Abdruck aus »Selbstmord«

Der letzte Schlag

Eine Ansprache an einen Selbstmörder

An einem Samstag im August verlässt du in Tenniskleidung deine Wohnung. Deine Frau begleitet dich. In der Mitte des Gartens lässt du sie wissen, dass du deinen Tennisschläger im Haus vergessen hast. Du kehrst zurück, um ihn zu holen, doch statt dich dem Schrank im Flur zuzuwenden, wo du den Schläger normalerweise aufbewahrst, steigst du hinunter in den Keller. Deine Frau bemerkt davon nichts, sie ist draußen geblieben, es ist ein schöner Tag, sie genießt die Sonne. Einige Augenblicke später hört sie einen Schuss. Sie stürmt ins Haus, sie schreit deinen Namen, merkt, dass die Tür zum Keller offen steht, läuft hinab und findet dich. Du hast dir eine Kugel in den Kopf geschossen, mit einem Gewehr, das du sorgfältig dafür präpariert hattest. Du hast auf dem Tisch einen Comicband aufgeschlagen liegen lassen. In ihrer Erschütterung stützt sich deine Frau auf den Tisch, das Buch fällt herunter und klappt zu, bevor sie begreifen kann, dass darin deine letzte Mitteilung war.
Ich bin niemals in diesem Haus gewesen. Dennoch kenne ich seinen Garten, das Erdgeschoss und den Keller. Ich habe diese Szene hundert Mal gesehen, immer in derselben Kulisse, die ich schon beim ersten Mal vor Augen hatte, als man mir von deinem Selbstmord berichtete. Das Haus stand in einer Straße, es hatte ein Dach und eine rückwärtige Fassade. Aber nichts davon existiert wirklich. Es gibt den Garten, wo du ein letztes Mal in die Sonne trittst und wo deine Frau auf dich wartet. Es gibt die Fassade, auf die sie zuläuft, nachdem sie den Schuss hört. Es gibt den Eingang, wo sich der Schläger befindet, die Kellertür und die Treppe. Und schließlich gibt es den Keller, wo dein Körper liegt. Er ist unversehrt. Es ist nicht so, wie man mir sagte. Dein Schädel ist nicht explodiert. Du siehst aus wie ein junger Tennisspieler, der sich nach einem Match auf dem Rasen ausruht. Man könnte meinen, du schläfst. Du bist 25. Du weißt jetzt mehr über den Tod als ich.
Deine Frau stößt einen Schrei aus. Niemand außer dir ist da, der ihn hören könnte. Ihr seid allein im Haus. Sie wirft sich weinend auf dich und schlägt vor Liebe und Wut auf deine Brust ein. Sie nimmt dich in ihre Arme und spricht zu dir. Sie schluchzt und stürzt sich auf dich. Ihre Hände gleiten über den kalten, feuchten Kellerboden. Ihre Finger kratzen in der Erde. Sie verharrt eine Viertelstunde so und spürt deinen Körper kalt werden. Das Klingeln des Telefons reißt sie aus ihrer Lähmung. Sie findet die Kraft, um hinaufzusteigen. Es ist der, mit dem ihr zum Tennis verabredet wart. »Hallo, was ist los? Ich warte auf euch.« »Er ist tot. Tot«, antwortet sie.
Hier bricht die Szene ab. Wer hat deinen Körper aufgehoben? Die Feuerwehr? Die Polizei? Hat ein Gerichtsmediziner ihn obduziert, weil ein Selbstmord auch ein getarnter Mord sein könnte? Gab es ein Verhör? Wer hat entschieden, dass es ein Selbstmord war und kein Verbrechen? Hat man deine Frau vernommen? Sprach man behutsam mit ihr oder stand sie unter Verdacht? Kam zum Leiden an deinem Verschwinden noch der Schmerz der Verdächtigung hinzu?
Ich habe deine Frau nicht wiedergesehen, ich kannte sie kaum. Ich bin ihr nur vier oder fünf Mal begegnet. Als ihr geheiratet habt, standen wir nicht mehr in Kontakt miteinander. Ich sehe ihr Gesicht vor mir. Seit 20 Jahren hat sie dasselbe. Mein Bild von ihr ist nach der letzten Begegnung erstarrt. Das Gedächtnis friert die Erinnerungen ein wie Fotos es tun.
Du hast in drei Häusern gelebt. Als deine Mutter mit dir schwanger war, bewohnten deine Eltern eine kleine Wohnung. Dein Vater wollte nicht, dass seine Kinder in beengten Verhältnissen aufwuchsen. Er sagte »meine Kinder«, obwohl er nur eines hatte. Mit deiner Mutter besichtigte er ein halb verfallenes Schloss, das einem Oberst der Fremdenlegion im Ruhestand gehörte; dieser hatte nie darin gewohnt, wegen der Bauarbeiten, die er für nötig hielt, um es bewohnbar zu machen. Dein Vater war als Leiter eines Bauunternehmens vom Umfang der ausstehenden Arbeiten wenig beeindruckt. Deiner Mutter gefiel der Park. Im April sind sie eingezogen. Am Weihnachtstag bist du in einem Krankenhaus zur Welt gekommen. Eine Hausangestellte sorgte dafür, dass im Schloss ständig drei Kaminfeuer brannten: eines in der Küche, eines im Wohnzimmer und eines im Zimmer deiner Eltern, wo auch du während der ersten zwei Jahre schliefst. Als dein Bruder geboren wurde, hatten die Bauarbeiten noch immer nicht begonnen. Ihr habt noch weitere drei Jahre in dieser luxuriösen Unwägbarkeit gelebt, bis zur Geburt deiner Schwester. Gerade als deine Eltern beschlossen, eine komfortablere Bleibe zu suchen, hat dein Vater deiner Mutter verkündet, er werde sie verlassen. Sie fand ein Haus, das kleiner und weniger hübsch war als das Schloss, dafür heimeliger und gemütlicher. Dort hast du dein zweites Zimmer bekommen, das du so lange bewohntest, bis du mit deiner Frau zusammenzogst. Du warst 21. In eurem Häuschen war dein drittes Zimmer. Das letzte.
