Das Verbrechen an der Unschuld

Wenige Themen sind ähnlich geeignet, den Volkszorn zu erregen, wie das der Pädophilie. Welche Symptomatik mit diesem Begriff bezeichnet wird, gerät dabei kaum in den Blick. Die österreichischen Filme »Stillleben« und »Outing« entwickeln einen anderen ­Zugang zum Thema. Ein Essay und Gespräch mit den Regisseuren Sebastian Meise und Thomas Reider sowie mit Patrick Frottier, Facharzt für Psychiatrie.

Die mediale Thematisierung von Pädophilie erfreut sich anhaltender Beliebtheit, vor allem im Kriminalgenre. Die dabei implizierte Kriminalisierung, die bereits die pädophile Phantasie trifft, entspricht der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Pädophilie als kriminellem Phänomen. Dass sich, wie jüngst in der sachsen-anhaltinischen Ortschaft Insel, ein Mob gegen den Zuzug zweier aus der Sicherheitsverwahrung entlassener Sexualstraftäter formiert (Jungle World 39/2011 und 35/2012), weil diese insbesondere als Gefahr für »die Kinder« angesehen werden, obwohl ihre Opfer erwachsene Frauen waren, ist nur der drastische Ausdruck einer verbreiteten massenpsychologischen Disposition. Immer mal wieder macht sich Deutschland sonntags im »Tatort« auf die Suche nach pädophilen Mördern, im schlechtesten Fall landet man beim Umschalten in einem der Enthüllungsformate, die den Zuschauern die scheinbar inflationäre pädophile Bedrohung vor Augen führen.
Die österreichischen Filmemacher Sebastian Meise und Thomas Reider haben mit ihrem Spielfilm »Stillleben« und der Dokumentation »Outing«, die in Österreich gerade in ausgewählten Kinos gezeigt wurden und im Sommer auf verschiedenen Festivals in Deutschland zu sehen sein werden, einen anderen Zugang zum Thema Pädophilie versucht. »Stillleben« zeigt die Zerrüttung einer Familie, die sich mit dem pädophilen Begehren des Vaters konfrontiert sieht. Während die Familie nicht weiß, wie sie mit der Enthüllung umgehen soll, und sich nicht darüber im Klaren ist, ob überhaupt ein realer Missbrauch stattgefunden hat, sucht der von Schuldgefühlen geplagte Vater nach einer Strafe für seine libidinösen Regungen. Sein Urteil über sein nicht ausgelebtes Begehren hat er freilich schon vor langer Zeit gesprochen. »Outing« entstand im Rahmen der Recherche zu diesem Spielfilm. Das Projekt »Kein Täter werden« der Berliner Universitätsklinik Charité bietet seit 2005 Hilfe für Menschen mit pädophiler Neigung an, die diese nicht ausleben wollen. Es arbeitet als weltweit erstes Projekt mit nicht straffälligen Pädophilen. Schätzungen gehen davon aus, dass zu dieser Personengruppe in Deutschland etwa 50 000 bis 200 000 Männer gehören. Einer dieser Männer ist Sven, den die Filmemacher für »Outing« über vier Jahre begleiteten. Das folgende Interview mit den Regisseuren sowie mit Dr. Patrick Frottier, der sie als Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin bei der Produktion von »Outing« beraten und Publikationen zu forensischer Psychiatrie, Gewalt, Selbst- und Fremdgefährdung, Persönlichkeitsstörungen, Affektkontrollstörungen und zur Therapie von psychisch kranken Rechtsbrechern vorgelegt hat, geben einen Eindruck vom ästhetischen Konzept der Filme sowie von Pädophilie als forensischem und medialem Phänomen. Der daran anschließende Text skizziert anhand einiger prominenter Beispiele die Geschichte der filmischen Darstellung von Pädophilie.

»Stillleben« ist ein Film über Schuld, auch unabhängig vom Thema Pädophilie. War das Ihre Intention?
Sebastian Meise: Ja, weil man mit dem Vater in »Stillleben« jemanden sieht, der mit seiner Schuld ringt. Das war die Grundidee, ein Mensch, der sich schuldig fühlt und schuldig gemacht wird für etwas, dass er nur in der Phantasie begangen hat. Dahingehend ist natürlich die Pädosexualität als Gegenstand interessant, denn kaum ein anderes Thema wird so tabuisiert, für kaum etwas wird man derart stigmatisiert.
Wie kamen Sie auf das Motiv der Pädophilie? Hatte das für Sie etwas mit den österreichischen »Kellerkinder«-Fällen und den Kinderheimskandalen der letzten Jahre zu tun?
S. M.: Das hat uns vielleicht unbewusst schon beeinflusst, aber auf jeden Fall war es das Charité-Projekt »Kein Täter werden«, das Thomas in einem Zeitungsbericht ausgegraben hatte.
