Politischea Prozesse in der Türkei

Überall Terroristen

In der Türkei finden massenhaft politische Prozesse statt, nach Angaben des Justizministeriums allein gegen 1 500 Personen, die unter dem vagen Verdacht stehen, einer Nebenorganisation der PKK anzugehören.

»Ez li virim«, »Ich bin hier«, sagt der zur Personenfeststellung aufgerufene Angeklagte. Der Vorsitzende Richter Ali AlÇik dreht ihm sofort das Mikrophon ab. Eine andere Sprache als Türkisch dürfe in dem Prozess nicht gesprochen werden, erklärt Alçik. Aus den Reihen der Verteidiger interveniert der Vorsitzende der Anwaltskammer von Istanbul, Mehmet Emin Aktar. Eine Sprache, die in der Türkei von 20 Millionen Menschen gesprochen werde, könne man nicht als »unbekannte Sprache« bezeichnen.
Alçik unterbricht ihn spitz, indem er darauf hinweist, dass er nicht von einer »unbekannten Sprache«, sondern von einer »anderen Sprache« gesprochen habe.
Auf der Pressebank dreht sich ein Mann mit grau melierten Haaren zu seinem Nachbarn um. Es ist Oral Çalışlar, ein altgedienter Kolumnist, der schon manches durchgemacht hat, inklusive Militärputsch, Gefängnis und Folter. Die türkische Justiz habe doch große Fortschritte gemacht, sagt Çalışlar. »Vor einem Jahr wurde noch von ­einer unbekannten Sprache gesprochen, nun ist es eine andere Sprache.«
Das Gerichtsgebäude von Silivri, wo dieser und eine Reihe anderer politischer Prozesse stattfinden, ist ein seltsamer Bau. Eigentlich ist es ein Gefängnis, das in den vergangenen Jahren etwa 60 Kilometer von Istanbul entfernt, in einer Einöde zwischen Weizenfeldern und Sonnenblumen, errichtet wurde. Man weiß nicht so genau, ob das Gericht ein Anbau zu dem Gefängnis sein soll oder umgekehrt.
Allen Fortschritten zum Trotz sieht es im Gerichtssaal ein wenig wie in alten Filmen über die Zeit nach dem Putsch von 1980 aus. Das macht schon die Zahl der Angeklagten. Vorn sitzen dicht gedrängt 140 Angeklagte beisammen, die sich in Untersuchungshaft befinden. Insgesamt werden allein in diesem Verfahren 205 Personen angeklagt. Sie sollen einer Nebenorganisation der PKK, der »Union der Gesellschaften Kurdistans« (KCK) angehören. In der Anklageschrift wird vielen einfach vorgeworfen, an der Gründung einer politischen Akademie durch die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) beteiligt gewesen zu sein. Zwar ist die BDP legal und ebenso die Gründung einer politischen Akademie, doch der Staatsanwalt ist davon überzeugt, dass die Akademie im Auftrag der KCK gegründet wurde. Was im Auftrag einer Terrororganisation geschieht, ist Terrorismus, so einfach ist die Argumentation, die in der Türkei in den vergangenen Jahren Tausende hinter Gitter gebracht hat.
Demnach könnte es auch ein Akt des Terrorismus sein, dass der 64jährige Verleger Ragıp Zarakolu bei der Eröffnung eine Rede gehalten hat. Der bärtige Verleger ist wie Çalişlar ein Urgestein der türkischen Linken. Das erste Mal stand er vor über 40 Jahren vor Gericht, damals wegen geheimer Beziehungen zu Amnesty International. Wenig später saß er zwei Jahre wegen eines Artikels über den Vietnam-Krieg im Gefängnis. Seither hat Zarakolu vor allem Bücher verlegt, zum Beispiel eine türkische Übersetzung von Franz Werfels »Die vierzig Tage des Musa Dagh« über das Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg.
Zarakolu wurde nach einigen Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen. Der internationale Druck war zu groß geworden. Unter anderem hatten einige Mitglieder des schwedischen Parlaments Zarakolu für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das Verfahren wurde dem Gericht offenbar zu brisant.