Als ich dich zum ersten Mal sah, befandest du dich in deinem Zimmer. Du warst 17 Jahre alt. Du lebtest im Haus deiner Mutter, in der ersten Etage, zwischen dem Zimmer deines Bruders und dem deiner Schwester. Du verließt diesen Raum nur selten. Die Tür war immer abgeschlossen, selbst wenn du da warst. Dein Bruder und deine Schwester erinnern sich nicht, jemals in deinem Zimmer gewesen zu sein. Wenn sie dir etwas zu sagen hatten, riefen sie es durch die Tür. Niemand betrat dein Zimmer, um Ordnung zu schaffen, das hast du selbst erledigt. Ich weiß nicht, warum du aufgestanden bist und mir geöffnet hast, als ich klopfte. Du hast nicht gefragt, wer da sei. Woran hast du gemerkt, dass ich es war? An der Art, wie unter meinen Schritten die Dielen knarrten? Die Vorhänge waren zugezogen. Ein rotes Licht hat sanft den Raum erleuchtet. Du hast »I Talk to the Wind« von King Crimson gehört und geraucht. Ich kam mir vor wie in einem Nachtlokal. Draußen war helllichter Tag.
Deine Frau hat sich im Nachhinein erinnert, dass der Comic, den du auf den Tisch gelegt hattest, aufgeschlagen war, bevor er herunterfiel. Dein Vater hat dann Dutzende von Exemplaren gekauft; er verschenkt sie an alle und jeden. Er kennt die Texte und Bilder des Buches auswendig; eigentlich passte es nicht zu ihm, aber irgendwann identifizierte er sich schließlich damit. Er sucht nach der Seite und auf der Seite nach dem Satz, den du ausgewählt haben könntest. Er notiert seine Gedanken in einem Ordner, der auf seinem Schreibtisch steht und dessen Rücken den Schriftzug trägt: »Selbstmord/Vermutungen«. Wenn man den Schrank zur Linken seines Schreibtischs öffnet, findet man darin ein Dutzend Ordner im gleichen Format und mit derselben Aufschrift voll handschrift­licher Seiten. Er zitiert die Sprechblasen des Comic, als seien sie Prophezeiungen.
Du hast selten Unrecht gehabt, denn du hast wenig gesprochen. Du hast wenig gesprochen, weil du wenig ausgegangen bist. Wenn du ausgingst, dann hörtest und schautest du zu. Jetzt, da du nicht mehr sprichst, wirst du immer im Recht sein. Eigentlich sprichst du noch immer, durch jene, die wie ich dich wieder aufleben lassen und dich befragen. Wir hören deine Antworten und bewundern ihre Klugheit. Und wenn die Tatsachen deine Aussagen widerlegen, beschuldigen wir uns selbst, sie falsch interpretiert zu haben. Dir die Wahrheiten, uns die Fehler.
Du lebst noch genauso lange wie jene, die dich kannten. Mit dem letzten von ihnen wirst du sterben. Es sei denn, einige von ihnen erhalten dich in Form von Wörtern und Sätzen in der Er­innerung ihrer Kinder aufrecht. Wie viele Generationen lang wirst du so leben, als gesprochene Person?
Du bist nach Paris zu einem Konzert gefahren. Am Ende des ersten Teils hat sich der Sänger die Adern aufgeschnitten, und sein Arm, der kreisförmige Bogen beschrieb, verspritzte das Blut bis in die ersten Reihen. Deine braune Lederjacke bekam ein paar Tropfen ab; als sie trockneten, mischten sie sich in die Farbe der Jacke. Nach dem Konzert bist du mit den Freunden, die dich begleiteten, in eine Bar gegangen, deren Namen du später vergessen hast. Du hast stundenlang mit Unbekannten gesprochen. Danach seid ihr auf der Suche nach anderen Lokalen durch die Straßen gelaufen, doch alles war geschlossen. Ihr habt euch auf die Bänke eines Platzes in der Nähe des Bahnhofs Saint-Lazare gelegt und die Formen der Wolken gedeutet. Um sechs Uhr habt ihr gefrühstückt. Um sieben habt ihr den ersten Zug zurück nach Hause genommen. Als deine Freunde am nächsten Tag wiederholten, was du zu den Unbekannten im Café gesagt hattest, konntest du dich an nichts erinnern. Es war, als hätte ein anderer in dir gesprochen. Du konntest weder deine Worte noch deine Gedanken wiedererkennen, aber du mochtest diese Worte umso mehr. Es hätte oft genügt, dass ein anderer an deiner Stelle deine Äußerungen macht, damit du sie hättest mögen können. Du hast dir notiert, was man dir erzählte. Vom Text, den du niederschriebst, warst du zweifach der Urheber.
Dein Leben war eine Vermutung. Diejenigen, die alt sterben, sind ein Brocken Vergangenheit. Man denkt an sie und sieht, was sie waren. Man denkt an dich und sieht, was du hättest sein können. Du warst und bleibst ein Brocken Möglichkeiten.
