Die Documenta in Kassel

Temporary Kassel

Mit Nerdbrille, Pressemappe und einem Schlafplatz im Stadtzentrum ist man bestens gerüstet für einen Besuch der Documenta.

Alle Wege nach Kassel führen zunächst in die beschauliche Parkanlage Wilhelmshöhe. Die nordhessische Stadt, die von sich selbst behauptet, die »Mitte Deutschlands« zu sein, leitet ihre Besucher zunächst an ihrem Zentrum vorbei ins Grüne. Das Bahnhofsfoyer ist bevölkert von Kunststudenten mit riesigen Brillengestellen mit Fensterglas, bildungsbürgerlichen Frührentnern in festem Schuhwerk und natürlich mit Kasselanern. Wer von hier ist, den erkennt man sofort. Während die Besucher ratlos in die Gegend gucken und dabei wahlweise die Sonderausgabe von Art oder ihre Handtasche fest umklammert halten, sehen die Bewohner der Stadt aus, als seien sie ganz normale Menschen, die mit den Kunsttouristen, die alle fünf Jahre in ihrer Mitte landen und nach 100 Tagen wieder verschwinden, irgendwie klarzukommen versuchen.
Mit der Straßenbahn vorbei an verödeten Sechziger-Jahre-Wohn- und Einkaufsstraßen und am ehemaligen Hauptbahnhof, der nun zum »Kulturbahnhof« erklärt wurde, erreicht man das im Rahmen der Documenta stattfindende Kunst- und Wohnprojekt »Temporary Home«. Eine Gruppe von 20 jungen Berlinern wohnt für einen Monat in einem leerstehenden Gebäude. Sven, Nadja, Jeruna und die anderen Projektteilnehmer sind in Kassel aufgewachsen, wenn auch nicht in der Innenstadt, so doch in Kasseler Vororten mit klangvollen Namen wie Kaufungen und Baunatal. Wie so viele, die nach dem Abitur ihr suburbanes Umfeld hinter sich gelassen haben, fahren sie nur noch zu Weihnachten und runden Geburtstagen in ihre alte Heimat. Jetzt, 15 Jahre später, beschäftigen sie sich im Zusammenhang eines interdisziplinären Projekts mit dem Thema »Wohnen und Migration«: Bis zum 11. August werden in einem leerstehenden Bürogebäude, das einst den Otto-Versand und einen Box-Club beherbergte, Konzerte, Ausstellungen und Performances präsentiert. In wechselnder Besetzung wird hier gewohnt und geschlafen.
»Mit Kassel hat das eigentlich nichts zu tun, auch wenn wir offiziell Teil des Kultursommers 2012 sind«, sagt Sven, der eine rote Kappe mit der Aufschrift »Freiwillig in Kassel!« trägt. Gemeinsam stoßen wir mit »Hütt«, einem »originalen nordhessischen Pils«, aufs Wochenende an.
»Who are you? Do you speak English?« fragt mich eine Italienerin mit starkem Akzent am nächsten Morgen im Pressezentrum der Documenta. Fast hätte ich vergessen, dass ich auch nur eine von vielen Besucherinnen bin. Ich reibe meine verschlafenen Augen, setze meine Nerdbrille auf und krame aus meiner Handtasche meine Akkreditierung heraus. Prompt kriege ich eine riesige Pressemappe in die Hand gedrückt, aus der sofort die Hälfte der Papiere herausfällt. »An Essay by Carolyn« sei auch dabei, sagt die Pressefrau. »Danke, ich mag lieber Katzen«, flüstere ich vor mich hin, während ich die Zettel auf dem Boden zusammensuche. Carolyn Christov-Bakargiev ist die Kuratorin der Ausstellung und bekennende Hundeliebhaberin, was bereits für viel Medienwirbel gesorgt hat. Mit reichlich Informationen im Gepäck mache ich mich auf den Weg in die Kunstgalaxie.
Die Documenta ist nichts für fußlahme, entscheidungsschwache Menschen wie mich. Diesmal werden nicht nur Arbeiten in der Documenta-Halle, dem Fridericianum (»the brain«) und im »Kulturbahnhof« ausgestellt. Auch im Naturkundemuseum Ottoneum, der Orangerie und in der gesamten Karlsaue werden Werke gezeigt. Während ich den Documenta-Plan voller Pfeile, Zahlen und Buchstaben aufmerksam studiere (»Ist das schon Kunst?«), bekomme ich Kopfschmerzen und werde immer nervöser. Wo, was und wen soll ich mir angucken? Kurzerhand beschließe ich, meinen Besuch mit einer Ses­sion im Sanatorium des mexikanischen Künstlers Pedro Reyes zu beginnen. Acht Behandlungsmethoden sind in seiner »provisorischen Klinik« im Angebot. Man kann den Urschrei proben, einem Unbekannten ein dunkles Geheimnis offenbaren oder einen Partnerschaftstest machen. Gemeinsam finden Laientherapeut und Laienpatient einen Weg aus den Krisen des Alltags.
Reyes hat sein Quartier in einem der vielen Holzhäuschen in der Karlsaue. Junges, freundliches Personal im weißen Kittel nimmt mich in Empfang. Mit »Stress und innere Unruhe« umschreibe ich etwas platt meine Beschwerden. Da solle ich es doch mal mit »Mudras« probieren, einer Art Finger-Yoga mit spirituellem Einschlag. Ich setze mich mit Sylvain, dem französischen Hobbytherapeuten, und einer siebenköpfigen Kleingruppe in einen Stuhlkreis. Da sind sie wieder, die Nerds und Bildungsbürger. Ich schließe die Augen und fasse meine Sitznachbarn an den Händen. Wir kneten unsere Finger, atmen im Gleichtakt und bewegen uns langsam vor und zurück. 15 Minuten später fühle mich einerseits ein bisschen verschaukelt, andererseits aber auch deutlich besser. Das Sanatorium funktioniert wie eine Therapie mit Placebo­effekt und ist doch viel günstiger. Man brauche noch nicht mal ein Documenta-Ticket, um sich hier einweisen zu lassen, wird mir versichert.
Tiefenentspannt trotte ich weiter zum nächsten Holzhäuschen. Und schnell befindet man sich in einem Traum, wie er in einer Fallbeschreibung Sigmund Freuds nicht abgefahrener geschildert werden könnte. Die Installation »Here and There« der Italienerin Anna Maria Maiolino, die seit vielen Jahrzehnten in Brasilien lebt, ist ein Fest für die Sinne. Im Garten kreischen tropische Vögel aus unsichtbaren Lautsprechern, die in den Baumwipfeln installiert sind. Die Möbel im Erdgeschoss der Hütte sind von läng­lichen Batzen aus ungebranntem Ton übersät. Auf und unter dem Bett, im Küchenschrank und in der Speisekammer: Überall schlängeln sich braune, weiße und beigefarbene Würste, Schwänze oder Würmer. Die Assoziationen sind so widersprüchlich wie die Antwort auf die Frage, ob man hier im Schlaraffenland oder mitten in einem Albtraum gelandet ist. Die Türen zu den Zimmern im ersten Stock sind von rankenden Pflanzen blickdicht zugewuchert. Was sich dahinter verbirgt, bleibt das Geheimnis der Künstlerin. Faszinierend ist auch der Film, der im Wohnzimmer (das mit den langen, dicken Würsten) zu sehen ist: Zwei Hände schubsen ein rohes Ei auf einem Tisch hin und her. Geht es kaputt? Handelt es sich um ein Symbol für die Zerbrechlichkeit des Lebens?
