Abdruck aus »Begegnung und andere Erzählungen«

Begegnung

Emmanuel Bove erzählt die kurze Geschichte einer unmöglichen Freundschaft.

Es regnete. Obwohl der Himmel grau war, fielen durchsichtige Tropfen auf den Balkon.
Im Sommer fällt der Regen aus großer Höhe. Bevor er den Boden berührt, hat er Zeit umherzutanzen. Er gehorcht nicht. Man könnte nicht sagen, aus welcher Wolke er kommt. An diesem späten Januarnachmittag aber fiel er vom gesamten Himmel herab.
Seit Stunden hatte es so geregnet, ohne dass eine Wolke sich von der anderen gelöst, ein blaues Loch den Himmel erhellt, ein Sonnenstrahl sich in der Ferne verloren hätte.
Es ist keine schlechte Laune, die mich dazu treibt, diese Geschichte so traurig zu beginnen.
An jenem Tag regnete es wirklich.
Wäre der Nachmittag kalt und sonnig gewesen, hätte ich es auch gesagt. Es hätte keinerlei Einfluss auf mich gehabt.
Ich saß im einzigen Sessel des Zimmers. Er steht nah am Fenster. Wie das Bett hat er seinen festen Platz.
Ich betrachtete den Regen. Er war so fein, dass er an einer dunklen Mauer vorbeirieseln musste, damit man ihn sehen konnte.
Ab und zu löste ich meine übereinandergeschlagenen Beine, denn wurden sie den ganzen Tag nicht bewegt, schliefen sie mir auf der Stelle ein.
Es dunkelte bereits. Ich rührte mich nicht.
Einzig die weißen Vorhänge – sie waren länger als das Fenster – hoben sich aus dem Halbdunkel ab. Sie schienen das Zimmer von der Außenwelt abzutrennen. Sie bewegten sich nicht, was den Eindruck erweckte, als würde draußen kein Lüftchen wehen.
Hin und wieder vernahm ich das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos. Ich bemühte mich, ihm hinterherzulauschen, bis es nicht mehr wahrzunehmen war. Und dann hörte ich es doch noch einmal, weit, weit in der Nacht.
Das Zimmer hatte diese kalte Anordnung unbewohnter Räume. Noch die unbedeutendsten Gegenstände waren von Schatten umgeben. Mit dem Tageslicht war das Leben ganz verschwunden. Übrig blieben nur die harten Umrisse der Möbel, der Eingangstür, der Wände. Ein schwaches Licht von draußen, rosafarben, zeichnete den Vorhang an einer unerwarteten Stelle auf der Wand ab, einer Stelle, an der es schwer gewesen wäre, ein Bild aufzuhängen.
Ich fing an, etwas zu pfeifen. Wenn jemand anwesend ist, pfeife ich nie, denn meine Lippen eignen sich nicht dafür. Aber selbst, wenn ich allein bin, fange ich eher selten an zu pfeifen, denn ich habe mir, trotz allem, noch soviel Lebenskraft erhalten, um das, was ich vor Leuten nicht tun würde, allein auch nicht zu tun.
Doch an jenem Tag pfiff ich vor mich hin. Grotesk, wie ich davon abließ. Denn ich hörte nicht eindeutig damit auf, so als ob Freunde mir zugehört hätten, sondern erst nach einigen lächer­lichen Modulationen.
Da fasste ich gute Vorsätze. Schluss mit dem trägen Leben! Ich würde Leute sehen. Würde arbeiten. Hätte Spaß daran, mich zu zerstreuen. Und alles würde sich fügen. Alles wäre normal.
Schon oft wollte ich das Rauchen aufgeben, zu einer festen Zeit aufstehen, wollte, dass mein Verhalten von meinem Willen diktiert wird, nicht aus Achtung vor diesem Willen, sondern weil ich mich später wohler gefühlt hätte.
Das ist alles nutzlos. Keines meiner Vorhaben wurde je umgesetzt. Ich habe immer so gehandelt, wie es gerade kam.
