Obamas Reform des Einwanderungsgesetzes und sein Verhältnis zur Latino-Community

American Dreamers

Ein neues Einwanderungsgesetz konnte Barack Obama nicht durchsetzen. Die im Juni verabschiedete Neuregelung zur Legalisierung eines bestimmten Teils der migrantischen Bevölkerung in den USA ist vor allem als eine Investition in die politische Zukunft des Präsidenten zu verstehen.

»Am Tag, an dem der Präsident die Nachricht verkündete, rief mich mein Schwager an. Er ist amerikanischer Staatsbürger und kein Linker. Er geht nicht wählen, aber wenn er ginge, würde er die Republikaner wählen. Aber an diesem Tag sagte er mir begeistert am Telefon: ›Diesmal gehe ich wählen, und zwar den Präsidenten!‹«
Cesar Vargas hat die Selbstsicherheit von jemandem, der es im Leben zu etwas gebracht hat. Dass er hispanischer Abstammung ist, erkennt man vor allem an seinem Akzent, ansonsten sieht er wie ein College-Student aus gutem Hause aus.
Cesar, der nicht nur in den USA auf dem College war, sondern auch seinen PhD hier in New York gemacht hat, ist ein clandestino, ein »Illegaler«. In einer ähnlichen Situation befinden sich derzeit rund zwei Millionen Menschen in den USA. Viele sind hier zu Schule gegangen, haben hier studiert oder vielleicht stattdessen den Militärdienst absolviert. Gemeinsam ist ihnem, dass sie in den USA aufgewachsen sind und dass sie für den Staat de facto nicht existieren.
»Ich lebe hier, seit ich mich erinnern kann. Ich bin zwar nicht hier geboren, aber ich habe hier einen PhD gemacht und eine Organisation gegründet, um nicht mehr unsichtbar zu sein«, erzählt Cesar. »Glauben Sie, dass ich bis vor einigen Jahren eine Ahnung davon hatte, dass ich hier illegal bin?«, fügt er entrüstet hinzu. Gemeinsam mit anderen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, hat er die DRM Capitol Group gegründet (drmcapitolgroup.com), die eine Reform des Einwanderungsgesetzes auf Bundesebene fordert.
Dass sein Schwager bei den Wahlen im November nicht nur wählen gehen, sondern auch noch Barack Obama seine Stimme geben will, hat für Cesar eine besondere Bedeutung. Der Grund ist die Neuregelung des Einwanderungsgesetzes, die von Präsident Obama im vergangenen Juni angekündigt worden ist und die den Status von rund zwei Millionen Menschen verbessern soll, die als Kinder oder Jugendliche illegal in die USA eingereist sind: Ihnen droht nicht mehr die Abschiebung und es wird ihnen zudem möglich sein, legal zu arbeiten.
Obama und seine Ministerin für Homeland Security, Janet Napolitano, haben die bislang auf zwei Jahre befristete Neuregelung am Kongress vorbei beschlossen, nachdem die Republikaner die Verabschiedung eines Gesetzes mit dem suggestiven Namen »Dream Act« (Akronym für Development, Relief, and Education for Alien Minors) jahrelang verhindert hatten. Seit 2001 war der Entwurf immer wieder diskutiert worden, ohne dass er zu einem Bundesgesetz werden konnte.
Mit der von Obama beschlossenen Neuregelung werden nun einige Aspekte des Dream Act umgesetzt. Die Maßnahme betrifft Menschen, die illegal in die USA eingereist sind, zum Zeitpunkt der Einreise noch nicht 16 Jahre alt waren und heute noch nicht 30 Jahre alt sind. Außerdem müssen sie mindestens fünf Jahre lang ohne Unterbrechung im Land gelebt haben, zur Schule gegangen sein, einen Abschluss erworben oder den Militärdienst absolviert haben und sie dürfen nicht vorbestraft sein. Diese Voraussetzungen erfüllt nur ein Bruchteil der rund zwölf Millionen migrantischen Illegalisierten in den USA, die meisten von ihnen sind Latinos.