Thomas Reider: Ja, ich glaube in der Zeit gab es einen Bericht über den Ansturm auf das Projekt. Die Charité war damals das weltweit erste Projekt, das mit Pädophilen arbeitete, die nicht straffällig geworden sind. Davor gab es keine Zahlen über solche Leute, sondern nur über die, die schon kriminell geworden sind. Ich habe mir da auch zum ersten Mal gedacht: Aha, komisch, ich habe immer geglaubt, pädophil ist ­jemand, der Kinder missbraucht hat. Dass dieses Projekt so einen regen Zulauf erfahren hat, hat mich irritiert, da mir nicht klar war, dass es Leute gibt, die diese Hilfe benötigen.
S. M.: Hinter dem Charité-Projekt steckt ein kluger Gedanke: dass es nicht darum geht, warum jemand eine pädophile Neigung hat, sondern darum, herauszufinden, wie man so jemanden in die Gesellschaft integrieren kann.
T. R.: So kann man vermeiden, dass es überhaupt zum Missbrauch kommt. Anzusetzen, bevor jemand zum Täter wird, ist sinnvoll.
Die beiden Protagonisten von »Stillleben« und »Outing« sind vollkommen unterschiedliche Persönlichkeiten, warum sie pädophil sind, erfährt man nicht. Sind Sie bei Ihrer Recherche auf plausible Theorien für die Erklärung pädophiler Neigungen gestoßen?
S. M.: Es gibt viele verschiedene Theorien. Wir haben im Gespräch mit Fachleuten gemerkt, dass die Erklärungsmodelle zur Entstehung von Pädophilie sehr unterschiedlich sind. Das ist bei wissenschaftlicher Forschung grundsätzlich so, aber bei der Pädophilie scheinen schon besonders große Differenzen zu bestehen.
T. R.: Ein Konsens fehlt hier wirklich vollkommen. Es hat sogar viele Fachmeinungen gegeben, die das Charité-Projekt für eine Frechheit gehalten haben, die sich über den Slogan »Lieben sie Kinder mehr als Ihnen lieb ist?« aufgeregt haben, da Pädophilie nichts mit Liebe zu tun habe. Manche sagen auch, die Begrifflichkeit selbst sei schon falsch. So nennen es die einen Pädophilie, die anderen Pädosexualität. Wieder andere meinen, Pädosexualität bezeichne schon die Tat, Pädophilie nur die Gedanken. Es gibt also nicht einmal in der Terminologie einen Konsens. Es ist schon sehr spannend, in welche Richtung sich diese Diskussionen am Ende entwickeln werden.
S. M.: Teilweise wird der Begriff Pädosexualität als Bezeichnung für eine Normvariante von Sexualität verwendet, so wie Homo- oder Heterosexualität. In der Charité wird davon ausgegangen, dass Pädosexuelle Täter seien und Pädophile diejenigen, die noch nichts getan haben. Die Opfer erleben den Begriff Pädophilie ja eher als Angriff, da aus ihrer Perspektive der Pädophile zumeist weniger der ist, der ein Kind liebt, sondern der, der das Kind missbrauchen will oder missbraucht hat. Pädophilie wird in diesem Zusammenhang oft als ein Euphemismus aus der Antike angesehen. Pädophile wiederum erleben die Bezeichnung des potentiellen Täters als Vorverurteilung, da grundsätzlich von der Neigung zu einer Tat ausgegangen wird, die sie mitunter gar nie vorgehabt haben. Es wird also sicher noch einiges passieren müssen, bis man einen Terminus findet, der von allen Seiten akzeptiert wird.
Die meisten Filme, die sich mit Pädophilie beschäftigen, setzen erst an dem Punkt an, wo es zu einer Straftat gekommen ist. Ein anderer österreichischer Film, »Michael« von Markus Schleinzer aus dem vergangenen Jahr, setzt sich auf vollkommen andere Art als Sie mit dem Thema auseinander. Bei Schleinzer steht ein pädophiler Gewalttäter im Zentrum. Im medialen Umgang mit dem Phänomen steht meist auch eher die Faszination an der totalen Verfügung über ein Subjekt im Vordergrund, wie beim Fall des Sexualstraftäters Josef Fritzl und der Entführung Natascha Kampuschs.
T. R.: Ja, das stimmt. Wir haben uns mit »Stillleben« da von einer ganz anderen Seite anzunähern versucht. Wir wollten schauen, was überhaupt die Voraussetzung dafür ist, dass es so weit kommen kann. Wir haben gleichsam eine Schicht weiter unten angesetzt.
S. M.: In »Michael« geht es vielleicht sogar eher um einen Gewaltverbrecher als um die Thematik Pädophilie. Und das ist bei dem Fritzl-Fall ja genauso. Wir haben im Zuge der Filmrecherche mit einem Arzt gesprochen, der sagt, dass die Taten von Josef Fritzl für ihn nichts mit Pädophilie zu tun hätten. Für ihn war Fritzl ein Gewaltverbrecher, in der Diagnose letzten Endes ein Psychopath.
