität im Besitz der anglo-jüdischen Familie von Sir Herbert und Lady Fanny Leon war; noch heute ist ihr Familienwappen über dem Haupteingang zu sehen. Ausgewählt wurde das Gelände aber, weil es zu Fuß von dem kleinen Bahnhof der Stadt aus erreichbar war, an dem sich die Eisenbahnlinien zwischen Oxford und Cambridge – die meisten Codebreaker stammten aus diesen Universitätsstädten – und die Haupteisenbahnlinie von London nach Birmingham, Manchester und Glasgow kreuzten und der so eine perfekte Verkehrsan­bindung bot. Von Alan Turing, der ein talentierter Langstreckenläufer war, wird allerdings berichtet, dass er die Einbestellungen zu wichtigen Meetings in London als Training nutzte – er lief einige Male die 64 Kilometer nach London, statt den Zug zu nehmen.

Geehrt wurde Turing für seine Leistungen mit dem OBE, also als Officer of the Most Excellent Order of the British Empire, seine Arbeiten aber wurden bis 1970 unter Verschluss gehalten – Kryptographie und Entschlüsselungsverfahren gelten als geheime Waffen und Staatsgeheimnisse. Wie fortgeschritten Turings Kryptoanalyse war, zeigen auch zwei seiner Arbeiten aus Bletchley Park, die sich mit dem Einsatz von Wahrscheinlichkeiten und Statistik für das Knacken von Verschlüsselungen beschäftigten. Sie wurden erst im April 2012 freigegeben – mehr als 70 Jahre, nachdem Turing sie verfasst hatte.
Nach dem Krieg widmete er sich der Programmierung früher Computer. Er beschäftigte sich mit der Künstlichen Intelligenz (KI) und schlug einen Test vor, der entscheiden könnte, ob ein Computer intelligent ist – heute ist dieser Test als Turing-Test bekannt, und bisher hat ihn noch kein Computer bestanden, obwohl die Forscher in der KI schon seit Jahrzehnten fest überzeugt sind, es könnte demnächst so weit sein.
Der Test besteht darin, dass ein Mensch sich über Tastatur und Monitor mit einem Computer und einem anderen Menschen unterhält. Beide versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass sie der Mensch seien. Der Computer besteht den Turing-Test, wenn er am Ende für den Menschen gehalten wird oder sich der Proband nicht entscheiden kann, welches der Mensch ist. Dass die Informatik bisher keinen Computer hervorgebracht hat, der diesen Test besteht, liegt aber auch daran, dass Computer so allgegenwärtig geworden sind. Und je vertrauter Menschen mit Computern sind, desto schwieriger wird es für diese, den Test zu bestehen.

Ob Turings Erfolge ihn glücklich machten, ist nicht bekannt – sein Privatleben dürfte es nicht getan haben. 1941 verlobte sich Turing mit seiner Kollegin und Mathematikerin Joan Clarke aus Hütte 8 in Bletchley Park. Diese Verlobung löste er aber wieder, nachdem er ihr seine Homosexualität gestanden hatte. Obwohl dies Joan Clarke nach Zeitzeugenberichten völlig egal war, entschied Turing, dass es ihm unmöglich wäre, die Ehe zu schließen.
Im Januar 1952 lernte Turing dann Arnold Murray vor einem Kino in Manchester kennen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen lud Turing Murray ein, das Wochenende mit ihm zu verbringen. Murray sagte zu, tauchte dann aber nicht auf. Dennoch trafen sie sich wieder, und Murray verbrachte wohl ein paar Wochen später eine Nacht in Turings Haus. Und half danach einem Komplizen, bei Turing einzubrechen. Als Turing dies anzeigte, gestand er in den Vernehmungen, eine sexuelle Beziehung zu Murray gehabt zu haben. Homosexualität war damals in Großbritannien strafbar, beide wurden daher wegen grober Unzucht angeklagt. Turing wurde verurteilt und musste zwischen Gefängnis und Bewährung wählen, wobei die Bewährungsauflagen die Behandlung mit Hormonen beinhalteten – die chemische Kastration. Mit der Verurteilung verlor er außerdem seine Sicherheitseinstufung und konnte deshalb die kryptographische Arbeit für die Government Communications Headquarters, die 1946 aus der Government Code and Cypher School hervorgegangen war, nicht fortsetzen.
Turing entschied sich gegen die Gefängnisstrafe. Über den Verlauf eines ganzen Jahres bekam er Injektionen mit Diethylstilbestrol, einem synthetischen Östrogen. Die Nebenwirkungen waren stark. Turing, der immer sehr auf seinen Körper und seine Fitness geachtet hatte, wuchsen Brüste, dazu kamen schwere Depressionen. Am 8. Juni 1954 wurde er tot aufgefunden. Er hatte sich offenbar am Vortag mit einem mit Cyanid vergifteten Apfel umgebracht. Freunde berichteten, er sei schon lange vorher von der Szene aus dem Film »Schneewittchen und die sieben Zwerge« aus dem Jahr 1937 begeistert gewesen, in der die böse Königin den Apfel in den Giftkessel tauchte. Da aber der halb aufgegessene Apfel nie genau untersucht wurde, kann diese Annahme nicht bestätigt werden.
Zu seinem 100. Geburtstag zeigte die BBC einen Beitrag, in dem der Philosophieprofessor Jack Copeland die Selbstmordtheorie bestritt. Copeland nimmt an, dass Turing Cyaniddämpfe von einem Versuchsaufbau eingeatmet haben könnte, bei dem er Cyanid benutzte, um Gold aufzulösen. Denn Turing hätte seine Verurteilung und die Hormonbehandlung »mit Humor genommen« – auch wenn in früheren Berichten oft von seinen Depressionen die Rede war.
Die britische Regierung entschuldigte sich erst nach einer Petition im Jahr 2009 für die Behandlung Turings. Gordon Brown, der damalige Prime Minister, konnte jedoch auch nichts daran ändern, dass das Urteil gegen Turing bestehen bleibt. Es entsprach den Gesetzen jener Zeit und kann deshalb aus juristischen Gründen nicht aufgehoben werden.