Dein Selbstmord war das Wichtigste, was du in deinem Leben gesagt hast, aber du wirst die Früchte davon nicht ernten.
Bist du überhaupt tot, da ich doch zu dir spreche?
Wenn du noch leben würdest, wären wir Freunde? Es gab andere, die mir näher waren. Aber die Zeit hat mich unmerklich von ihnen entfernt. Ein Anruf würde genügen, um alles wiederzubeleben. Doch keiner von uns riskiert die Enttäuschung eines Wiedersehens. Dein Schweigen ist Beredsamkeit geworden, während jene, die noch sprechen können, stumm bleiben. Ich denke nicht mehr an die, denen ich so nahe war. Du aber, damals so fern, distanziert und dunkel, strahlst jetzt in meiner Nähe. Wenn ich Zweifel habe, bitte ich dich um deine Meinung. Deine Antworten befriedigen mich mehr als die, welche die anderen mir geben könnten. Du begleitest mich treu, wo ich auch bin. Tatsächlich sind sie die Verschwundenen. Du bist der große Gegenwärtige.
Du bist ein Buch, das zu mir spricht, wenn ich es wünsche. Dein Tod hat die Geschichte deines Lebens geschrieben.
Du machst mich nicht traurig, sondern schwer. Du stehst meiner unverbesserlichen Leichtigkeit im Weg. Wenn ich zu sprunghaft bin und mir aus irgendeinem Grund dein Gesicht erscheint, gebe ich den Leuten um mich herum wieder Bedeutung. Die Dinge nehmen Konturen an, die ich sonst kaum an ihnen wahrnehme. Ich genieße an deiner Stelle, was du nicht mehr kennst. Selbst tot, machst du mich lebendiger.
Mit fünf Jahren konntest du dir noch keinen Pullover anziehen. Obwohl er zwei Jahre jünger war, hat dein Bruder dir gezeigt, wie man es macht. Dein Vater hat gewitzelt, du könnest dir an ihm ein Beispiel nehmen, und hat dich am Ende einen Stümper genannt. Es war demütigend. Dein Bruder, der dich genauso bewunderte wie deinen Vater, saß zwischen zwei Autoritäten. Da er niemanden beleidigen wollte, sonnte er sich nicht in der Bemerkung deines Vaters. Seine Bescheidenheit erniedrigte dich vollends.
Du ruhst allein in einem Grab aus schwarzem Stein, auf dem in Goldlettern dein Vorname und dein Nachname eingraviert sind. Darunter kann man den Tag deiner Geburt und den deines Todes lesen, 25 Jahre trennen den einen vom anderen.
Wenn jemand mir von einem Selbstmord berichtet, denke ich an dich. Doch wenn mir jemand erzählt, dass einer an Krebs gestorben ist, denke ich nicht an meinen Großvater oder meine Großmutter, die auch daran gestorben sind. Sie teilen diesen Tod mit Millionen von anderen. Du bist der Eigentümer des Selbstmords.
Eine Ruine ist ein ästhetisches Zufallsobjekt. Ihre Schönheit ist keine gemachte. Man produziert keine Ruine, man hält sie nicht instand. Eine Ruine neigt zum Fall und Verfall. Das Schönste ist, was inmitten der Trümmer stehen bleibt. Die Erinnerung an dich ist das Aufragende, dein Körper das Verfallende. Dein Phantom hält sich in meiner Erinnerung aufrecht, während dein Skelett in der Erde zerfällt.
Es gefiel dir, an einem 25. Dezember geboren zu sein: »Alles feiert, und niemand bemerkt, dass es auch mein Festtag ist. Dass man mich vergisst, erspart mir den Zwang, glänzen zu müssen.«
Ein Mann hat einmal »Ich liebe dich« zu dir gesagt. Dieser Mann war nicht ich. Zu deinen Lebzeiten hätte ich nicht daran gedacht, aber heute könnte ich dasselbe sagen, auch wenn es sich nicht um dieselbe Liebe handelt wie jene, die man dir damals erklärte. Meine Worte kommen zu spät. Sie hätten nichts an deiner Entscheidung geändert, doch sie hätten meine Erinnerung verwandelt. Jemanden nach seinem Tod zu lieben, ist das Freundschaft?
Ich kenne nur ein einziges Foto von dir. Ich habe es an deinem Geburtstag gemacht. Du warst bei uns zu Hause. Meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken. Ich hatte meinen Fotoapparat schon bereitgelegt, damit du die Szene für die Aufnahme nicht mehrmals würdest spielen müssen. Ich habe dich fotografiert, als du die Kerzen ausgeblasen hast. Ohne Blitz. Das Bild ist unscharf. Es ist schwarzweiß. Deine Wangen sind gewölbt von deinem Atem, deine Lippen zusammengepresst, um die Luft auszustoßen. Der Ausschnitt zeigt nur dich, man sieht nicht, was dich umgibt. Du trägst einen großen Wollpullover. Das Leben weicht aus deinen Lungen, um die Flammen zu löschen. Du siehst glücklich aus.
Weil du jung gestorben bist, wirst du niemals alt sein.
Dein Großvater sprach noch weniger als du. Er lächelte still, wenn man ihn mit seiner Angelrute die Bäume entlang zum Flussufer gehen sah, das den Park begrenzte und wo er den Nachmittag verbrachte. Eines Tages turnte ich auf den Ästen herum, die über das Wasser ragten, und meine Armbanduhr fiel hinein. Jahre später, während eines trockenen Sommers, führte der Fluss kaum Wasser, und dein Großvater fand die Uhr wieder. Ich habe sie aufgezogen. Sie fing wieder an zu laufen. Du warst bereits zwei Jahre tot.