Am 14. August sind nun die Formulare für diese Massenlegalisierung online veröffentlicht worden, einen Tag früher als angekündigt. Unmittelbar nach der Veröffentlichung bildeten sich in vielen Städten vor den Immigrationsbüros und den Stellen, die juristische Unterstützung anbieten, lange Schlangen von jungen Menschen, die ihre Anträge abgeben oder mehr Informationen über das Procedere erhalten wollten. »Es ist keine ein­fache Angelegenheit, du brauchst eine Menge Papiere und einige Hundert Dollar«, erzählt Cesar. »Und du hast nur eine Chance. Wenn du irgendwas falsch machst, droht die Abschiebung.«
Am 15. August organisiert das Netzwerk NYC Immigration Coalition in der St. Mary-Kirche, in Lower East Side, Manhattan, ein öffentliches Treffen, um die Arbeit der freiwilligen Unterstützerinnen und Unterstützer zu koordinieren und vor allem, um die Betroffenen darüber aufzuklären, wie sie bei der Antragsstellung Fehler vermeiden können. Rund tausend Menschen sind an diesem Tag vorbeigekommen, die meisten hielten die sechsseitigen Formulare in der Hand, die sie von der Webpage der Homeland Security heruntergeladen haben.
Die meisten der Anwesenden haben nicht mit einem solchen Andrang gerechnet. »Ich wusste nicht, dass es so viele Leute in meiner Situation gibt. Es steht einem auch nicht im Gesicht geschrieben, ob man Papiere hat«, sagt etwa Manuel, der in Guatemala geboren wurde, aber keine Erinnerung an dieses Land hat. Er ist 23 und ist hier auf das College gegangen. Eine junge Frau, ebenfalls mit Papieren in der Hand, nickt zustimmend mit dem Kopf, als Manuel ergänzt: »Das Beste daran ist, dass wir jetzt einen besseren Job zumindest suchen dürfen und den Führerschein machen können.« 16 Prozent der Studierenden an US-Colleges oder Universitäten sind hispanischer Abstammung, im Jahr 2011 waren die Latinos zum ersten Mal zahlreicher als die afroamerikanischen Studierenden.
In der Kirche in Manhattan, so wie in vielen anderen Orten in den USA, wird in diesen Tagen geduldig erklärt, was beachtet werden muss, um Fehler zu vermeiden, und dass jede Information geprüft werden muss. Es wird daran erinnert, dass man nur eine Chance auf Legalisierung hat.
Viele Rechtsanwälte arbeiten hier freiwillig. »Es gibt zu viele inkompetente Notare«, sagt Manuel über einen Typus des Juristen, der in den USA sehr verbreitet ist. »Sie stempeln Papiere ab, aber viele haben keine Ahnung von den Gesetzen«, habe man ihn gewarnt, und »in einigen Büros wird auch versucht, die Menschen auszutricksen, es wird dort viel Geld verlangt für etwas, das im Grunde sehr simpel ist.« Gehört habe er auch, dass einige dazu gebracht worden seien, einen Antrag zu stellen, obwohl sie gar nicht die Bedingungen dafür erfüllten.