Es wäre trotzdem so ermutigend, wenn ich meine Wünsche unter Kontrolle hätte. Das wird mir wohl nie gelingen. Andererseits: Ist das wirklich so schlimm? Ich bin doch glücklich, wenn ich machen kann, was mir gefällt.
Wenn ich keinem schade, wenn einzig ich es bin, der darunter leidet – steht es mir da nicht frei, mich treiben zu lassen?
Ich habe mir oft vorgestellt, vollkommen zu verwahrlosen, auf einem erbärmlichen Bett zu schlafen, nur das zu essen, was ich so fände, zu trinken und zu vergessen.

Gegen elf Uhr abends hörte der Regen auf.
Ich öffnete das Fenster. Pfützen schimmerten auf dem Gehsteig. Der Himmel war voller Sterne. Zwischen Erde und Mond zog eine Wolke dahin.
Welch schönen Träumereien man sich unter den Sternen hingeben kann! Als Kind verbrachte ich ganze Stunden damit, zu den Sternen hinaufzuschauen. Heute betrachte ich sie und empfinde nichts dabei. Sie ergreifen mich nicht mehr.
Glücklich darüber, nicht mehr wegen des Regens in meiner Wohnung eingeschlossen zu sein, schloss ich das Fenster, zog mich warm an und verließ das Zimmer.
Ich marschierte an dunklen Häusern entlang. Es war kalt. Nur matt spiegelten sich die Lichter auf dem zerkratzten Glatteis.
Ich hatte mir ein Ziel gesetzt, das nicht zu weit weg war, so dass mir noch genügend Kraft bliebe, zum Hotel zurückzukehren. Eine Nichtigkeit hätte mich von diesem Vorhaben abbringen können. So ist es mit allen Dingen, die ich mir zum Ziel setze.
Die Stadt schlief, und ich war wach. Es bedeutet nichts, wach zu sein, wenn alle schlafen. Um mich herum können die Menschen noch so sehr ruhen, ihr Schlaf ist nicht tief. Mitten in der Nacht auf den Beinen zu sein bedeutet nicht, das Gefühl zu haben, allein auf der Welt zu sein.
An einer Straßenecke rief eine alte Frau mit roter Perücke nach mir. Sie war aus der Dunkelheit aufgetaucht und stand am Rande eines Lichtkreises. Von weitem, in ihrem karogemusterten Cape, sah sie aus wie eine Reisende.
Ich ging an ihr vorbei, ohne sie anzuschauen. Sie stand regungslos an einer Mauer. Warum bin ich so schnell vorübergegangen und dachte darüber nach, was an meinem Äußeren wohl seriös wirken konnte? Macht mir die menschliche Verzweiflung Angst, sobald ich sie mit Händen greifen kann?
Aber wenn ich es genauer bedenke, wird mir klar, dass sogar zwei Menschen, die beide ganz tief gesunken sind, weit von einander entfernt sein können.
Ich ging weiter.
Da tauchte glitzernd unter unbeweglichen Reflexen die Seine auf.
Ich lief ab da einige Minuten an einer Brüstung entlang. Ab und zu berührte ich sie, so wie ich manchmal den Kopf eines Pferdes berühre. Ich ging mit dem Strom. Man hat dann den Eindruck, als würde man geschoben, als käme man leichter voran.
Die Fenster in den Häusern waren dunkel. An einem Kai standen Frachtkähne unbeweglich im Fluss. Und in der Ferne: weitere Häuser, ein Turm, Bäume.
Da bemerkte ich plötzlich vor mir eine dunkle Gestalt, die sich bewegte.
Ich kam näher an sie heran; es war ein Mädchen.
Es ging langsam, schien bereit, in jedem Moment umzukehren.
Warum habe ich mich diesem Kind genähert? Warum habe ich es angesprochen? Da ich nun mal beschlossen habe, alles aufzuschreiben, ohne den geringsten Gedanken zu verbergen, muss ich zugeben, dass ein körperliches Verlangen mich dazu gedrängt hat.
