Frauenproteste in Tunesien

Gegen Regression

In Tunesien fanden die größten oppositionellen Demonstrationen seit Monaten statt – für die Gleichheit der Geschlechter.

Montagabend in Tunis. Mindestens 6 000, manchen Medienberichten zufolge 20 000 Personen, überwiegend Frauen, demonstrieren für Frauenrechte, die sie von der islamistischen Regierungspartei al-Nahda bedroht sehen, und für die Verankerung der Gleichheit der Geschlechter in der Verfassung. Auch in anderen Städten Tunesiens fanden Demonstrationen statt, es waren die größten oppositionellen Proteste seit Monaten.
Am Montag war der Jahrestag der Einführung des Code de statut personnel (CSP), des am 13. August 1956 unter dem Präsidenten Habib Bourguiba eingeführten Personenstandsgesetzes, das einzigartig in der sogenannten arabischen Welt ist und einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation der Frauen in Tunesien darstellt. Der CSP war gegen den Widerstand der konservativen Milieus in Tunesien durchgesetzt worden und ersetzte etwa die Möglichkeit des Manns, einseitig die Gattin zu verstoßen, durch die Scheidung vor Gericht, schaffte die Polygamie ab und setzte für die Gültigkeit einer Ehe das Erfordernis einer Zustimmung von Mann und Frau fest. Doch innerhalb der Familie blieb die patriarchale Stellung des Manns gewahrt, beispielsweise sein Recht, den Wohnsitz zu bestimmen und ein doppelt so großes Erbteil wie die Frau zu erhalten.
Den montäglichen Demonstrationen voran ging eine heftige Polemik über die gesellschaftliche Stellung der Frau in Tunesien. Der Auslöser für die Debatte war der Entwurf des Artikels 28 für die neue Verfassung, den die Kommission Rechte und Freiheiten am 1. August mit zwölf Stimmen, davon neun von al-Nahda, bei acht Gegenstimmen angenommen hatte. In diesem Entwurf ist von den sich ergänzenden Rollen von Frau und Mann im Herzen der Familie die Rede – eine familiäre Konzeption der Geschlechterbeziehung, die der des CSP ähnelt, die aber einer individualistischen und egalitären entgegengesetzt ist.
Die Reaktion auf den Entwurf des Artikels 28 ließ nicht lange auf sich warten. Am 4. August veröffentlichten diverse säkulare Frauenvereinigungen, die Tunesische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte, die Frauenkommission des mächtigen Gewerkschaftsverbandes UGTT, die tunesische Sektion von Amnesty International und andere eine Erklärung gegen dieses Projekt, das »eine große Regression für die Gesamtheit der tunesischen Gesellschaft« darstelle, »eine Gefährdung der Errungenschaften der Frau« sei und »einen paternalistischen Ansatz« sanktioniere, »der dem Mann eine absolute Macht gibt, während er der Frau ihr Recht als vollwertige Bürgerin verweigert«. Im Lauf der Woche folgten Diskussionen und Lesungen über Frauenrechte im ganzen Land, die schließlich in den Demons-trationen am Montag kulminierten.
Deren Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – angesichts der salafistischen Offensive im Juni auf der Straße und dem autoritären institutionellen Kurs von al-Nahda. Und schon droht der Regierung neues Ungemach: Im vernachlässigten Landesinneren, in der Region um Sidi Bouzid, wo der Aufstand gegen Ben Ali begonnen hatte, fand am Dienstag ein lokal ­begrenzter Generalstreik statt, unter anderem weil dort das Trinkwasser knapp wird. Schon ist in Tunesien von einer »zweiten Revolution« die Rede – ein Slogan, der vereinzelt auch auf den Demonstrationen am Montag auftauchte.