New York City sowie die Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, New Mexico und Florida sind die Orte, an denen die meisten Menschen leben, die illegal eingereist sind, als sie noch minderjährig waren. Viele kommen aus Vietnam oder dem Iran und warten Jahre darauf, politisches Asyl zu bekommen. Es sind aber vor allem Latinos, die noch als Kleinkinder oder Jugendliche, in LKW versteckt oder nur mit einem touristischen Visum ausgestattet, über die mexikanische Grenze geschmuggelt wurden. Viele von ihnen können sich nicht einmal daran erinnern, in einem anderen Land gelebt zu haben. Sie sind in den Latino-Vierteln der US-amerikanischen Metropolen aufgewachsen oder in den Regionen mit hispanischer Bevölkerungsmehrheit der Bundesstaaten Texas, Arizona und Kalifornien. Diese jungen Menschen, die nur ein Land kennen, haben in den vergangenen zwei Jahren erlebt, wie der Druck auf sie gestiegen ist. In einigen Bundesstaaten, in denen die Tea Party, der extremste Flügel der Republikaner, die Gouverneure stellen, etwa in Arizona, sind verfassungsrechtlich umstrittene Gesetze verabschiedet worden, die de facto eine Form des racial profiling einführen. Das Gesetz von 2010 in Arizona sieht etwa vor, dass die lokale Polizei bei einem nicht genauer definierten »begründeten« Verdacht den Immigrationsstatus von Personen überprüfen kann. Die Fahndungsmethode beruht hierbei unter anderem auf äußeren Merkmalen wie etwa der Hautfarbe, der Kleidung oder der Sprache. Wer »fremd« aussieht, kann kontrolliert und abgeschoben werden. Deported, wie man hier sagt.
Im alten Rassistenstaat Alabama ist vergangenes Jahr ein noch härteres Gesetz verabschiedet worden. Neben dem »berechtigten Verdacht«, der Kontrollen rechtfertigt, sieht das Gesetz Strafen vor, wenn man »Illegalen« Wohnungen vermietet oder einen Job anbietet. Schulen sollen den Aufenthaltstatus der Kinder überprüfen, auch der Zugang zur Universität wird vom Aufenthaltstatus abhängig gemacht. Für die Wirtschaft Alabamas wird das Gesetz drastische Folgen haben, sogar die nicht gerade linksgerichteten Farmer des Bundesstaates protestieren, denn ihnen, ähnlich wie den Restaurantbesitzern oder den Baufirmen, bleiben wegen des Gesetzes die Arbeiter weg. Dieses Jahr konnte viel Obst nicht geerntet werden, das es an Saisonarbeitern fehlt.

Dass jetzt eine Neuregelung verabschiedet wurde, hat mehrere Gründe. Einerseits ist der Druck der Öffentlichkeit gewachsen. Die jungen Menschen, die fast ihr ganzes Leben in den USA verbracht haben, zeigen keine Angst, ihren Protest öffentlich zu artikulieren. Der Dream Act ist in den vergangenen Jahren immer wieder thematisiert worden und die Bewegung der sogenannten Dreamers ist immer größer geworden. Es ist eine urbane, meist gebildete Jugend, die Bürgerrechte fordert und am amerikanischen Traum teilhaben will. Es ist eine Generation, die aufgrund des durchschnittlich relativ hohen Bildungsniveaus auch in der Lage ist, Lobbyarbeit zu betreiben und in der Zivilgesellschaft Unterstützung zu finden, etwa bei den Gewerkschaften, der Kirche und Bürgerrechtsorganisationen.
»Wir sind auf die Straße gegangen, haben Unterschriften gesammelt und sind sogar nach Washington gegangen«, erzählt Cesar, »mit großem Risiko, denn jedes Mal, wenn wir auf die Straße gingen, haben wir uns de facto selbst angezeigt. Auf unseren T-Shirt steht: Undocumented.« Einige haben sich bei Demonstrationen festnehmen lassen, andere haben ein Sit-in vor dem Hauptquartier der Wahlkampagne für Obama veranstaltet.
An der Kampagne haben sich auch bekannte Persönlichkeiten beteiligt, etwa der renommierte Journalist Jose Antonio Vargas. Auch er, der von den Philippinen stammt, hält sich rein juristisch illegal in den USA auf. Nachdem er auf Youtube ein Video über die Proteste der Dreamers gesehen hatte, schrieb er einen Artikel, in dem er sich auch selbst anzeigte, und bot ihn der New York Times an. Sein Text »My Life as an Undocumented Immigrant« sorgte für Aufsehen. Einige Wochen später war Vargas gemeinsam mit 35 wei­teren Personen auf dem Cover von Time zu sehen: »We are Americans. Just not legally«, lautete die Schlagzeile. Das Thema war im Mainstream angekommen, nun war Obama an der Reihe, er musste eine Antwort geben. Und der Präsident, der kein neues Einwanderungsgesetz durchsetzen konnte, um zwölf Millionen Papierlosen eine Zukunft in den USA zu garantieren, antwortete mit einer Mini-Reform, einem »Dream Act Lite«, wie die Neuregelung von Kritikern bezeichnet wurde. Die Reform könnte wenigstens denjenigen das Leben erleichtern, die gar kein »Heimatland« haben, in das sie zurückkehren könnten, wenn sie die USA verlassen wollten. Mit anderen Worten all denjenigen faktisch US-amerikanischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, die nicht auf dem Territorium der USA geboren wurden. Die Reform sei nicht mit einer Amnestie gleichzusetzen, betonten sowohl Obama als auch Napolitano. Auch eröffne sie keinen Weg zur Staatsbürgerschaft, wie dies der Dream Act vorgesehen hatte.
»Unsere Arbeit ist damit nicht beendet. Jetzt geht es darum, dass die Maßnahme korrekt umgesetzt wird«, sagt Cesar, der sich im Wahlkampf für Obama engagieren wird. »Aber heute haben wir einen Grund zu feiern. Der Präsident hat uns einen Grund gegeben, uns für ihn zu einzusetzen.«