Kunst, die sinnlich erfahrbar ist und sich ­einer konkreten Interpretation entzieht, davon möchte ich mehr sehen. Ich verlasse die Karls­aue in Richtung Hugenottenhaus. Ähnlich wie im »Temporary Home« der Berliner wird auch hier ein leerstehendes Gebäude genutzt und gestaltet. 1826 erbaut, diente das heute denkmalgeschützte Gebäude zunächst als Wohnhaus für die französischen Immigranten und später als Hotel. Seit Anfang der siebziger Jahre steht es leer. Theaster Gates, Künstler und Aktivist aus Chicago, hat es mit Materialen aus Abbruchhäusern aus Chicago und Kassel bewohnbar gemacht – für sich und seine Helfer, internationale Künstler und arbeitslose Kasselaner, die in Bauberufen ausgebildet werden. Heute besitzt das fertige, unfertige Hugenottenhaus einen morbiden Charme. Ein alter Fensterladen aus weißem Wellblech verdeckt die Reste der Blümchentapete. Holzreste aus Kassel und Chicago werden zu neuen Möbelstücken zusammengebaut und vermitteln dem Betrachter ein seltsam gebrochenes Erscheinungsbild. Man möchte sofort einziehen. Doch wo sind die Bewohner? Die Betten sind gemacht, die Räume leer. In der Küche treffe in Andrès aus Kolum­bien, einer der wenigen Künstler, der nach einem Monat Documenta noch geblieben ist. Wir trinken Kaffee, und er erzählt mir begeistert von der Party, die hier zur Eröffnung stattgefunden hat. Ich bin wohl einfach zu spät gekommen.
Enttäuscht nehme ich den Ausgang zum Hinterhof. Wohin jetzt? Ein dunkler Gang führt in einen Baucontainer. Na dann, ab ins Kaninchenloch! Wenige Schritte weiter befinde ich mich in einer Black Box. Um mich herum summt, gurrt und grunzt es. Tastende Hände streifen mich, während ich mich durch den lichtleeren Raum unbekannter Größe vorwärts taste. Die Wirklichkeit draußen ist nur noch eine vage Erinnerung. Wie viele Menschen sind außer mir noch hier? Wer gibt hier Töne von sich, wer ist wie ich stummer Zuhörer, und wer stimmt irgendwann fast automatisch in den animalisch anmutenden Geräuschchor ein? Irgendwann, genauer nach sieben Minuten, denn so lange dauert es, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erahne ich Umrisse, bald sind einzelne Personen zu erkennen. Ich hocke mich auf den Boden und lausche. Die Performance des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal nimmt allmählich Gestalt an. Als neu hinzukommende Besucher mehrfach über meine Füße stolpern, verlasse ich den Raum.
Auf den Straßen von Kassel ist der graue Sommertag nun bereits weit fortgeschritten. In der Fußgängerzone der Treppenstraße und den umliegenden Kaufhäusern, in Bausünden der sechziger und neunziger Jahre, drängeln sich die Menschen um die besten Angebote des »summer sale«. Hier gelingt es nicht, Kasselaner und Kunstpublikum voneinander zu unterscheiden. Vor der Galeria Kaufhof steht ein ockergelbes Schild. Auch hier wird Kunst gezeigt, aber wo? Im Untergeschoss weisen mir kichernde Mädchen den Weg. »Das dahinten«, das sei wohl die »Kunst«. Jetzt muss auch ich lachen. Die Brasilianerin Renata Lucas hat auf einer Fläche neben der Schreibwarenabteilung einen Ausschnitt einer riesigen Pyramide aus Beton eingegossen – Überreste einer begrabenen Zukunft und ein ironischer Kommentar zur Stadtplanung des 20. Jahrhunderts. Am meisten aber gefällt mir, dass das Warenhaus nicht durch ein dekoratives Werk bereichert wurde, das im schlimmsten Fall noch verkaufsfördernd wirken soll. Hier hat ein hässliches Etwas in seiner Mitte Platz genommen, das wohl vor allem Verkaufsfläche stiehlt. Ohne bisher Geld ausgegeben zu haben, beschließe ich, meinen Documenta-Rundgang mit einem Besuch des »Kulturbahnhofs« zu beenden.