T. R.: Der Pädophile in »Outing« ist in Kinder verliebt. Er hat Herzrasen und will nicht Macht ausüben, sondern mit dem Kind auf einer Ebene sein. Er will mit ihm spielen und sexuell mit ihm aktiv sein. Aber das muss ein Traum bleiben. Daher würde ich auch denken, dass es dort, wo strafrechtliche Grenzen überschritten werden, sehr wenig um die sexuelle Orientierung geht. Ein Vergewaltiger ist nicht ein Heterosexueller, sondern vor allem ein Gewaltverbrecher. So ist auch ein Pädophiler, der Kinder missbraucht, in erster Linie ein Krimineller und nicht ein Pädophiler. Die sexuelle Orientierung ist daher vielleicht ein Motiv, aber nicht die direkte Verleitung zur Tat.

Die fixierte Kindheit
Dr. Frottier, Sie haben sich ebenfalls mit der medialen Inszenierung von Pädophilie beschäftigt. Diese geschieht in erster Linie mittels der Präsentation des Delikts Kindesmissbrauch. Bei kaum einem anderen Thema sind die Gefühlswallungen, die dem tatsächlichen oder vermeintlichen Täter entgegenschlagen, so heftig. Welche Gründe sind aus Ihrer Sicht dafür ausschlaggebend?
Patrick Frottier: Es gibt zumindest zwei Gründe. Zum ersten wurden pädophile Menschen in den Medien und im Film bisher nur als Täter dargestellt, also als Kriminelle wahrgenommen. »Stillleben« und »Outing« sind da Ausnahmen. Die Wissenschaft hat gleichfalls und sehr reduktionistisch Studien über pädosexuelles Verhalten ausschließlich täterbezogen durchgeführt und sich mit Menschen, die ihre pädosexuelle Neigung niemals ausgelebt haben, kaum beschäftigt. Pädophilie wurde so einem Verbrechen gleichgesetzt, war nicht davon unabhängig wahrnehmbar. Bei näherer Betrachtung zeigt sich in der forensischen Psychiatrie jedoch, dass der pädosexuelle Straftäter letztendlich anderen, in anderen Bereichen kriminell gewordenen Straftätern ähnlicher ist als ausschließlich paraphil gestörten Menschen, Menschen also, die ihre sexuelle Neigung, die sie nicht ausleben dürfen, tatsächlich nicht ausleben. Die Annahme, dass jemand seine sexuelle Neigung ausleben müsse, weil sie so stark und daher unbeherrschbar ist, widerspricht jeder klinischen Erfahrung.
Zweitens ist Pädophilie ein Tabu, dessen Vorstellung uns alle beunruhigt. Wir können uns durchaus vorstellen, bestimmte Straftaten zu begehen, Diebstahl, Steuerhinterziehung, Kunst- oder Bankraub, möglicherweise sogar einen Mord. Aber die Vorstellung, ein Sexualdelikt zu begehen, ist schon viel schwieriger. Ein pädosexuelles Delikt übersteigt bei fast allen von uns die Vorstellungskraft. Das ist ein Dilemma, wenn wir bedenken, wie groß die Anzahl der Menschen mit einer solchen Neigung ist. Da pädophiles Begehren kaum emotional nachempfunden werden kann, spalten wir es in unserer Vorstellung ab, es wird verteufelt, öffentlich als das Böse gebrandmarkt – im Unterschied zu anderen Verbrechen, wie die Beliebtheit von Kriminal­geschichten zeigt. Filme, die Identifikationsmöglichkeiten mit dem Täter schaffen, haben einen besonderen Reiz, mit einem pädosexuellen Täter kann sich aber kaum jemand identifizieren, auch bei »Stillleben« und »Outing« nicht.
Warum ist ausgerechnet der Abwehrmechanismus gegen pädophile Phantasien so groß?
Wir können uns die Frage stellen, ob der Abwehrmechanismus so stark ist, weil ein Tabu berührt wird, das in uns genetisch verankert ist, oder ob es ein gesellschaftlich begründetes Tabu ist. Das ist letztlich abhängig von der Perspektive, die wir einnehmen, ob der soziologische oder der medizinische Blickwinkel uns plausibler erscheint. Pädophilie als Krankheit zu betrachten hat andere Konsequenzen, als wenn ich Pädophilie als sexuelle Variante betrachte, die allerdings nicht ausgelebt werden darf. Im ersten Fall ist eine medizinisch-psychotherapeutische Behandlung die Folge, vielleicht sogar unabhängig vom Leidensdruck der Betroffenen, im zweiten Fall ist der Schutz der Kinder das vorrangige Ziel, also die Verhinderung von Straftaten, indem Menschen mit dieser sexuellen Neigung dabei unterstützt werden, sie nicht auszuleben, und jene, die es dennoch tun, die strafrechtlichen Konsequenzen akzeptieren müssen. In dieser Betrachtungsweise ist Pädophilie nicht ein Problem, das ausschließlich die Betroffenen angeht, sondern eine Herausforderung, die die ganze Gesellschaft betrifft, in der sie entscheiden muss, wie sie mit ihren Mitgliedern umgehen möchte.