Das ist ein weiterer, entscheidender Aspekt dieser Reform: Obama braucht dringend etwas, das er seiner Basis anbieten kann, vor allem den jüngeren, linksgerichteten Wählerinnen und Wählern, die von ihm in den vergangenen vier Jahren viel mehr erwartet hatten. Unter ihnen sind die Latinos eine wichtige Gruppe. Vor vier Jahren haben 67 Prozent der Wahlberechtigten hispanischer Abstammung die Demokraten gewählt. Im Jahr 2004 hatte der Gegner von George W. Bush, John Kerry, unter den Latinos noch 56 Prozent der Wählerstimmen bekommen. Wenn Obama in Florida, Colorado, New Mexico und vielleicht auch Arizona gewinnen will, dann muss er eine gezielte Kampagne organisieren, um an diese Community heranzukommen, insbesondere an die urbane Bevölkerung, die eine Reform des Immigrationsgesetzes als Priorität sieht.
Bei den Midterm-Wahlen 2010 betrug die Wahlbeteiligung unter Latinos 6,5 Millionen, mehr als zehn Millionen waren für die Wahl registriert und mehr als 20 Millionen wahlberechtigt. In New Mexico ist jeder dritter Wähler ein Latino, in Colorado, Nevada und Florida sind es zwischen zehn und 16 Prozent. Es gibt Bundesstaaten, in denen eine Wählerschaft von rund drei Prozent den Ausschlag geben könnte.
Wie Cesar Vargas und sein Schwager zeigen, ist die Neuregelung des Einwanderungsgesetzes als eine Investition des Präsidenten in seine eigene politische Zukunft zu verstehen, auch wenn die Betroffenen dadurch nicht zu Wählern gemacht werden. Denn der Weg zu vollständigen Bürgerrechten ist für sie noch weit.
Die Republikaner reagierten verhalten, als Obama die Neuregelung verkündete. »In Arizona, wie auch im Rest des Landes, hat man zwar Mitleid mit denjenigen, die als Kinder von ihren Eltern illegal in die USA gebracht worden sind«, sagte Jan Brewer, die Gouverneurin von Arizona, die aus dem Kampf gegen Latinos einen ihrer politischen Schwerpunkte gemacht hat. »Aber es ist nicht unsere Verantwortung, die Eltern sind schuld. Sie hätten nicht das Gesetz brechen sollen.« Von Mitleid ist in diesen Worten wenig zu spüren. Ähnlich wie Mitt Romeny fordert Brewer die Illegalen zur self-deportation, zur »freiwilligen« Ausreise auf. Und in der Tat ist den vergangenen zwei Jahren die Immigration über die mexikanische frontera, die von den Menschenschmugglern organisiert wird, deutlich zurückgegangen. Das aber ist die Folge der Wirtschaftskrise, nicht der verschärften Repression in einigen Bundesstaaten und der Forderungen der Republikaner.

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni