Horst Seehofer und die »bayerische Identität«

Erste Klasse für die Lega Süd

Horst Seehofer hat die Nase voll vom Länderfinanzausgleich. Das hysterisierte Bayerntum des Ministerpräsidenten ist ­jedoch kein Schmierenspiel aus dem Komödienstadel, sondern eine Zäsur für die politische Ökonomie und das politisch-kulturelle Gleichgewicht in Deutschland.

Der demokratische Fürst Horst Seehofer (CSU) regiert in zwei Diskursen: in dem einer pluralen, progressiven und inkludierenden Politik der Zivilgesellschaft und in dem einer familialen, regressiven und exkludierenden Identitätspolitik. Wenn ein zeitgenössischer Machiavelli dem demokra­tischen Fürsten Seehofer einen Rat geben könnte, dann wäre es wahrscheinlich der: So viel plurale, progressive Zivilgesellschaft wie möglich, so viel familiale, regressive Identitätspolitik wie nötig! Machtkrisen stets durch gezielte Gaben von Identitätspolitik bewältigen!
Die inkludierende Politik der Zivilgesellschaft wie auch die exkludierende Identitätspolitik lassen sich freilich auch gekonnt auslagern, in die Symbole, Rituale und Medien. Man kann beides, mit anderen Worten, fiktionalisieren. Und diese Fiktionalisierung hat einen gewaltigen Fortschritt gemacht, seit der demokratische Fürst Seehofer gar nicht mehr groß zu verschweigen versucht, dass in der »marktkonformen Demokratie« des Merkelismus auf dem Weg zur Mappusokratie die Ökonomie herrscht und die Politik dient. Das ist insofern heikel, als Identität immer an die Illusion gebunden ist, dass es sich um mehr als Ökonomie handele.

In der Nachkriegszeit bestand in Westdeutschland eine Zivilgesellschaft, in die sich die Identitätspolitik eingelagert hatte, was manchmal auch zu Ausbrüchen führte. Das konnte vor allem deswegen gutgehen, weil mit der Deutschen Mark ein Symbolwert vorhanden war, in dem sich Ökonomie, Demokratie und Identität glücklich vereinten. Die demokratische Zivilgesellschaft war die nützlichste Gesellschaftsform und wurde deswegen zum Mainstream. In ganz Westdeutschland? Nein. Im südlichen Bundesland Bayern verhielt es sich von Anfang an genau umgekehrt. Dort herrschte eine familiale, populäre und regressive Identitätspolitik, die sich, wenn’s dem Wachstum, dem Wohlstand und der Herrschaft diente, Einlagerungen und Ausbrüche einer rationalen, progressiven Zivilgesellschaft erlaubte.
Wenn in der Nachkriegszeit von einem »Sonderweg« Bayerns innerhalb der Bundesrepublik die Rede war, dann war das oft verbunden mit Assoziationen an »Mentalität« oder »Geschichte«. Der Rest der Republik akzeptierte dies mit einer Mischung aus Bewunderung, Ironie und Befremden. Bayern war »ein bisschen anders« und zeigte dies auch im Tourismus. Für die Deutschen jenseits des Mains war ein Aufenthalt in Bayern ein Schritt in ein anderes, ein wenig sonderbares Land, für die ausländischen Touristen dagegen konnte Bayern zum deutschen Sinnbild werden, ein Traumland nicht nur zwischen den Regionen, sondern auch zwischen den Zeiten.
Bayern war erfolgreich damit, es wurde ein ebenso reiches wie glückliches Land. Reich wurde es paradoxerweise durch das Reichsein selbst, durch Nobelindustrialisierung, durch Nobelurbanisierung und sogar durch Nobelkultur. Nichts beflügelt den Wohlstand mehr als das Image des Wohlstandes. Die Transformation eines einst eher armen Agrarlandes in das Nobelareal der neuen Republik gelang, weil sich kaum ein ­nennenswertes Industrieproletariat gebildet hatte und damit auch die entsprechenden politischen und kulturellen Traditionen fehlten.
Die regionale Aufgabenteilung zwischen Zivilgesellschaft und Identitätspolitik erwies sich für die Republik zunächst als segensreich. Bayern produzierte, in einer gekonnten Mischung aus Mezzogiorno und Disneyland, »Heimat« für Deutschland auf politisch einigermaßen unverdächtige Weise, und ganz nebenbei gelang hier, zumindest auf der symbolischen Ebene, die Integration der »Flüchtlinge«, scheinbar paradoxerweise gerade durch die Bewahrung der Identität einschließlich revanchistischer Aufmärsche. Doch bereits mit dem metzgerhaften Rechtspopulismus von Franz Josef Strauß griff die baye­rische Identitätspolitik nach der »Mitte«. Das Verhältnis der beiden politischen Diskurse wurde prekär. Teil der Identitätspolitik und zugleich ihre Begrenzung wurde das wiederholte und vergeb­liche bayerische Anrennen, ins Nationale gewendet, gegen die preußische Trutzburg der Zivil­gesellschaft. So diente eine zyklische Abfolge von Selbstüberschätzung und gekränkter Regression der bayerischen Selbstidentifikation. In der »bayerischen Identität« schlugen sich Kränkungen nieder, eine Geschichte der mehr oder weniger komisch scheiternden bayerischen Politiker »da droben« in Bonn und dann Berlin.