Ein weiterer Film, der sich auf recht differenzierte Weise mit dem Thema Pädophilie befasst, ist »Das Fest« von Thomas Vinterberg. Am Wiener Burgtheater gab es eine Fortsetzung des Films, »Das Begräbnis«, worin die Geschichte weitergesponnen wird. Der missbrauchte Sohn, der in »Das Fest« den Vater anklagte, wird selbst zum Täter und setzt den Missbrauch fort. Ist dieser deterministische Zugang für Sie glaubhaft oder problematisch?
Dass Menschen, die missbraucht wurden, später automatisch Täter werden, ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Erfahrener Missbrauch ist zwar ein Risikofaktor, aber ein viel geringerer, als meist behauptet wird. Etwa zwölf Prozent der Missbrauchstäter geben an, dass sie selbst missbraucht wurden. Also stellt sich die Frage, welche Auslöser bei den restlichen 88 Prozent, die nicht missbraucht und trotzdem zu Tätern wurden, vorgelegen haben. Die meisten Opfer werden später nicht zu Tätern. Zudem sind Missbrauchsopfer oft in der schambesetzten Situation, den Täter gemocht und nett gefunden zu haben, was den Missbrauch nicht offensichtlich als Trauma erscheinen lässt. Daraus darf nicht gefolgert werden, dass Missbrauch toleriert oder so erklärt werden kann, dass er entschuldigt wird. In der Hierarchie zwischen Kind und Erwachsenem kann das Kind nicht autonom für sich entscheiden. Kinder wollen meist den Erwartungen des Erwachsenen entsprechen. Gerade Kinder aus zerrütteten Elternhäusern, aus Heimen und verwahrlosten Milieus, erzählen, dass sie die von ihnen oftmals als einzige erlebte Zuneigung nicht verlieren wollten und den sexuellen Missbrauch deshalb erduldet haben. Diese Kinder befinden sich in einem schwerwiegenden Dilemma. Das Verbrechen beginnt bereits in dem Augenblick, in dem das Kind einem solchen Dilemma ausgesetzt wird. Das Ausmaß der Traumatisierung hängt jedoch von vielen persönlichen und allgemeineren Faktoren ab, die Reaktionen auf den Missbrauch sind individuell sehr inhomogen, Opfer werden mehrheitlich nicht zu Tätern. Zudem begehen Menschen ohne eindeutige pädosexuelle Neigungen weitaus häufiger eine pädosexuelle Straftat als jene mit einer fixierten Neigung.
Eine differenziertere Erklärung der Ursache pädosexueller Handlungen beschreibt pädosexuelle Menschen als solche, die in einer Art Regressionshaltung verharren und diese nicht aufgeben wollen. Diese Menschen erleben sich gegenüber dem Kind als gleichwertigen Partner. Sie suchen in dem Kind, das sie missbrauchen, sich selbst oder das, wonach sie sich in ihrer Kindheit gesehnt haben. Theorie bleibt jedoch so lange Theorie, bis wir identische oder zumindest ähnliche Motive, ähnliche Anamnesen bei allen Menschen mit pädosexueller Neigung finden. Das trifft in der Realität bei bisherigem Stand der Wissenschaft keineswegs zu. Die pädosexuelle Tat ist das Ende unterschiedlicher Entwicklungswege. Die beschriebene Regression ist einer dieser Wege, wie sich etwa auch Menschen, die aufgrund intellektueller Minderbegabung oder aus Unsicherheit nicht die Fähigkeit haben oder Möglichkeit sehen, einen erwachsenen Partner zu finden, regressiv auf Kinder fixieren. Bei anderen Menschen, die pädosexuell handeln, liegt, wenn auch selten, eine Hypersexualität vor, die sie bei ausreichender Dissozialität ihre Sexualität rücksichtslos ausleben lässt. In diesen Fällen ist das Regressionsmoment viel geringer, der Machtaspekt hingegen viel stärker. Eine allgemeine Theorie scheitert bisher, weil die Fälle und die beteiligten Personen zu unähnlich sind.
Welche Herangehensweise an das Thema Pädophilie halten Sie für angebracht?
Oftmals habe ich mich in meiner Arbeit als forensischer Psychiater gefragt, ob jemand, der ein Sexualdelikt an einem Kind begangen hat, überhaupt jemals entlassen werden kann. Die Rückfallquote ist relativ hoch. Der größte Erfolg, sogar die beste Therapie, kann nicht verhindern, dass Einzelne rückfällig werden. Die Gesellschaft muss sich überlegen, wie viel Risiko sie auf sich zu nehmen bereit ist. Was ich allerdings in meinem Beruf auch gelernt habe, ist – und das ist für die breitere Öffentlichkeit meist schwer zu akzeptieren –, dass 99,9 Prozent der Menschen, die ich als sogenannte geistig abnorme Täter kennengelernt habe, mit uns weitaus mehr Ähnlichkeit haben, als dass sie sich von uns unterscheiden.
