Die Wahlen in Libyen

Demokratie auf islamisch

In Libyen stimmten viele Wähler gegen die Islamisten, aber nicht gegen Islam in der Politik.

Das libysche Wahlergebnis ist in vielerlei Hinsicht eine Überraschung. Entgegen allen Befürchtungen haben die Islamisten keinen Sieg errungen. Die »Partei für Gerechtigkeit und Aufbau« der Muslimbrüder kam in vielen Orten nur auf zehn Prozent der Stimmen, allein in der Region Misrata/Bani Walid erhielt sie 22 Prozent. Trotzdem wurde sie die zweitstärkste Partei. Im Parlament wird sie 17 der 80 für Parteien reservierten Sitze einnehmen. Noch schlechter erging es den Radikalislamisten. Vor ihrem Erstarken hatten viele gewarnt, schließlich konnten Salafisten in Ägypten über 20 Prozent der Stimmen gewinnen.
In Libyen bildete in den neunziger Jahren die »Islamische Kampfgruppe« mit ihren Verbindungen zu al-Qaida eine ernstzunehmende Opposition gegen die Diktatur von Muammar al-Gaddafi. Doch hat ihnen ihr bewaffneter Kampf anscheinend keine Sympathien eingebracht. Die al-Watan-Partei von Hakim Belhadj, dem Vorsitzenden des Militärrats in Tripolis, erhielt keinen einzigen Sitz im Parlament.

Das Wahlergebnis bestätigt Umfragen der Garyounis-Universität in Bengasi vom vergangenen Herbst: 96,43 Prozent der Befragten wünschten sich einen demokratischen, zivilen Staat. Zivil, auf Arabisch madany, heißt aber nicht säkular. Gemeint sind vielmehr verlässliche Institutionen und Gesetze, also keine Sharia-Gerichte, die von Fall zu Fall überlegen, wie der Prophet entschieden hätte. Gesetze auf Basis der Sharia kann es gleichwohl geben. Genau das befürwortet der unangefochtene Sieger der libyschen Parlamentswahlen und nennt es »islamische Demokratie«. Das Wahlbündnis »Nationale Allianz«, das Mah­moud Jibril, der ehemalige Vorsitzende des Exekutivrats der Übergangsregierung, gegründet hat, konnte rund 60 Prozent der Stimmen für Parteien holen und erhält damit 39 Sitze im Parlament.
Dass aus dem Nichts eine einzelne politische Formation so viele Stimmen erhält, ist die zweite Besonderheit der Wahlen. Jibril weiß, wie man Kampagnen organisiert: Im Frühjahr vorigen Jahres schaffte er es, eine zögernde westlich-arabische Allianz zum Kriegseinsatz zu bewegen. Die Werbekampagne dazu war brillant, beispielweise die Großplakate mit einem zum Himmel rufenden Beduinen. »Wir haben einen Traum: Freiheit«, stand darauf in Englisch für ein internationales Publikum. Im Wahlkampf versprach Jibril die Schaffung eines Rechtsstaats, Sicherheit und Orientierung am Islam. Der Unterschied zu den Islamisten ist, dass der Islam bei ihm zwar im Programm steht, aber nicht Programm ist. Islamisten behaupten, sie zu wählen, sei eine religiöse Entscheidung. Ihre Weltanschauung ist in vielen Punkten antietatistisch. Das ist das Gegenteil der Haltung Jibrils. Nach allem, was man von ihm weiß, will er einen starken Staat.

Allerdings hat er sich deutlich für die Sharia als Quelle der Gesetzgebung ausgesprochen. Viel ändern muss er da nicht. Denn Gaddafis Diktatur war weitaus stärker religiös geprägt als die der nordafrikanischen und levantinischen Nachbarn. Insofern wird man das neue Libyen nicht daran messen können, ob die Sharia gilt, sondern wie viele ihrer Regeln angewendet werden. Mit Ausnahme Tunesiens gilt in allen Nachbarländern ein mehr oder weniger islamisch geprägtes Familienrecht. Aber nur in Libyen gibt es islamische Körperstrafen, die Huddud. Ihre Abschaffung wäre ein Indikator dafür, dass sich Libyen in Richtung eines weltlichen Staates bewegt.
Ob die aus 60 Parteien bestehende Allianz von Jibril überhaupt zusammenarbeiten kann, wird sich herausstellen. Zunächst müssen für eine Regierungsbildung Unabhängige gewonnen werden. Sie stellen laut Wahlgesetz 120 der 200 Abgeordneten. Eine weitere Besonderheit ist die starke Bündelung der Stimmen. In fast allen Wahlkreisen erhielten nur jeweils drei Parteien eine relevante Stimmenzahl. Im Parlament werden dennoch viele kleine Parteien vertreten sein, zumeist regionale, die in ihrer Region über 20 Prozent erhielten. Das Wahlverhalten scheint wenig individualisiert. Ob sich daraus eine hohe Kompromissbereitschaft im demokratischen Prozess ableiten lässt, wird sich zeigen.