Deine Freundin, deren Stiefvater ein großes Hotel leitete, hatte dir ein Praktikum für den Sommer verschafft. Du hast als Türsteher und im Reinigungsdienst gearbeitet. Ich konnte mir dich schwer in einer Portiersuniform vorstellen, mit einem Umhang aus vergangenen Zeiten und einer rotschwarzen Kappe. Beim Säubern der Zimmer hast du manchmal ungewöhnliche Dinge gefunden. Einmal hast du im Nachtschränkchen eines Mannes, den du als »den Bänker« ausgemacht hattest, ein in Folie verschweißtes Päckchen mit Schwulenpornos und einem Dildo entdeckt, sie waren unbenutzt. Du hast mir alles gezeigt. Du hattest nichts geöffnet. Hat man es nach deinem Tod wiedergefunden? Wie hat man seine Gegenwart in deiner Wohnung gedeutet?
Du hast mir oft vom Buch »Die Ruine der Familie Garnieri« erzählt. Sein Autor, Prospero Miti, las seine Bücher nie im gedruckten Zustand, sondern nur die Korrekturfahnen. Einmal las er ausnahmsweise doch ein bereits gedrucktes Buch und bemerkte, dass die Reihenfolge der Kapitel nicht dem entsprach, was er geschrieben hatte. Da er das Buch aber so mochte, wie es war, verlangte er keine Korrektur der Neuauflage. Du warst auf diese Anekdote gestoßen, nachdem du das Buch bereits gelesen hattest. Du wurdest nicht müde, es wieder und wieder zu lesen, um die ursprüngliche Folge herauszufinden.
Du hast den Fahrstuhl genommen, um herunter-, aber nicht, um hinaufzufahren.
Du hast geglaubt, mit dem Älterwerden würdest du weniger unglücklich sein, weil du dann Gründe hättest für deine Traurigkeit. Da du noch jung warst, war deine Verzweiflung bodenlos, da du sie für unbegründet hieltst.
Dein Selbstmord war von skandalöser Schönheit.
Einmal bist du im Winter allein zu Pferd aufgebrochen, um querfeldein zu reiten. Es war vier Uhr nachmittags. Die Nacht fiel herein, und du warst kilometerweit vom Gestüt entfernt. Ein Gewitter war im Anzug. Es brach los, während dein Pferd über trostlose Felder galoppierte. In der Ferne zeichnete sich schwarzblau die Silhouette der Stadt ab. Blitze und Donner schreckten das Tier nicht. Dich dagegen setzte die Gewalt des Unwetters unter Hochspannung. Du warst eins mit dem Tier, dessen Geruch vom Regen verstärkt wurde. Du brachtest das letzte Stück in einer wasserdurchtränkten Finsternis hinter dich, die Hufe des Pferdes peitschten mit jedem Schritt die schwere, feuchte Erde.
Du hast lieber stehend in einer Buchhandlung als sitzend in einer Bibliothek gelesen. Du wolltest die Literatur von heute entdecken, nicht die von gestern. Die Vergangenheit den Bibliotheken, die Gegenwart den Buchhandlungen. Und doch interessierten dich die Toten mehr als die Zeitgenossen. Du hast vor allem Autoren gelesen, die du »die lebenden Toten« nanntest: gestorbene Schriftsteller, die noch immer veröffentlicht werden. Für die Vergegenwärtigung des Wissens von gestern vertrautest du auf die Ver­leger. Du glaubtest nicht an wundersame Entdeckungen vergessener Schriftsteller. Du meintest, die Zeit erledige die Auslese, und dementsprechend solle man eher Autoren der Vergangenheit lesen, die heute verlegt werden, als Autoren von heute, die morgen vergessen sein werden.
In der Stadt gab es zwei Buchhandlungen. Die kleine war besser als die große, aber in der großen war es eher möglich zu lesen, ohne sich zum Kauf genötigt zu fühlen. Es gab mehrere Verkäufer und mehrere Räume, keiner lauerte den Kunden auf. In der kleinen spürtest du den Blick des Buchhändlers auf dir. Dort gingst du nicht hin, um Bücher zu entdecken, sondern um die zu kaufen, die du bereits ausgewählt hattest.
Einmal habe ich gehört, wie du einen alten Bauern imitiertest, der hinter dem Haus deiner Mutter lebte und der die Begrüßungsformel »Wie geht’s, wie steht’s« auf die Kurzform »Wehweh« brachte. Du bist auf ihn zugegangen und hast die Hand ausgestreckt, um ganz normal Guten Tag zu sagen, und hast deinem Gegenüber im letzten Moment mit derselben Formulierung geantwortet. Nichts hatte diesen Scherz angekündet. Du hast das Spiel auch nicht ein zweites Mal gemacht, um ihn noch einmal zum Lachen zu bringen. Du warst keiner, der auf Bestellung amüsierte.
Du behauptetest, abends kleiner zu sein als morgens, weil dir die Schwerkraft die Wirbel zusammenstauche. Du sagtest, die Nacht gebe deinem Körper wieder, was der Tag ihm nehme.
Du hast helle amerikanische Zigaretten geraucht. Dein Zimmer war erfüllt von ihrem süßlichen Geruch. Dich rauchen zu sehen weckte Lust, selber zu rauchen. In deiner Hand war eine Zigarette ein Kunstobjekt. Mochtest du das Rauchen oder deine Selbstdarstellung als Raucher? Du konntest perfekte dichte, schwere Kringel formen, die etwa zwei Meter lang in der Luft schwebten, bevor sie einen Gegenstand einhüllten und sich an ihm auflösten. Ich erinnere mich, wie sie nachts im Gegenlicht einer Lampe ihre Bahnen zogen. Als ich dich zum letzten Mal sah, hattest du aufgehört zu rauchen, aber nicht zu trinken. Du hast dir wohlgefällig über den Bauch gestrichen und dir dazu gratuliert, runder geworden zu sein, obwohl der Unterschied kaum sichtbar war. Deine Silhouette war unversehrt.
Eine Erklärung für deinen Selbstmord? Keiner hat sich daran gewagt.
Man kann nicht sagen, dass du getanzt hast. Die Musik konnte um dich herum dröhnen, die Körper vom Lauf der Bässe mitgerissen sein, doch die Musik drang nicht in dich. Du hast Schritte skizziert, aber du spieltest eher Tanzen, als dass du tanztest. Du hast immer allein getanzt. Wenn ein Blick den deinen kreuzte, hast du gelächelt wie einer, den man in einer absurden Situation ertappt.
Deinem Selbstmord gingen keine fehlgeschlagenen Versuche voraus.
Du hast den Tod nicht gefürchtet. Du bist ihm zuvorgekommen, ohne ihn wirklich zu ersehnen. (Wie soll man ersehnen, was man nicht kennt?) Du hast nicht das Leben verneint, sondern deine Vorliebe für das Unbekannte bejaht und darauf gewettet, dass es, wenn es auf der anderen Seite etwas geben sollte, besser sei als hier.
Wenn du ein Buch last, blättertest du immer wieder auf die Seite mit der Überschrift »Vom selben Autor«. Du wusstest nicht, ob du die anderen Werke wirklich lesen wolltest, aber du stelltest dir gern vor, was sich hinter ihren Titeln verbarg. Du hattest »Aufenthalt auf der Erde« nicht gelesen, weil du befürchtetest, die Gedichte der Sammlung seien weniger wert als ihr Titel. Dir unbekannt hatten sie für dich mehr Gewicht, als wenn du sie gelesen und für enttäuschend befunden hättest.
Unter der Woche hattest du manchmal den Eindruck, es sei Sonntag.
Du bist nicht gern gereist. Du bist wenig im Ausland gewesen. Du hast deine Zeit in deinem Zimmer verbracht. Es erschien dir unnütz, ­kilometerweit zu fahren, um dich zwischen Wänden wiederzufinden, die weniger komfortabel waren als die deinen. Es reichte dir, Ferien im Kopf zu entwerfen. In einem Heft hast du die Aktivitäten notiert, die du hättest unternehmen können, wenn du den Moden des zeitgenössischen Tourismus gefolgt wärst. Priester in einem indischen Tempel betrachten. Tauchen in Bali. Skifahren in Val-d’Isère. Eine Ausstellung in Helsinki besuchen. Schwimmen in Porto-Vecchio. Wenn du deines Zimmers überdrüssig warst, hast du deine Unruhe damit gestillt, deine Aufzeichnungen zu den »Ferien im Kopf« zu lesen und die Augen zu schließen, um sie vor dir zu sehen.
Einmal habe ich dich gefragt, warum du so wenig reistest. Du hast mir die Geschichte eines mit deiner Mutter befreundeten Schriftstellers erzählt, der ein Stipendium erhalten hatte, um einige Monate im Ausland zu verbringen. Er wollte Stoff für eine fiktive politische Geschichte sammeln, die in einem imaginären Land spielen sollte. Das wirkliche Land, in das er fuhr und das vor 30 Jahren von einer Diktatur in die Knie gezwungen worden war, sollte ihm als Modell dienen. Dort angekommen, begriff er innerhalb eines Tages die Absurdität seines Vorhabens: Eine Stoffsammlung wäre ihm keinerlei Hilfe gewesen. Seine Vorstellung war alles, was ihm zur Verfügung stand, aber er hatte diese Reise unternehmen müssen, um diese Tatsache zu begreifen. Sein Aufenthalt von sechs Monaten reduzierte sich auf zwei Tage. Er nahm das erstbeste Flugzeug, um nach Hause zurückzukehren.
Ich wusste nicht, ob du eine Fremdsprache beherrschtest. Eines Tages kam eine irische Freundin deiner Mutter zu Besuch. Sie sprach kein Französisch. Du hast dich ihr in perfektem Englisch zugewandt.
Nur die Lebenden wirken widersinnig. Der Tod schließt die Reihe von Ereignissen ab, aus denen ihr Leben besteht. Also bleibt einem nichts übrig, als diesen eine Ordnung zu verleihen. Ihnen eine solche zu verweigern, würde bedeuten zu akzeptieren, dass ein Leben, und das heißt das Leben, absurd ist. Deines hatte noch nicht die Schlüssigkeit vollendeter Tatsachen erlangt. Dein Tod gab sie ihm.
Einmal bist du auf deinem blauen Motorrad Richtung Meer aufgebrochen. Du bist mit 180 Stundenkilometern gefahren. Ein Auto hat dich geschnitten. Als du es wieder überholtest, zeigtest du ihm die Faust. Nachdem du 30 Kilometer weiter die Autobahn verlassen hattest, überholte dich das Fahrzeug erneut und blockierte dir an einer Kreuzung den Weg. Du wusstest nicht, was der Fahrer im Sinn hatte; er ließ seinen Motor aufheulen, ohne zu starten. Zwei Männer auf den Hintersitzen schauten dich an und stachelten sich gegenseitig auf. Du bist von deinem Motorrad gestiegen und auf das Fahrzeug zugegangen. Sie sind losgefahren, bevor du sie erreichen konntest. Am Strand bist du ihnen zufällig wiederbegegnet. Als sie dich von Ferne sahen, glaubten sie, du habest sie verfolgt. Mit deinem schwarzen Helm auf dem Kopf bist du auf sie zugesteuert. Noch in Badehosen packten sie hastig ihre Sachen und hauten ab. Im Laufen drehten sie sich noch einmal nach dir um.
In der Öffentlichkeit weckte deine schweig­same Art, andere zu beobachten, bei diesen ein Unwohlsein; du glichst einer atmenden Statue, die gleichgültig bleibt gegenüber der Hast, die sie enttarnt.
Deine Entscheidung, die Welt auszulöschen, erspart den Überlebenden, es zu tun. Sie sehen, was du verpasst. Wenn sie daran denken, dass du nichts mehr bist, mögen sie selbst ihre Schmerzen.
In der Kunst ist die Reduktion eine Vervollkommnung. Dein Verschwinden hat dich in einer Schönheit des Verzichts erstarren lassen.
Im Haus deiner Mutter gab es einen alten Wachhund und träge, nutzlose Hauskatzen. Wir sagten immer wieder diesen Spruch: Gib einer Katze ein Leben lang zu fressen, sie verlässt dich am nächsten Tag; gib einem Hund einen Tag lang zu fressen, er bleibt dir ein Leben lang treu. Du warst die Katze, ich der Hund.
Das Wenige, was du angepackt hast, ist dir gelungen.
Das letzte Mal, als ich dich sah, trugst du ein weißes Baumwollhemd. Du standst mit deiner Frau in der Sonne auf dem Rasen vor dem Schloss, wo die Hochzeit meines Bruders stattfand. Die Feierlichkeit der Zeremonie kam dir nicht befremdlich vor. Ich dagegen fühlte mich all dem fern. Ich erkannte meine Familie in dieser mondänen Art der Zusammenkunft nicht wieder. Du schienst durch nichts irritiert, weder durch das bürgerliche Zeremoniell noch durch die Entscheidung meines Bruders, seine Liebe von Dritten gutheißen zu lassen, seien sie ihm auch noch so fern. Du hattest nicht diesen abwesenden, traurigen Blick, den du normalerweise in der Öffentlichkeit aufsetztest. Du lächeltest und schautest die vom Wein und der Sonne angeheiterten Leute an, die auf der großen Wiese zwischen der weißen Steinfassade und der zweihundertjährigen Zeder schwatzten. Nach deinem Tod habe ich mich oft gefragt, ob dieses letzte Lächeln, das ich an dir gesehen habe, eines der Belustigung war oder, ganz im Gegenteil, das Wohlwollen dessen, der weiß, dass er bald nicht mehr an den irdischen Freuden teilhaben wird. Du hast nicht bedauert, sie aufzugeben, aber du hattest auch nichts dagegen, sie noch zu genießen.
Du hast nicht gezögert. Du hast das Gewehr präpariert. Du hast eine Patrone eingelegt. Du hast in deinen Mund gezielt. Du wusstest, dass ein Selbstmord mit einer Jagdflinte misslingen kann, wenn der Schütze auf Schläfe, Stirn oder Herz zielt, weil der Rückstoß den Lauf von seinem Ziel ablenkt. Wenn der Mund den Gewehrlauf fest umschließt, ist dieser Misserfolg selten. Wenn du deinen Selbstmord hättest ankündigen, das heißt ihn verfehlen wollen, hättest du eine sanftere Methode gewählt. Deine war gewaltsam, die Ausführung radikal. Du hast keine halben Dinge gemacht. Wenn du eine Entscheidung getroffen hattest, konnte nichts dich aufhalten. Dein Blick galt dann nicht mehr der Welt, die dich umgab, sondern nur noch dem angestrebten Ziel. Einmal ging der letzte Hund deiner Mutter auf einen anderen los, der etwa 100 Meter von ihm entfernt lief. Er riss sich los, stürmte geradewegs auf ihn zu, schnappte ihn und schleuderte ihn mit seinem Maul wie eine Maus hin und her. Er hätte ihn getötet, wenn man die beiden nicht getrennt hätte. Ihr besaßt den gleichen Blick.
Dein Selbstmord war eine Handlung, die sich selbst zuwiderhandelte: der Ausdruck einer Lebenskraft, die ihren eigenen Tod hervorbringt.
Wenn du dabei warst, sprach deine Frau nicht. Ich kann mich nicht an ihre Stimme erinnern. Man hat an ihrem Blick erkannt, ob sie dir zustimmte oder nicht. Du warst der Mensch, den sie am meisten anschaute, wer auch immer mit euch zusammen war. Ihre Schüchternheit gab dir Sicherheit. Ihre Diskretion ging Hand in Hand mit deinem Schweigen. Ihr habt dieselben Zigaretten geraucht. Ihr hattet ein gemeinsames Päckchen. Sie fuhr Auto, du Motorrad. Ihr hattet keine Kinder. Sie hat gearbeitet. Sie hat Geld für euch beide verdient, während du dein Wirtschaftsstudium verfolgtest. Sie bewunderte deine Theorien und deine Art zu sprechen. Was ist aus ihr geworden? Hat sie sich wieder gefangen nach deinem Tod? Denkt sie an dich, wenn sie mit jemandem schläft? Hat sie wieder geheiratet? Hast du auch sie getötet, als du dich getötet hast? Hat sie einen Sohn nach dir benannt? Falls sie eine Tochter hat, hat sie ihr von dir ­erzählt? Was macht sie an deinem Geburtstag? Und an deinem Todestag? Pflanzt sie Blumen auf dein Grab? Wo sind die Fotos, die sie von dir gemacht hat? Hat sie deine Kleider aufbewahrt? Haftet ihnen noch immer dein Geruch an? Benutzt sie dein Parfum? Was hat sie mit deinen Zeichnungen gemacht? Hängen sie gerahmt in einem Zimmer ihrer Wohnung? Hat sie dir ein Museum errichtet? Welche Männer waren deine Nachfolger? Kannten sie dich? Oder macht die ­Erinnerung an dich jeden Nachfolger unmöglich?