Wie die meisten Nerds und Bildungsbürger beginne ich bei der Installation »Alter Bahnhof Video Walk« des kanadischen Künstlerduos Janet Cardiff und George Bures Miller. Eine halbe Stunde wandere ich mit Kopfhörern und iPod durch das klassizistische Gebäude. Der Film und die Geräusche, die ich dazu höre, verwirren meine Wahrnehmung. Einerseits bin ich zwar weiterhin Teil meiner Umgebung – dort, wo ich gerade stehe, ist gleichzeitig auch der Film situiert –, andererseits wird mein Bildschirm von Geistern bevölkert. Während ich im Bahnhofswartesaal sitze, läuft draußen eine Bläserkapelle vorbei, die ich laut und deutlich höre und auf meinem kleinen Screen auch sehen kann. Und doch ist sie gar nicht vorhanden. Als ich am Gleis 13 stehe und einen »echten« Regionalzug einfahren sehe, berichtet die Stimme aus dem Off von den Transporten von Juden, die seit 1941 an dieser Ort und Stelle stattgefunden haben. »What are you doing with the memories you don’t want?« Wie wär’s zum Beispiel mit einer Gedenktafel?
Die Documenta erinnert nicht nur mit dieser Arbeit an die NS-Geschichte Kassels. Erstaunlich, dass das erst im Jahr 2012 passiert. Alle an der Ausstellung teilnehmenden Künstler wurden von Carolyn Christov-Bakagiev ins Kloster Breitenau eingeladen, eine deutsche Institution etwa 15 Kilometer von Kassel entfernt. Das ehemalige Benediktinerkloster aus dem 12. Jahrhundert diente ab 1874 als gefängnisähnliches Arbeitshaus und während des Nationalsozialismus als Konzentrations- und Straflager. Von 1953 bis 1972 war hier ein autoritär geführtes Mädchenheim untergebracht. Heute existieren in Breitenau eine 1984 eröffnete NS-Gedenkstätte und eine offene psychiatrische Einrichtung nebeneinander.
Viele Künstler haben die Geschichte des Ortes in ihre Arbeit aufgenommen, manchmal didaktisch-dokumentarisch und eher langweilig. Anderen Arbeiten gelingt es, das Thema in eine zeitgenössische Form zu übersetzen. Neben dem Videowalk beeindruckt vor allem der Film »Muster« von Clemens von Wedemeyer, der im Nordflügel des Hauptbahnhofs zu sehen ist. Auf drei Projektionsflächen laufen parallel Bilder aus verschiedenen Zeitebenen nebeneinander. Gezeigt werden die Befreiung des Lagers 1945, die Dreharbeiten zu dem Film »Bambule« in den siebziger Jahren, als das Heim eine Erziehungsanstalt war, die von Ulrike Meinhof und anderen kritisiert wurde, und schließlich der Gedenkstättenbesuch einer Schulklasse aus bocklosen Teenagern in den neunziger Jahren. Immer wieder tauchen Bilder der heutigen Bewohner Breitenaus auf, es sind Psychiatriepatienten, die schnell wieder hinter einer Gardine am vergitterten Fenster verschwinden oder in ihren Trakt gebracht werden. Nach einer Stunde des Filmschauens werde ich plötzlich aufgescheucht. »Die Ausstellung macht gleich zu«, verkünden zwei Männer in Alltagskleidung mit Mitarbeiterschildchen am Revers.
Alle aussteigen, Türen schließen. Draußen ist es dunkel geworden. Der Documenta-Shop im weißen Baucontainer ist verschlossen und wird von Videokameras überwacht. Gegenüber dem Bahnhofvorplatz erstrahlen die Leuchtbuchstaben auf dem Dach des Parkhauses: »Vaterland«. Der Tag 36 der Documenta ist zu Ende. Ich setze meine Nerdbrille ab, schmeiße die Pressemappe weg und mache mich auf den Weg ins »Temporary Home«, wo ich heute übernachten werde. Die Musik ist laut und gut, und die Aftershow-Party bereits in vollem Gange. Kasselaner, Exil-Berliner, Nerds und Bildungsbürger – alle sind an diesem Abend gekommen und bereits dabei, gemeinsam ihre »Hütt«-Biere zu leeren.