Mit all dem war indes der Weg frei für so etwas wie eine bayerische Einheitspartei, nämlich die CSU, die ihren einzigen Konkurrenten, eine gewisse Bayernpartei, mit einigermaßen fiesen Mitteln aus dem Rennen geworfen hatte. Die lange Alleinherrschaft der CSU basierte auf dem Wissen um die familiale, »ethnische«, religiöse, sprach­liche und nicht zuletzt ökonomische »Identität« Bayerns, und dazu gehörte dringend auch, dass sie zwar verbündet war mit der »Schwesterpartei« CDU, aber weder von ihr unterworfen noch in sie integriert. Zugleich Teil und Eigenes zu sein, das war der Trick. Und das ist auch das Zefix.
Der Slogan »Laptop und Lederhose« fasste dieses volkstümlich-ökonomische Konstrukt noch einmal zusammen, war aber zugleich bereits ein Symptom der sich abzeichnenden Krise dieser »Identität«. Denn wenn man einen populären Mythos so zwanghaft bezeichnen muss, hat er ­bereits die immanente Kraft des Selbstverständlichen verloren. Aus der »Identität« wurde so rasch ein Markenzeichen, dass es den Betroffenen angst und bange werden musste. Dass Edmund Stoiber noch einmal einen Angriff aus dem Süden unternahm, dabei kläglich scheiterte und schließlich zum komischen Duettpartner eines Problembären herabsank, schien ein Signal zum Rückzug. Regression war angesagt. Horst Seehofer wurde aufgebaut und baute sich auch selbst auf als Protagonist einer Renaissance »bayerischer Identität«.
Diese entstand aus einer Dialektik von Sinnlichkeit und Geld, von der die Hervorbringungen der Volkskultur in der Mehrheit handeln. Der Komödienstadel erzählt von Bauern, die durch die arrangierten Ehen ihrer Kinder noch mehr Geld ins Haus bringen wollen, doch der Nachwuchs, sinnlich und vernünftig, heiratet lieber gutaussehende, sittsame und tüchtige Partner als reiche. Der nur reiche Bauer muss bitter an den Konflikten in der eigenen Familie scheitern. Damit sind nicht nur die bayerischen Verhältnisse von Kapital und Arbeit sexualisiert, sondern es ist auch eine familiale kulturelle Durchlässigkeit geschaffen, die es woanders so nicht gibt: eine Rückbindung der Urbanisierung an den Diskurs des »Volkstümlichen«, im weiteren Sinne aber einfach an eben die »bayerische Identität«, die Glück und Reichtum verspricht. Für die einen mehr Glück und weniger Reichtum, für andere umgekehrt, beides indes stets in einer spezi­fischen Balance.
Die Dialektik von »schönem Land« und ökonomischer Prosperität hat Bestand auf der Grundlage eines kulturellen Gemeinsinns: Der soziale Unterschied zwischen den Armen und den Reichen wird verwischt durch jene Dinge, die allen gehören, eben das »schöne Land«, die volkstümliche Kultur, die »bayerische Identität«. Reich und Arm, Rechts und Links, Jung und Alt teilen sich das kleine Glück in einem Biergarten. Das Glück der klassenlosen Orte ist die andere Seite eines großen Einverständnisses mit den Klassengrenzen.

Klasse und Volk sind wegen der Politik von Inklusion und Exklusion kein Widerspruch. Doch es ist wichtig, das »Wir« zu benennen, wie auch die »Anderen« zu definieren. Die Codes der Gemeinschaft liegen daher in einer Praxis, die ein von außen kaum durchschaubares Ineinander von moralischer Elastizität und bayerischer ­Liberalität (»Leben und leben lassen«) auf der einen Seite, Reaktion, Fremdenfeindlichkeit und rechtspopulistischen Tiraden auf der anderen bietet. So kommt es nicht darauf an, religiös zu sein, sondern vielmehr darauf, eine Form von Religion zu haben, und es kommt weniger auf das »Bayerischsein« an, als auf das Sich-Bayerisch-Zeigen.
Wie in allen Tourismusregionen, so spaltete sich auch die »bayerische Identität« in einen fiktionalen äußeren und in einen praktikablen inneren Teil. Ihre Fiktionalisierung war zu Beginn des neuen Jahrhunderts größtenteils abgeschlossen. Bayern selbst möchte als Erstes auf das produzierte Außenbild hereinfallen. Die Feiern der »bayerischen Identität« haben einen Grad an Vulgarität und offensiver Künstlichkeit angenommen, das Volkstümliche und das ­Noble sind gleichsam ökonomisch so ineinandergefallen, dass eine Rückkehr zu als authentisch angesehenen Formen nicht mehr möglich erscheint.
Die Erosion dieser »bayerischen Identität«, die einerseits im verschärften ökonomischen Wettbewerb nur noch Branding ist, und die andererseits in der realen Lebenssphäre angesichts der Prekarisierung der Mittelschicht wenig Sinn ergibt, wird zu einem Hilfsmittel für die Freizeit. Die Volkstümlichkeit, die gleichsam mit einem Wirklichkeitsrest operierte, löst sich endgültig auf in die soziale und sexuelle Obszönität und den karnevalisierten Dauerrausch. Die »Identität«, das ist das Geheimnis der bajuwarischen Kulturindustrie, wird nicht mehr als gegeben angesehen, sondern muss durch unablässigen Konsum von Zeichenwaren wie Trachten, Bayern-Fahnen und Landhausmöbeln sowie durch unablässige Bekenntnisfeiern erzeugt werden. Mittlerweile muss also das Bayerntum nicht nur erarbeitet oder erlogen, sondern auch erkauft werden.
Die bayerische Identitätspolitik ist zugleich in die Krise geraten. Denn der Merkelismus und seine Protagonisten der Niedertracht, die Bild-Zeitung oder Thilo Sarrazin, haben sich selbst der Identitätspolitik zugewandt. Sie versuchen, eine Rückkehr der deutschen Gesellschaft von der inkludierenden pluralen zivilgesellschaftlichen Politik zur exkludierenden Identitätspolitik zu erzwingen. Zwei identitäre Konsumräusche gleichzeitig, also ein Lederhosen- oder Dirndl-Outfit in einem Meer von Deutschlandfahnen, verkraften aber auch die stärksten Bayern nicht. ­Jedenfalls nicht ohne einen Vollrausch.