Aber man möge unbesorgt sein. Gleich wird Böses durch Gutes wettgemacht.
Denn das Begehren hatte mich kaum gestreift, da verspürte ich schon ein schlechtes Gewissen.
Hätten Sie nur sehen können, wie das unglückliche Mädchen in dem Moment, als ich sagte: »Sie haben sich bestimmt verlaufen?«, angstvoll zu mir aufblickte.
Was für eine Verzweiflung in diesem Blick lag! Wie konnte ich angesichts so großer Unschuld auch nur die geringste Lust empfinden?
Als ich sie so aufgeschreckt sah, dachte ich, sie hätte meine böse Absicht, die mir eben noch durch den Kopf gegangen war, erraten.
Das betrübte mich, aber freilich ganz zu Unrecht.
Denn wenn sie imstande war, in meiner Seele zu lesen, dann konnte sie auch das Gute darin lesen.
»Wollen wir zusammen ein Stück gehen?«
Hätte sie zugestimmt, hätte unsere Begegnung Gestalt angenommen. Damit einverstanden zu sein, neben mir herzugehen, hätte auch geheißen, mit meiner Gegenwart einverstanden zu sein.
Sie gab keine Antwort. Nachdem sie mich, ohne den Kopf zu heben, mit einem einzigen Blick bedacht hatte, entfernte sie sich.
Ich ging ihr hinterher. Ich spürte, dass ich für sie ein korrekter Herr war, unerreichbar für sie. Das stimmte. Ich war dieser korrekte Herr. Ich konnte ihren Schmerz noch so sehr verstehen, ihn teilen, ich behielt es für mich. Nichts trieb mich dazu, ihr zu helfen. Ich war ihr sogar ein bisschen böse, weil sie das Mitleid, das ich ihr entgegenbrachte, überhaupt nicht wahrgenommen hatte.
Ich traute mich nicht, sie anzusprechen. Was hätte ich diesem verängstigten Kind denn auch sagen können, von irgendwelchen bedeutungslosen Worten einmal abgesehen?
Worte bedeuten so wenig; um ihnen vertrauen zu können, muss man den, der sie ausspricht, auch kennen.
Ohne es zu wollen, streifte ich sie leicht. Es genügte, dass sie sich dadurch noch ein Stück mehr der Brüstung näherte.
Nicht ein einziges Mal blickte sie hinüber zum Fluss. Er hatte in ihrem Leben eine große Bedeutung angenommen. Man hätte meinen können, sie fürchtete ihn, so als ob er imstande gewesen wäre, ihr irgendetwas zu befehlen. In der Nähe der Brücken hob sie ein wenig den Kopf, um sich zu vergewissern, gegebenenfalls weglaufen zu können.
Gern wäre ich mit ihr in eine angrenzende Straße eingebogen, denn die Gegenwart der Seine hatte den Effekt, dass mir dieses Kind so frei erschien wie eine Reiterin, die ich nur zu Fuß begleitete.
»Sollen wir diese Straße dort nehmen?«
Bislang hatte ich ihre Stimme noch nicht vernommen. Als sie erwiderte: »Wenn Sie wollen«, war meine Überraschung so groß, als hätte ein Gegenstand angefangen zu reden. Mit diesen drei Worten hatte sie alles von sich preisgegeben. Ich ahnte, wie schwer ihr das gefallen war. Ich begriff, dass sich ihr ganzes Sein gegen mich und gegen die Welt zur Wehr setzte, dass sie kämpfte, um nicht auf immer verloren zu sein.
Wir nahmen die dunkle Straße, die ich ihr gezeigt hatte. Als ihr durch die Veränderung der Laufrichtung klar wurde, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgegeben hatte, ging sie mir zügigen Schritts voraus, um sich so der Illusion hinzugeben, sie selbst habe entschieden, diesen Weg einzuschlagen.