Insofern habe ich als Psychiater kein spezielles Interesse an Pädosexualität, aber mich haben in meinem Beruf von Anfang an Menschen interessiert, die ganz am Rand der Gesellschaft stehen, weil sie ein Verhalten zeigen, das sie zu Außenseitern macht, weil sie anders denken, wie etwa schizophrene Menschen, oder anders fühlen, wie Menschen mit affektiven Störungen. Ist das Anderssein eine Normvariante oder ist es krank? Im Englischen hieß der Psychiater früher »Alienist«, im Französischen »Aliénist«. Das benennt zuerst das Andersartige, Fremdartige, nicht das Kranke. Dies entspricht meiner Herangehensweise. Je mehr wir versuchen, unsere Außenseiter und unsere Fremden zu integrieren, umso sicherer und fortgeschrittener ist unsere Gesellschaft. Und je stärker wir das Bedürfnis haben, Menschen auszugrenzen, zu beschuldigen und sie als Böse zu stigmatisieren, umso primitiver ist unsere Gesellschaft. Die Pädophilie ist ohne Zweifel ein enormes gesellschaftliches Tabuthema. Wir haben vor 30 Jahren angefangen, in der Sozialpsychiatrie die psychisch Kranken zu integrieren. Wir haben entschieden, Homosexuelle nicht als krank, sondern als sogenannte Normvariante zu sehen. Wir muten möglicherweise der Gesellschaft viel zu, wenn wir die pädosexuelle Neigung auch unter solchen Prämissen betrachten. Pädophilie zu verstehen hieße, alles zu tun, um zu verhindern, dass jemand zum Täter wird. Manche Menschen sind sich ihres Problems bewusst, wollen ihre Neigung niemals ausleben und leiden unter ihr. Sie suchen Hilfe. Wir müssen demnach nicht alle einsperren. Aber wir müssen den Hilfesuchenden einen Ort geben, wo sie über ihre sexuelle Neigung sprechen und Hilfe in Anspruch nehmen können.

Vom Trieb- zum Missbrauchstäter: Zur Darstellung von Pädophilie im Film
Der Begriff Pädophilie wurde 1886 durch den Psychiater und Sexualwissenschaftler Richard von Krafft-Ebing als Bezeichnung einer sexuellen Störung eingeführt. Bereits in seiner Beschreibung der Störung konstatiert Krafft-Ebing, dass das ausschließliche sexuelle Interesse an Kindern zeitlich überdauernd, also nicht veränderbar sei. An dieser Definition hat sich seither wenig geändert, die psychiatrische Forschung behandelt das Phänomen immer noch als eine Störung der Sexualpräferenz, die therapiert, aber nicht geheilt werden kann. Therapieangebote sind jedoch rar. 2005 initiierte die Berliner Charité das Projekt »Kein Täter werden«. Bereits nach wenigen Tagen waren alle Therapieplätze ausgebucht. Mittlerweile werden ähnliche Projekte in sechs deutschen Städten angeboten. Doch die öffentliche Wahrnehmung von Pädophilie als kriminellem Phänomen bleibt weiter vorherrschend. Pädophil ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung, wer zum Täter wird. Die Beschränkung auf den kriminellen Pädophilen verschleiert, dass nur ein sehr geringer Teil der Sexualverbrechen an Minderjährigen aufgrund einer pädophilen Neigung begangen wird. Verstärkt wird diese Wahrnehmungsverzerrung durch die Konzentration des Interesses auf das durch den Erwachsenen sexuell gefährdete Kind, die sowohl die öffentliche Debatte als auch die meisten Filme zum Thema prägt. Es verwundert daher nicht, dass sich gerade in der Sparte des Kriminalfilms das Sujet des Kindesmissbrauchs ungebrochener Beliebtheit erfreut. Kaum ein anderes Motiv eignet sich besser als Hintergrund zur Darstellung von Schuld und Obsession als das Verbrechen an der kindlichen Unschuld. Dabei geht meist eine idealisierte und entsexualisierte Vorstellung von Kindheit mit der Dämonisierung des vermeintlich omnipräsenten Täters einher.
In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem pädophilen Täter begegnen, wie auch in den entsprechenden Filmen, zwei Tätertypen: der Triebverbrecher und der Missbrauchstäter. Hinter beiden Figuren stehen divergierende Deutungsmuster. Der Trieb- oder Sittlichkeitsverbrecher vergeht sich demnach an der Sittlichkeit der Gesellschaft ebenso wie an der »gesunden« Triebentwicklung des Kindes. Die Ursachen seines Vergehens werden in seiner unkontrollierten Triebhaftigkeit gesehen. Diese ist eine ideale Projektionsfläche für Strafphantasien jeder Couleur. Da Strafmaßnahmen gegen den Triebverbrecher erst im Nachhinein vollzogen werden können, muss diesem Deutungsmuster zufolge Prävention notwendig auf Seiten der Opfer ansetzen. Das Kind, das geschützt werden muss, soll gleichzeitig auch diszipliniert werden. Dabei wird dem Kind, seiner unkontrollierbaren Neugier gerade auch gegenüber dem Sexuellen, seitens der Gesellschaft mindestens ebenso viel Misstrauen entgegengebracht wie dem Täter. Zugleich werden die Eltern in die ­Erziehungspflicht genommen. Wer sein Kind durch Berufstätigkeit, Scheidung und dergleichen über Gebühr psychisch belastet, macht sich dieser Sichtweise zufolge moralisch angreifbar.
Bereits Fritz Lang griff 1931 in »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« das Sujet des pädophilen Triebverbrechers auf, der im Film ausdrücklich mit dem autoritären Strafbedürfnis des Volkszorns konfrontiert wird, dessen Ressentiment die Kulturindustrie sich sonst eher selbst zueigen macht. Der Kindermörder Hans Beckert, gespielt von Peter Lorre, scheint bei Lang weniger durch die gegen ihn ermittelnden Krimalbeamten bedroht zu sein, sondern sieht sich einem von der Verbrecherwelt rekrutierten Unterweltmob gegenüber, der nicht weniger will als Beckerts »Auslöschung«, wie es der Chef des Verbrecherrackets (gespielt von Gustav Gründgens) nennt. Diesem Bedürfnis nach eliminatorischer Gewalt stellt Lang im Abschlussplädoyer Beckerts vor einem von der Unterwelt organisierten symbolischen Volksgerichtshof die Charakteristik eines Mörders gegenüber, der selbst erklärt, dass er nicht morden will. Bei Lang erscheint der pädophile Straftäter nicht vorrangig als Gefahr für die Gesellschaft, sondern gegenüber dem lynchlüsternen Mob als bemitleidenswerte Kreatur. Zwar kann sich bei Lang der Rechtsstaat schließlich gegen die Mordlust des Mobs durchsetzen, aber es sollte bekanntlich nicht lange dauern, bis Volksmeinung und Staat tatsächlich miteinander verschmolzen. Insofern antizipiert die in »M« dargestellte Hetzjagd gegen den pädophilen Triebverbrecher mit erschreckender Genauigkeit die sich formierende nationalsozialistische Volksgemeinschaft. Das Nachleben dieser Symbiose lässt sich auch heute noch studieren, sobald staatliche Institutionen der wütenden Volksseele bei der Strafverfolgung von Sexualtätern entgegenkommen.
In der 1958 in die Kinos gekommenen Friedrich-Dürrenmatt-Verfilmung »Es geschah am hellichten Tag«, einem der ersten deutschen Spielfilme zum Thema Pädophilie nach 1945, nähert sich ein außerdienstlich ermittelnder Kommissar dem pädophilen Täter unter Zuhilfenahme eines Psychiaters. Auch in Ladislao Vajdas Film wird der Pädophile als Triebverbrecher gezeichnet, der mit seiner geifernden Ehefrau im Nacken nicht anders kann, als kleinen Mädchen im Wald nachzustellen und sie schließlich zu ermorden. Anders als in »M« schlägt sich in »Es geschah am hellichten Tag« jedoch die für das frühe nachfaschistische Deutschland spezifische Ideologie von Sittlichkeit und Mütterlichkeit nieder, indem die Figur des in seiner Reinheit gefährdeten Kindes und die Notwendigkeit elterlichen Schutzes gegenüber einer bösen Außenwelt ins Zentrum rückt. So appelliert der ehrenamtlich und allein aus »moralischem« Antrieb agierende Kommissar, zu allem Übel und doch treffend dargestellt von Heinz Rühmann, im Film an die gefährdeten Schulkameraden des ermordeten Mädchens wie auch an die Zuschauer, sich nicht von Fremden ansprechen zu lassen. Dem zum Trotz mietet er sich selber unter Vortäuschung falscher Tatsachen bei einer alleinerziehenden Mutter ein, um deren Tochter ohne ihr Wissen als Lockvogel zwecks Überführung des Täters zu missbrauchen.
Die Figur des ebenso konformistischen wie sexualreformerischen Kommissars nimmt bereits den Typus des Anti-Missbrauchs-Aktivisten der neunziger Jahre vorweg. Erhöhte Wachsamkeit wird gerade gegenüber dem Missbrauchstäter eingefordert, der in den letzten 20 Jahren an die Stelle des Triebtäters getreten ist. Im Gegensatz zum Triebtäter zeichnet sich der Missbrauchstäter nicht durch seine vermeintliche Abnormität aus, wie sie noch Peter Lorre in »M« exemplarisch verkörperte, sondern ist beängstigend normal und gehört oft dem sozialen Nahbereich seiner Opfer an. Die Darstellung dieser Täterschaft im populären Film ist jedoch meist nicht einfach nur der Reflex auf die zutreffende Tatsache, dass sexueller Missbrauch tatsächlich häufiger durch Verwandte und Freunde des Opfers als durch Fremde begangen wird. Mit der Präsentation des »normalen« Missbrauchstäters ist vielmehr zugleich der moralische Appell verknüpft, sich selbst und sein Nahumfeld wachsam im Auge zu behalten. Die Entdämonisierung der Täterfigur erschließt also gleichzeitig ein neues Gefahrenpotential, denn scheinbar jeder kann zum Täter werden und ist damit immer schon verdächtig.