Wenn morgens die Fensterläden noch geschlossen waren und du beim Erwachen in der Dunkelheit in deinem Bett lagst, flossen deine Gedanken wie Wasser. Sie verdüsterten sich, wenn du dich erhobst und die Vorhänge aufzogst. Die Gewaltsamkeit des Tages löschte die nächtliche Klarheit aus. In der Nacht bot dir der Schlaf deiner Frau eine helle Einsamkeit. Am Tag waren die Leute Mauern, die dich spalteten und daran hinderten zu vernehmen, was du nachts hören konntest: die Stimme deines Hirns.
Alle Rockballaden, die ich im Kopf habe, sind von dir besetzt. Wenn ich bestimmte Lieder höre, färben sie sich mit deiner diffusen Gegenwart ein. Du hast keine Gedichte gelesen, doch du hast welche rezitiert. Es waren die Texte der Lieder, die du mochtest, ohne die dazugehörige Musik. Deine Poesie war Rock.
Du sagtest, man solle Rock lieber in einer Sprache hören, die man schlecht beherrsche. Die Worte seien schöner, wenn man sie nur halb verstünde. Und der Dadaismus hätte guten Rock hervorgebracht, wenn beide zur gleichen Zeit aufgetaucht wären.
Du hast keinen Psychoanalytiker konsultiert, dafür aber viel Zeit damit verbracht, dich selbst zu analysieren. Du hast Freud, Jung und Lacan gelesen. Du dachtest über die Psychoanalyse nach, doch unterziehen wolltest du dich keiner. Du warst der Meinung, dass eine Therapie dich normalisiert hätte oder dass sie die Fremdheit, die du kultiviertest, banalisieren würde. Du hörtest gerne anderen zu. Und man vertraute sich dir an. In deiner stillen, aufmerksamen und anregenden Art hast du weniger dir geholfen als denen, die sich dir mitteilten.
Du hast Sätze aufgelesen, die Passanten auf der Straße äußerten. Einer deiner Lieblingssätze war: »Ich mag Hunde, aber Dinosaurier liebe ich.«
Du hast Eigennamen gesammelt. Du hattest eine Wahlliste eingerahmt, die Kandidaten mit verstörenden Familiennamen enthielt.
Auf einer Kassette hast du eine Reihe von Nachrichten aufbewahrt, die irrtümlich auf deinem Anrufbeantworter hinterlassen worden waren. Eine davon lautete: »Wir sind gut angekommen. Wir sind gut angekommen. Wir sind gut angekommen.« Eine hoffnungslose, alte Frau hatte sie sehr langsam aufgesprochen.
Wir führten unsere Gespräche in der Nacht, sie kannten keine andere Grenze als die Morgendämmerung. Einen Abend lang redetest du acht Stunden lang ohne Unterbrechung in stetigem Wechsel über Freud und Marx einerseits und die Kondratjew-Zyklen andererseits. Deine Abschweifungen weiteten sich in dem Maße aus, wie du die Alkoholvorräte deiner Mutter leertest und beliebig mischtest. Bei Tagesanbruch hast du den »Kondratjew-Cocktail« erfunden und aus jeder der 15 Flaschen einen Schuss in ein großes Glas gegossen. Der Anisgeschmack des Ricard dominierte über die Aromen der anderen und gab dem Gebräu ein milchiges Aussehen. Du trankst es in einem Zug aus und legtest dich dann schlafen.
Du hast die Terminkalender vergangener Jahre aufgehoben. Wenn du an deiner Existenz zweifeltest, nahmst du sie zur Hand. Im Durchblättern erlebtest du noch einmal deine Vergangenheit, als überflögst du eine Chronik deiner selbst. Manchmal fandst du Verabredungen wieder, an die du keinerlei Erinnerungen hattest, und Leute, deren Namen nichts in dir wachriefen, obwohl du sie selbst niedergeschrieben hattest. Die meisten Ereignisse allerdings kamen dir wieder in den Sinn. Doch es hat dich irritiert, dich an nichts mehr von dem zu erinnern, was zwischen den aufgezeichneten Dingen passiert war. Du hattest doch auch diese Momente erlebt. Wo waren sie hin?
Du lehntest es ab, ergiebig zu sein. Du machtest wenig, aber das Wenige gut, und tatest lieber gar nichts, als etwas schlecht zu tun. Die Begierden deiner Zeitgenossen waren dir gleichgültig. Du wolltest nicht alles und das sofort. Es gefiel dir, dir selbst Verzicht aufzuerlegen: auf das Essen, das Trinken, das Rauchen, Sprechen, Ausgehen. Du konntest dich tagelang des Lichts berauben, glücklich in deinem Zimmer, mit zugezogenen Vorhängen. Die Luft hat dir nicht gefehlt. Die Stille hat dich beglückt. Diese Kargheit war dein Niveau.