Als wir einen Platz überquerten, bat ich sie ein weiteres Mal, die Wegstrecke zu ändern; ich wollte eine hell beleuchtete Straße vermeiden.
Wie zuvor erwiderte sie: »Wenn Sie wollen.«
Man hatte den Eindruck, dass Worte für sie Taten waren, dass das Wiederholen der Worte nicht schlimmer sein konnte als das Wiederholen irgendeiner bösen Tat.
Wir gingen etwa zehn Minuten, bis ich meine Augen hob.
Der Mond war verschwunden. Sein Lauf ist schneller als der der Sonne. Wie oft wundere ich mich, wenn ich ihn nicht an der Stelle wiederfinde, an der er eigentlich sein sollte.
Die trockene Kälte hatte der Wärme meines Körpers nichts anhaben können. Sie umhüllte ihn. Meine Hände waren von weißen Runzeln übersät. Ich steckte sie in die Taschen und schloss sie zur Faust, damit der Tabak darin nicht unter meine Nägel geraten konnte.
An jeder Straßenlaterne umgab uns eine schwach spürbare Wärme. Auf meinem Gesicht nahm ich den feuchten Hauch meines Atems wahr.
Das junge Mädchen ging neben mir. Wir wechselten kein Wort. Ich versuchte, ein wenig Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Neben dieser Unglückseligen konnte ich mir keinerlei Recht herausnehmen, es sei denn das der Barmherzigkeit.
Mir kam die Idee, dass ich mich, zurück in meinem Zimmer, in meinen Sessel setzen würde und ich sie das machen lassen könnte, was sie gerne wollte.
Ich würde mich hinsetzen. Würde ein Buch nehmen. Mir wäre warm. Und nun legte ich einen Schritt zu, damit es dazu auch käme. Es würde wahr werden. Alles geschähe so, wie ich es mir ausgedacht hatte. Aber statt dass es wahr wurde, sann ich nur darüber nach.
Wir liefen zügig, mein Schritt war etwas leichter. Ich hatte keinen Mut mehr zu reden. Wir überquerten die Kreuzungen, ohne stehenzubleiben, so als hätten wir gewusst, wohin wir gingen.
Meine Anwesenheit neben diesem armen Kind war von wenigem abhängig. Es plötzlich zu verlassen, wäre leicht gewesen. Wer außer ihm hätte es mitbekommen? Um mir was auch immer vorwerfen zu können, hätte man wissen müssen, dass ich es zuerst angesprochen hatte. Aber das wusste nur das Kind. Es hätte älter sein müssen, dann wäre es in der Lage gewesen, einen exakten Bericht über die Geschehnisse wiederzugeben.
So aber war ich absolut frei, mich von ihm zu trennen. Einzig mein Gewissen hätte mir einen Vorwurf daraus machen können, denn ich bezweifle, dass die Unglückliche es getan hätte.
Ich brauchte mich nur davonzumachen. Der unangenehme Moment, in dem man wegläuft, dauert ja nicht lange. Es war also nur notwendig, eine Stelle zu wählen, wo ich sogleich aus ihrem Blickfeld geraten wäre.
Aber um eine unlogische Tat zu begehen, darf man nicht mit sich selbst beschäftigt sein, und vor allem darf man keine Erklärungen abgeben. Diese Tat muss einem selbst im Innersten ein Geheimnis bleiben. Außerdem muss man eine schlagfertige Antwort parat haben für den Fall, dass jemand nach den Motiven fragt, die einen zu diesem Handeln getrieben haben.
Das war es, wonach ich beim Gehen suchte. Dabei wusste ich genau, dass kein Mensch mir auch nur die geringste Frage gestellt hätte. Trotzdem suchte ich nach einer Erklärung für meine Flucht.
Ich bin so. Ich treibe das Vorausahnen bis zum Äußersten. Der Bruder dieser Unglücklichen hätte gerade in dem Moment, in dem ich weglaufe, aus der Dunkelheit auftauchen können. Er hätte mich verfolgen, einholen, mich fragen können, warum ich weggelaufen sei, warum ich seine Schwester angesprochen habe.