Die erkaufte »bayerische Identität« macht aus ihrer Fiktionalität keinen Hehl, sie bedarf daher auch nicht mehr der großen politischen Einigung, der politischen Verwirklichung nur noch bedingt. Der allmähliche Machtverlust der CSU, nicht nur in den Wahlergebnissen, sondern im politischen Verständnis des Landes selbst, lässt nur zwei Möglichkeiten zu: entweder die Integration in die allgemeine, nun ihrerseits identitätspolitisch infizierte deutsche Politik, oder eine verschärfte Form der »bayerischen Identität«. Mög­licherweise aber sind beide Möglichkeiten nur verschiedene Wege zu deren Selbstaufhebung. Sie begegnen sich in Horst Seehofer, und sie zeigen, dass sie nicht mehr wirklich verbunden sind.
Es gelingt Horst Seehofer auch als ­»öffentliche Persönlichkeit«, als mediale Figur, nicht mehr, die »bayerische Identität« anders denn als Karikatur zu verkörpern. Sein Versuch, die Sinnlichkeit des »schönen Landes« mit barocker Lebenslust sowie einem sorgfältig gepflegten Akzent und die Prosperität sowie das wirtschaftliche Interesse gemeinsam zu verkörpern, als eine Person, die Genuss und Kontrolle in einer Erscheinung signalisiert, scheitert unentwegt. In Seehofer ist das Bayerische nicht mehr amüsant und nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch lästig.
Die Hysterisierung des Bayerntums auf allen Ebenen hat also vor allem mit einer Gefahr des Verschwindens zu tun. Eine tatsächliche Ethnisierung kommt so wenig in Frage wie eine tatsächliche Aktivierung des religiösen Fundamentalismus. Bleiben also die beiden ursprünglichen Diskursfelder der »bayerischen Identität«, die »volkstümliche« Sinnlichkeit und die Öko­nomie.
So wie Europa kulturell in einem offenbar erbarmungslosen Verteilungskampf und in der Entsolidarisierung durch die Austeritätspolitik zerfällt, so droht nun auch die Bundesrepublik durch einen aus dem Süden angezettelten Verteilungskampf der Habenden gegen die Nichthabenden, der Fleißigen gegen die Faulen, der Sparsamen gegen die Verschwender, der Noblen gegen die Sozialen das ohnehin gefährdete Gleichgewicht von Zivilgesellschaft und Identitätspolitik zu verlieren. Dabei kommt es zu den erwartet unerwarteten Allianzen: Die CSU in Bayern und die schwäbischen Grünen verstehen sich sehr gut. Hessen schließt sich an, möglicherweise dann das Rothenbaumchaussee-Hamburg als nördliche Enklave der neuen sozialen Lega Süd. Denn eben das ist das strategische Herz jeder Identitätspolitik: Wo sie nicht herrschen kann, treibt sie die Spaltung voran. In dieser neuen Allianz freilich ist die »bayerische Identität« nur noch Maske des ökonomischen Interesses.
Seehofer also wird, je mehr er sich mit allen Mitteln gegen den Machtverlust stemmt, zum Symbol der Krise der »bayerischen Identität«. Zunächst scheiterte sein Versuch, die Politik wieder zu familialisieren, wie es Merkel versteht. Eine Verkörperung »bayerischer Identität« und zugleich Teil eines allgemeinen deutschen Machtdiskurses zu sein, gelingt ihm weniger denn je, und schon gar nicht im Schatten der Austeritätsmama Merkel, die ein ganz anderes Integrationsmodell verkörpert.
Seehofer könnte wohl nur dann wieder echten politischen Erfolg verbuchen, wenn er es mit der Separationsdrohung zumindest so ernst meinte wie die Lega Nord in Italien. Doch sich als ein Patriarch zu inszenieren, um den sich die Bayern sammeln, das Eigene zu stärken und das Fremde auszuschließen, wie es die Ethnopolitiker in Europa überall unternehmen, kann Seehofer nicht gelingen. Eben weil Bayern sich damit abgefunden hat, eine Fiktion zu sein.
Nicht unbedingt die Forderung nach einer Neuorganisation des Länderfinanzausgleichs kommt einer separatistischen, identitätspolitischen Drohung gleich. Es sind die Argumente, die Propagandamittel, die Mythen, die dabei produziert werden. Nun wird Identitätspolitik als letztes Überlebensmittel der CSU freilich irgendwann zu einem nicht mehr zu kontrollierenden Selbstläufer. Die von Seehofer angegriffenen Länder haben nämlich ihrerseits nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie gehen im Namen der Zivilgesellschaft Kompromisse ein, beugen sich also gleichsam einer innernationalen Variante der asozialen Austeritätspolitik des Merkelismus und betreiben unter bayerischem Druck Sozial- und Kulturabbau, oder aber sie antworten mit einer eigenen Identitätspolitik. Dann wird das noble, so­zial hartherzige, geizige und gierige Bayern genau so bestraft wie der Bauer im Komödienstadel, nämlich durch das vollständige Auseinanderbrechen von Ökonomie und Identität. Geld allein ist auch nicht sexy.
Indem Seehofer der Republik einen realen und symbolischen Verteilungskampf aufzwingt, verschärft er den Konflikt zwischen Zivilgesellschaft und Identitätspolitik. Selbstverständlich kann Seehofer das nur, weil er die in die volkstümliche Kultur abgesunkene Konvention reaktiviert: Der scheinbar rein fiktional gewordene Widerspruch zu den »Preissn« wird reanimiert, und zwar insofern ernsthaft, als er ökonomisiert wird. Schon lange war die »volkstümliche Kultur« aus Bayern geprägt von der Kränkung durch die progressive Zivilgesellschaft aus dem Norden. Man führt sich ein wenig so auf, wie die reichen Bauern in Ludwig Thomas Stück »Erste Klasse« gegenüber preußischen Schnöseln: Erster Klasse fährt, wer das Geld, nicht wer die besseren Manieren hat.
Die »bayerische Identität« wird also auf beiden Ebenen, derjenigen der politischen Ökonomie und derjenigen der volkstümlichen Codes, verstärkt, weil die Alternative das Verschwinden wäre. Im allgemeinen Sprachgebrauch drückt sich der Niedergang der CSU in Sätzen aus wie: »Jetzt bricht auch in Bayern die Demokratie aus.« Was vielleicht von außen wie eine realpolitische Anpassung aussieht, ist in Wahrheit ein tiefer Einschnitt in die politische Ökonomie und das politisch-kulturelle Gleichgewicht in ganz Deutschland. Das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Identitätspolitik wird neu austariert. Vielleicht wird man sich noch einmal nach den Zeiten sehnen, da in Bayern das Problem der Identitätspolitik als Komödienstadel erledigt wurde.