Ausgehend von der US-amerikanischen Frauenbewegung, gewann diese Sicht auf das Thema Kindesmissbrauch seit den siebziger Jahren auch außerhalb filmischer Darstellungen zunächst in feministischen Kreisen an Bedeutung. Im April 1978 veröffentlichte die Zeitschrift Emma einen einflussreichen Artikel mit dem Titel »Das Verbrechen, über das niemand spricht«, in dem ein 14jähriges Mädchen ihre Missbrauchsgeschichte erzählt. Bald wurde das Verbrechen jedoch zu einem, über das, seiner Tabuisierung zum Trotz, beinahe jeder sprechen konnte. Die sich in den Folgejahren vollziehende Enthüllung zahlreicher vermeintlicher oder tatsächlicher Missbrauchsfälle war mal mehr, mal weniger mit populis­tischen Strafandrohungen verbunden; in jedem Fall verschafften diese Enthüllungskampagnen staatlichen Interventionen in den privaten Bereich der Kinderziehung größeren Rückhalt bei der Bevölkerung.
Mit der Wendung vom Trieb- zum Miss­brauchs­täter scheint das verzweifelte Plädoyer des Kindermörders Beckerts aus »M«, nicht zum Monster gestempelt zu werden, erhört worden zu sein. Der pädophile Täter ist nun nicht mehr das monströse Wesen, sondern der normale Nachbar, Onkel oder Vater. Die Fremdheit des Triebtäters ist der allgegenwärtigen Bedrohung durch einen Missbrauch gewichen, den praktisch jeder begehen kann. Das autoritäre Bedürfnis, das vormals gegen den Triebtäter gerichtet war, verschwindet dadurch jedoch nicht, sondern wird nach innen gekehrt, richtet sich nunmehr gegen die eigenen Triebregungen, von denen man jederzeit das Schlimmste zu erwarten habe. Der neue Kinderschutz war dabei weniger Produkt einer erhöhten Sensibilität gegenüber kindlichen Bedürfnissen oder Ergebnis psychoanalytischer Einsichten in die psychosexuelle Entwicklung von Kindern als eine neue Verarbeitungsmöglichkeit autoritärer Bestrebungen. Deutlicher als im mittlerweile eingestellten RTL2-Format »Tatort Internet – Schützt endlich unsere Kinder«, das der amerikanischen Erfolgsserie »Catch the Predator« nachempfunden ist, kann diese problematische Dimension des medialen Kinderschutzes kaum zum Ausdruck gelangen. Gleichzeitig bleibt – von den neunziger Jahren bis zu den gegenwärtig wieder aufflammenden Diskussionen über Kinderpornoringe – das Gegenbild des Kindes als unschuldiges Wesen ungeachtet aller psychoanalytischen Erkenntnisse über die kindliche Sexualität im Massenbewusstsein erhalten. Sehnsüchtig blickt man auf das Kind, das noch nicht eingegliedert zu sein scheint in die Gemeinschaft der an der Gesellschaft Leidenden, sondern auf die Möglichkeit eines Besseren verweist. Dass es diese Rolle noch nicht einmal ganz zu Unrecht zugeschrieben bekommt, verstärkt noch die Mythisierung. In der wütenden Trauer um das um seine Unschuld gebrachte Kind versichert sich die Gesellschaft ihrer selbst.
Der Pädophile dagegen wird nur als poten­tieller Täter betrachtet, als jemand, der durch seine möglichen Taten die Kraft hat, vermeint­liche Unschuld und Hoffnung auf einen Schlag zunichte zu machen. Ihn nicht als das personi­fizierte Böse zu sehen, hieße zugleich, sich einzugestehen, dass es nicht einzelne böse Menschen, sondern viel abstraktere Faktoren sind, welche die jungen Wesen der Gattung Mensch gefährden. Todd Fields Film »Little Children« von 2006 zeigt, weshalb sich diese verzerrte Sicht auf die kindliche Unschuld zur Bewältigung sozialer Krisen eignet. An einem pädophilen Ex­hibitionisten, der in einen beschaulichen Bostoner Vorort zieht, entladen sich in diesem Film die aus dem privaten Elend der Protagonisten rührenden Konflikte. Das Unglück des Pädophilen ist der symbolische Austragungsort des Unglücks der benachbarten Mittelstandsfami­lien. Deren Kinder wiederum haben längst gelernt, wie Erwachsene zu agieren, und tragen die Last der elterlichen Konflikte.
Aber es scheint, als wäre dies das neue Los der Kinder. Wo die Familie nicht bloß an ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zu scheitern droht, sondern auch der Missbrauch in ihr selbst lauert, kommt es zu einer verstärkten etatistischen Durchdringung der nur noch dem Schein nach privaten Familienverhältnisse. Staatliche und nichtstaatliche Instanzen dringen im Namen des Kinderschutzes in die Privatsphäre ein, um potentielle Bedrohungen in ihr aufzuspüren. Sozialpädagogen werden immer expliziter angehalten, Missbrauchsfälle bei verhaltensauffälligen Kindern aufzudecken, und Kindergärtnerinnen entdecken in körperbetonten Kinderzeichnungen den sexuellen Missbrauch durch den Vater. Die Eltern sind nicht mehr einfach nur Schützer und Erzieher des Kindes, sie erscheinen selbst als potentielle Gefahr, der sich das Kind mit einem Veto beim Jugendamt entziehen kann. Die gesellschaftlichen Verhältnisse aber, gegenüber denen die Privatsphäre immerhin auch ein Schutz sein kann und die in letzter Konsequenz auch den realen sexuellen Missbrauch im Privaten erst aus sich heraus hervorbringen, treten immer weniger ins Bewusstsein.
Thomas Vinterbergs Dogma-Film »Das Fest« gelingt es, das sich am Missbrauch kristallisierende Unheil nicht allein auf das sexuelle Fehlverhalten des Vaters zurückzuführen, obwohl es in ihm um einen Missbrauchsfall in der sozialen Nahsphäre geht. Nicht allein der sexuelle Missbrauch, sondern auch der autoritäre Habitus des Familienoberhaupts, die gleichgültigen und unbeholfenen Reaktionen der Angehörigen und Zeugen der Demontage des Vaters, deren Rassismus und soziale Ressentiments, kurz die gesamte Beschaffenheit der den Vater umgebenden Gesellschafts- und Familienverhältnisse werden von Vinterberg als Voraussetzungen des Leidens des Protagonisten Christian thematisiert. Dadurch rückt der Film ab von der Fixierung auf die Person des Täters und zeigt die Umstände, die diesen erst zu dem gemacht haben. Auch der österreichische Film »Michael« von Markus Schleinzer nähert sich dem gesellschaftlichen Elend von der Täterseite. Die Welt, die den Protagonisten umgibt, der ein Kind im Keller gefangen hält, zeichnet sich durch ihre abstoßende Durchschnittlichkeit aus. Und nichts scheint Michael erstrebenswerter als eine Anpassung an diese Durchschnittlichkeit. Die einzige Form der Beziehungsaufnahme zu einem anderen Menschen, die ihm unter diesen Voraussetzungen möglich erscheint, ist die Machtausübung gegenüber dem Kind. Michael verfügt über keine Sprache, mit der er mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen könnte. Doch das Verstummen gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist nichts, was ihn von seinen Kollegen im Großraum-Versicherungsbüro unterscheidet. Obwohl dieser Film die Geschichte eines Verbrechens erzählt, unterscheidet er sich von Formaten des Kriminalgenres durch seine Darstellung der gewaltvollen Normalität, die den Protagonisten umgibt.
»Stillleben« und »Outing« schließlich sind die vielleicht ersten Filme zum Thema, die sich gar nicht erst auf die dem Sujet scheinbar innewohnende Kriminalisierungstendenz einlassen. In »Stillleben« sucht der pädophile Hauptcharakter zwar mit aller Vehemenz, seine Geschichte zu einer Kriminalgeschichte zu machen und sich selbst als Kriminellen zu verstehen, scheitert aber genauso daran, wie der Kriminalfilm an der Beschreibung der Pädophilie scheitert. Die Schuld, die er ob seines Begehrens der eigenen Tochter gegenüber empfindet, lässt sich nicht strafrechtlich rationalisieren. Sie muss im Raum stehen bleiben, da weder er selbst noch seine Umgebung mit ihr umzugehen wissen. Als seine Familie von seinen pädophilen Sehnsüchten erfährt, wagt zunächst niemand zu glauben, er habe dem Mädchen nichts angetan. Dabei ist der Vater selbst der Prostituierten gegenüber, die er zur Umsetzung seiner geheimen Wünsche benutzt, voller Scham und Sanftmut. So groß sind Scham und Schuldgefühl, dass er sich schließlich nicht anders zu helfen weiß, als sich selbst den staatlichen Vollzugsorganen auszuliefern. Dabei weiß er freilich nicht, wie er das Urteil, das er längst über sich selbst gesprochen hat, den Vertretern der Exekutive kommunizieren soll. Denn für Gedanken, die mit einem starken Tabu behaftet sind, kann nicht einmal eine österreichische Polizeidienststelle ihn haftbar machen. »Outing« wiederum zeigt in den Schilderungen des pädophilen Protagonisten, warum er gerade die kindlichen Objekte seines Begehrens als attraktiv wahrnimmt und wie sich pädophiles Begehren und der gesellschaftliche Umgang mit diesem auf merkwürdige Weise ähneln. Sven sehnt sich zurück nach seiner Kindheit und findet in den kleinen Jungen, die er begehrt, sich selbst als Kind wieder. Im Grunde ist seine Verliebtheit Projektion der Sehnsucht nach der kindlichen Unschuld und nach dem unbeschwerten Glück der Kindertage.
Es ist dieselbe Sehnsucht, die in der Beschwörung der Kindheit als Gegenbild des sie bedrohenden Pädophilen mitschwingt.

M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931), Regie: Fritz Lang
Es geschah am hellichten Tag (D/E 1958), Regie: Ladislao Vajda
Little Children (USA 2006), Regie: Todd Field
Das Fest (DK/S 1998), Regie: Thomas Vinterberg
Michael (A 2011), Regie: Markus Schleinzer
Stillleben (A 2012), Regie: Sebastian Meise
Outing (A 2011), Regie: Sebastian Meise, Thomas Reider