Auf die letzte Frage hätte ich leicht antworten können. Ich hätte die Wahrheit gesagt. Dieses Kind hatte mir Mitleid eingeflößt, ich wollte es trösten, ihm helfen, es retten. Diese Version konnte falsch erscheinen, ich weiß. In dem Augenblick, da ich sie vorgebracht und verfochten hätte, wären dem Bruder Zweifel gekommen.
Andererseits: Wenn ich dieses unglückliche Mädchen beschützen wollte, wie sollte ich dann erklären, dass meine edlen Gedanken verflogen waren und ich es alleingelassen hatte?
Wir gingen durch eine einsame Straße. Alles war ruhig.
Als ich mich auf einmal hinter dem Mädchen befand, drehte ich mich um und machte mich leise davon.
Für meine Flucht fielen mir keine Erklärungen ein.
Doch in der ziemlichen Gewissheit, auch keine mehr abliefern zu müssen, brauchte ich nicht länger danach zu suchen.
Während ich lief, fand ich noch eine Begründung für mein Verhalten: Wir hatten uns verloren.
Ich blieb stehen und hielt mich in einer Toreinfahrt versteckt.
Ich sah, wie die Arme noch einige Schritte tat; ohne zu bemerken, dass ich nicht mehr da war. Dann blieb sie stehen und wandte sich um. Hätte sie geschrien, gerufen, ich hätte kehrtgemacht. Aber sie sagte keinen Ton.
Sie sah sich um. Sie wandte ruckartig den Kopf hin und her, so wie wenn man jemanden nur anhand von Geräuschen ausfindig machen will.
Ich blieb weiter unter dem Tor stehen. Ich konnte es nicht über mich bringen, das arme Kind aus dem Blick zu verlieren.
Solange ich bei ihr gewesen war, erschien mir eine Flucht unmöglich. Aber das war dann so leicht zu bewerkstelligen gewesen, dass ich nun enttäuscht war.
Gleich zu dem unglücklichen Kind zurückzukehren, hätte meinem Verhalten allzu sehr widersprochen. Ich wartete ab. Ich beobachtete sie weiter. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick kreisen.
Ich wartete jetzt darauf, dass sie mir den Rücken zukehrte. Sie sollte nicht sehen können, wie ich aus großem Abstand zu ihr komme. Wie aus heiterem Himmel wollte ich wieder neben ihr sein. Da sie sich entfernte, fing ich an zu laufen, den Blick ganz auf sie fixiert und bereit anzuhalten, wenn sie sich umdrehen sollte.
Ich kam näher. Sie ging weiter. Bald war ich an ihrer Seite. Als sie mich erblickte, stieß sie einen gellenden Schrei aus, machte aber nicht die geringste Bewegung. Sie zitterte, das registrierte ich an ihrer Unterlippe.
Nach einem Moment – etwa der Zeit, die man braucht, um aus dem Bett und in seine Pantoffeln zu steigen – hob ich die Augen. Ich hatte geglaubt, durch den Schrei des armen Kindes wären Leute ans Fenster gelockt worden. Aber nichts dergleichen war geschehen. Bei Schlafenden braucht es dafür einen zweiten Schrei.
Sie war stehengeblieben. Und weil sie genau an der Stelle, wo sie geschrien hatte, so bewegungslos auf der Straße verweilte, verursachte sie bei mir ein Unbehagen. Aber das merkte sie nicht.
Sie war ja noch ein Kind. Nie falle ich jemandem zur Last, ohne dass es mir selbst bewusst würde. Ich versetze mich zu sehr an die Stelle der anderen. Jeder Fremde ist mir ein zweites Ich.
Endlich entschloss sie sich loszugehen. Das wirkte so linkisch, dass mir klar wurde, dass sie erwartet hatte, den ersten Schritt täte ich.
Noch immer sagte sie nichts, als ob sie nicht mitbekommen hätte, dass ich weggelaufen war.
Ich war angesichts dieses armen Kindes vollkommen durcheinander. Die Motive, die es zum Handeln brachten, waren so gänzlich anders als die meinigen, dass für mich die eine Vermutung darüber so glaubhaft war wie die andere.
Wir gelangten auf einen Platz mit einer Reiterstatue in der Mitte. Weil es dort heller war, kam es mir einen Moment lang so vor, als hätten wir ein Ziel erreicht.
Ich ging ein wenig voraus, um dem armen Kind zu erlauben, mich anzusehen.
Sah sie mich wirklich an? Ich an ihrer Stelle hätte die Person beobachtet, die vor mir hergeht. Aber verdeckte sie mit ihrer ängstlichen Scham nicht auch die gleichen Instinkte wie ich? Ich konnte es nicht wissen. Ich hätte mich dazu jäh umdrehen und ihren Blick erhaschen müssen.
Wir konnten so nicht auf der Straße bleiben.
»Möchten Sie mit zu mir kommen … Es ist zu kalt … «
Und sie sagte »ja«, ohne auch nur im mindesten zu zögern. Sie hatte schon lange auf dieses Angebot gewartet. Ihre Antwort war vorbereitet. Hätte ich ihr etwas anderes vorgeschlagen, wäre kein Wort über ihre Lippen gekommen.

Im dunklen Treppenhaus wollte ich ihre Hand nehmen. Sie zog sie schroff zurück.
Sie versuchte gar nicht erst, herauszubekommen, was als nächstes passieren würde. Für sie zählte allein der Moment. Ihre ganze Energie war darauf konzentriert, zu verhindern, dass ihr Körper angefasst wurde. Gegen die geringste Zuvorkommenheit wehrte sie sich wie gegen einen heftigen Angriff.
Auf meinem Zimmer angelangt, drehte ich den Lichtschalter. Ein Licht, das nichts mit dem Licht des Tages zu tun hatte, erhellte allmählich den Raum.
Die Unglückliche war in mein Zimmer getreten, wie Leute es tun, die man führt – sie wusste nicht, ob sie stehenbleiben sollte.
Ich schloss die Tür.
Regungslos wartete sie ab, unterdrückte ein Blinzeln bei dem elektrischen Licht.
»Setzen Sie sich doch auf diesen Stuhl da«, sagte ich sanft zu ihr.
Ich hatte mich nicht getraut, ihr den Sessel anzubieten, aus Angst, sie zu erschrecken.
Sie setzte sich, wobei sie lediglich die Knie anwinkelte. Sie hielt ihre Hände in den Ärmeln vergraben, als wollte sie mir aus Scham ihre Haut nicht zeigen.
Gerade aufrecht sitzend, ein gutes Stück von der Rückenlehne entfernt, verbarg sie sogar ihr Profil vor mir, indem sie den Kopf um so stärker abwandte, je näher ich an sie herantrat.
Plötzlich zuckte sie zusammen, als wäre im Dunkeln ein Gegenstand von alleine umgefallen. Ein Geräusch aus einem angrenzenden Zimmer, das ich hinter ihr hörte, ließ mich in Sekundenschnelle das bisschen Vertrauen verlieren, das ich glaubte, ihr eingeflößt haben zu können.
Sie senkte die Augen. Ich hatte sie nur entschuldigend angesehen.
Fürchtete sie, dass ihr Blick mir etwas über sie verriet? Sie irrte sich. Ich hätte in ihrem Blick nicht mehr entdeckt als in ihrem Gesicht oder an ihrem Körper. Sie hätte unbesorgt sein können. Ihre Gedanken waren meinen Augen nicht preisgegeben. Sie hätte mich anblickend meinen Tod planen können, ich hätte davon nichts mitbekommen.
Schließlich beschloss ich, etwas zu sagen.