Das Theatrale war nicht deine Welt, doch der Tod, den du wähltest, erforderte Entscheidungen über den Ort, den Zeitpunkt und die Art und Weise. Um ihn herbeizuführen, warst du gezwungen, ihn zu inszenieren.
Du hast dich endlosen Runden des Zweifelns hingegeben. In dieser Materie hieltst du dich für einen Experten. Aber das Zweifeln ermüdete dich derart, dass du letztlich Zweifel am Zweifeln selbst hegtest. Einmal habe ich dich am Ende eines Nachmittags gesehen, den du mit einsamen Grübeleien verbracht hattest. Du saßt reglos und versteinert da. Ein kilometerlanger Lauf durch einen tiefen Wald voll Schluchten und Fallen würde dich weniger erschöpft haben.
Dein Selbstmord intensiviert das Leben derer, die dich überlebt haben. Wenn Überdruss sich bei ihnen breitmacht oder sie in einem grausamen Spiegel die Absurdität ihres Lebens aufblitzen sehen, mögen sie sich an dich erinnern, und ihre Verbitterung wird ihnen immer noch besser erscheinen als die Angst vor dem Nichtmehrsein. Sie werden wahrnehmen, was du nicht mehr siehst. Sie werden hören, was du nicht mehr vernimmst. Und was du nicht mehr besingst, werden sie anstimmen. Die Freude an den einfachen Dingen wächst im Licht der traurigen Erinnerung an dich. Du bist ein schwarzes, aber intensives Licht, das aus deiner Nacht heraus den Tag neu beleuchtet, den sie nicht mehr sahen.
Einmal warst du mit Freunden in den Bergen Ski fahren. Am ersten Tag seid ihr zum höchsten Punkt eines Gletschers gefahren, den man von der Talstation aus hatte sehen können. Deine Freunde froren, und sie fuhren schnell wieder hinunter. Du hast allein in einer kleinen Mulde angehalten, um den frischen Schnee anzuschauen, der am Vorabend gefallen war. Die Sonne beschien ihn im Gegenlicht, während der Wind an seiner Oberfläche einen feinen Film aufstäubte. Felsen, Sträucher und Boden dieser kleinen Mulde waren von ein und demselben kalten Weiß überzogen. Es war die Nacht am Tag, das Negativ von Dunkelheit. Der Ort schien dir auf ideale Weise zu schlafen, hellwach und klar, wie in deinen besten Träumen.
Die Trauermesse fand in der kleinen Kirche gegenüber dem Haus deiner Mutter statt. Ich bin nie in dieser Kirche gewesen außer zu diesem Anlass. Es war ein kleiner, grauer Bau am Straßenrand. Um hineinzugelangen, musste man einen kleinen Sandweg um die Kirche herum zur Hintertür nehmen. Es gab keinen Garten, nur einen Baum. Ich habe dich zu deinen Lebzeiten nie die Wörter »Messe« oder »Kirche« aussprechen hören. Nur zuweilen sprachst du von Gott, als handelte es sich um eine abstrakte Größe, ein Gesprächsthema oder ein Kuriosum, das anderen vorbehalten war. Es war eigenartig, einen Priester von dir sprechen zu hören, der dich nie kennengelernt hatte. Ihr lebtet zwar einander gegenüber, aber er war gerade erst in diese Gemeinde bestellt worden. Er hielt den Nachruf auf dich. Er sagte nichts Wahres und nichts Falsches. In seinem Mund warst du austauschbar. Obwohl er seine Predigt ohne konkreten Bezug vorbereitet hatte, schien er beim Reden bewegt, als spräche er von einem geliebten Wesen. Ich habe nicht an seiner Aufrichtigkeit gezweifelt, obwohl ich vermutete, dass er eher vom Tod überhaupt als speziell von deinem Tod berührt war. Inmitten der Messe hat jemand angefangen, heftig zu atmen. Ich konnte nicht sehen, woher das Keuchen kam. Man hätte glauben können, ein wildes Tier fände sich nach einer langen Treibjagd in einer Sackgasse wieder. Einige sind aufgestanden und haben deinen Bruder zu einer Stuhlreihe getragen. Sein Weinen war in eine Nervenkrise übergegangen. Einige Minuten später, während er noch immer schluchzte, wurde deine Schwester von demselben Taumel erfasst. Auch sie hat man hingelegt. Zwei Tiere, die sich in der Tristesse deiner Beerdigung verirrt hatten. Deiner Mutter gelang es noch, sich aufrecht zu halten. Der irritierte Priester fuhr mit seiner Predigt fort. Am Ende wagte keiner mehr, den anderen anzusehen, als fühlten sich alle schuldig. Woran? Deine Mutter schritt langsam mit gesenktem Kopf voran und stützte sich auf den Arm deines Stiefvaters. Dein Vater, der sich abseits hielt, befand sich für den Schuldigsten. Doch sein schlechtes Gewissen erniedrigte dich noch ein letztes Mal: Indem er sich dafür verantwortlich machte, vereinnahmte er auch noch deinen Tod.

Édouard Levé (1965-2007) war Autor und Fotograf. Wenige Tage nachdem sein Verleger ihm begeistert die Annahme des Manuskripts zu »Selbstmord« mitgeteilt hatte, erhängte er sich in seiner Pariser Wohnung.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Édouard Levé: Selbstmord. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes&Seitz-Verlag, Berlin 2012, 112 Seiten, 17,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.