Ein Problem ist, dass es einfach zu viele politische Prozesse gibt. Die türkische Öffentlichkeit kommt schon nicht mehr hinterher, geschweige denn das Ausland. Das Interesse konzentriert sich allenfalls auf ein paar bekanntere Namen, wie die Journalisten Ahmet Şık und Nedim Şener. Als sie aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, war auch das Interesse der Medien an ihrem absurden Verfahren sofort erloschen. Der Richter sah dann keine Notwendigkeit, das Verfahren rasch zu einem Abschluss zu bringen, und vertagte die Verhandlung erst einmal um sechs Monate. Weil das Gericht keinen früheren Termin gefunden hat, müssen die verbliebenen Untersuchungshäftlinge weiter hinter Gittern bleiben. Wen kümmert das schon?
Allein in den verschiedenen KCK-Verfahren gibt es nach Angaben der prokurdischen BDP über 7 000 Beschuldigte, von denen sich ein großer Teil in Untersuchungshaft befindet. Das Justizministerium dementiert die Zahlen der BDP, kommt aber auch auf über 1 500 Personen unter KCK-Verdacht. Der Innenminister Naim Şahin fügt seinem Dementi auch gleich eine Drohung hinzu: »Wenn es notwendig ist, werden wir die Zahl der BDP auch noch erreichen.«
Der Unterschied in den Zahlen kommt nach Auskunft der BDP dadurch zustande, dass das Ministerium nur Anklagen wegen Mitgliedschaft in der KCK zählt. Nach dem von der AKP-Regierung eingeführten Antiterrorgesetz wird in der Türkei aber die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung genauso hart bestraft wie Mitgliedschaft. Außerdem sind Şahins Staatsanwälte offenbar bemüht, die Drohung des Ministers wahr zu machen. Ständig werden neue »Terroristen« gefunden.
Kaum zog der Abschuss eines türkischen Militärjets durch Syrien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich, wurden mit einem Schlag 71 hohe Gewerkschaftsfunktionäre festgenommen. Darunter befand sich der Vorsitzende der Konföderation der Gewerkschaften der Arbeiter des öffentlichen Sektors (KESK), Lami Özgen. Innerhalb des KESK am stärksten betroffen war die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen. Zwischen der KESK und der Regierung gab es dieses Jahr heftigen Streit, weil die Regierung des vielgepriesenen Wirtschaftswunderlandes Türkei Lohnerhöhungen unter der Inflationsrate wollte. Die Lehrergewerkschaft Egitim Sen hatte gar zwei Mal für einen Tag gestreikt. Außerdem hat die Eğitim Sen immer wieder Unterricht in der Muttersprache gefordert. Der Richter Ali AlÇık würde sagen, Unterricht in einer »anderen Sprache als Türkisch«. Aber natürlich geht es nicht um die »andere Sprache«, sondern um Terrorismus. Gegen 28 Gewerkschafter wurde schließlich Untersuchungshaft verhängt. Wenigstens kann Lami Özgen seinen Prozess in Freiheit abwarten.

Die KCK-Verfahren machen zwar den größten Teil der Terrorismusprozesse in der Türkei aus, doch nicht nur Kurden sind betroffen. In den Verfahren um die obskure rechte Terrorgruppe Ergenekon, die es wahrscheinlich nie gegeben hat, werden rund 400 Personen angeklagt. Wegen angeblicher Putschpläne stehen circa 350 Offiziere vor Gericht. Die Anklage stützt sich dabei auf Aufzeichnungen auf Disketten, die nachweislich nachträglich manipuliert wurden. In einem anderen Land wäre die Anklage vermutlich nie angenommen worden.
Das Wirken der Gerichte mit besonderen Vollmachten und ihrer Staatsanwälte ist in letzter Zeit selbst dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan unheimlich geworden. Als ein Staats­anwalt mit besonderen Vollmachten einen engen Mitarbeiter Erdoğans festnehmen lassen wollte, half nur ein rasch vom Parlament beschlossenes Gesetz, das Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Ministerpräsidenten von dessen Erlaubnis abhängig macht.
Dem folgte ein ganzes Reformpaket. Die Gründe für Untersuchungshaft wurden schärfer gefasst, die Paragraphen, die die Grundlage für die Gerichte mit besonderen Vollmachten bildeten, wurden aufgehoben, was allerdings nicht automatisch zu neuen Zuständigkeiten führt. Einige weitere Möglichkeiten für vorzeitige Entlassungen wurden eingeführt.
Sofort begannen die Freilassungen aus den hoffnungslos überfüllten türkischen Gefängnissen. Doch unter den wegen politischer Vergehen verurteilten Inhaftierten profitierten fast nur einige rechte Häftlinge davon. An Linken, Kurden und solchen Häftlingen, die der rechten Opposition gegen die Regierung zugerechnet werden, ging die Welle der Entlassungen fast spurlos vorbei. Von den 140 KCK-Häftlingen im Gefängnis von Silivri wurden 16 entlassen, darunter die prominente Professorin Büşra Ersanlı, die bis zu ihrer Verhaftung im Herbst der Kommission angehörte, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll.
Auch die Abschaffung der Gerichte mit besonderen Vollmachten ist in der Einöde von Silivri, wo sich Fuchs, Hase und Staatsanwalt Gute Nacht sagen, nicht so richtig angekommen. Auf der Richterbank sitzt jedenfalls noch immer Ali AlÇık und übt sich darin, Kurden das Mikrophon abzustellen. Ebenso beharrlich weist er den Vorwurf zurück, es gehe in diesem Verfahren um die BDP, während die Anklagebank von BDP-Funktionären nur so überquillt.
Lütfi Balbal ist einer davon. Nachdem so viele kurdische Parteien verboten worden seien, meint er, seien Parteiverbote heute nicht mehr populär, und effektiv seien sie ja auch nicht gewesen. Nun bleibe die BDP legal, dafür würden aber ihre aktiven Mitglieder als Terroristen angeklagt.