»Sie sind ein Kind … Sie haben das Leben noch vor sich … Erlauben Sie mir, Sie zu führen … «
Wie sehr das der Wahrheit entsprach! Doch wie sehr spürte ich auch, dass dies in den Augen dieser Unglückseligen nichts als Worte waren!
Sie murmelte zur Antwort:
»Lassen Sie mich … lassen Sie mich … «
Nur ein Hauch, der ihre Lippen voneinander trennte. Als ob die Stimme entwich, ohne dass die Zunge sich rührte.
Unversehens verbarg sie ihr Gesicht im Ellenbogen, ohne sich vorzubeugen, und von meinem Platz aus sah ich ihre zitternde Kehle.
Sie weinte.
Gerne hätte ich ihren Arm beiseite geschoben, ihre Augen gesehen. Das unbedeckte Gesicht – es wäre wie ein bekannter Schmerz gewesen, ein Schmerz, der weniger wehtut, ein Schmerz, den man behandeln kann.
Ich trat auf sie zu.
Sie ließ den Arm sinken, erhob sich abrupt.
Sie hatte aufgehört zu weinen. Es waren noch Tränen auf ihren Wangen, aber sie weinte nicht mehr.
Da sie stand, trat ich ein ganz kleines bisschen forscher auf sie zu.
Sie wich zurück. Die Tränen auf ihrem Gesicht waren noch nass. So eine Träne hat Umfang. Sie mag noch so sehr auf warmer Haut liegen, es braucht Zeit, bis sie verschwindet.
Jetzt stand sie an der Wand. Ich machte einen Schritt nach vorne, zögerlich, so als könnte ich auf ein Tier treten.
Sie konnte durch keinen weiteren Schritt nach hinten den Abstand, der uns trennte, aufrechterhalten. Ich wollte ihr Angst machen, nur ganz kurz, und sie gleich danach wieder trösten.
Erschrocken sah sie mich an. Schon hatte sie ihre Hände gehoben, um mich abzuwehren. Ihre Nasenflügel bebten nicht; sie blieben nur verkrampft aufgebläht. Sie öffnete den Mund. Sie war kurz davor, lauthals zu schreien. Ich wich zurück.
Das elektrische Licht erhellte ein ganz gewöhnliches Zimmer. Ich sah all die mir vertrauten Dinge. Und dort, in dieser Ecke, dieses Wesen, dem nichts in diesem Raum gehörte, das hier wie auf der Straße zu sein schien, das weggehen und nichts vergessen würde.
Ich entschied, mich nicht weiter um das arme Kind zu kümmern, damit es von allein aus wieder Vertrauen fassen konnte.
Ich setzte mich in den Sessel und tat, als würde ich lesen. Als ich der Ansicht war, eine Seite könnte zu Ende gelesen sein, schlug ich sie um. Ich bemühte mich, für jede Seite die gleiche Zeit zu veranschlagen.
So verging eine ganze Stunde! Sie rührte sich nicht.
Ich schloss die Augen.
Wenige Minuten danach vernahm ich das leichte Krächzen, das mein Bett verursacht, wenn ich schlafen gehe. Die Unbekannte hatte sich hingelegt.
Ich wartete noch lange. Dann öffnete ich die Augen. Sie schlief.
Ohne ein Geräusch zu machen, stand ich auf. Ich drehte den Lichtschalter aus, behutsam, damit er nicht klickte. In der Glühbirne leuchteten die Drähte noch einen Moment lang rot.
Tastend fand ich meinen Sessel wieder. Ich setzte mich hin. Kurze Zeit später erspähte ich ein wenig Himmelshelligkeit auf dem Metallgerüst des Bettes.
Der Tag brach an.
Um das zu erleben, darf man nicht geschlafen haben. Man muss auf das allmähliche Eindringen des Lichts geachtet haben. Man muss sich auch Orientierungspunkte gesetzt haben.
Ich wäre in diesem Moment aufgewacht, hätte ich nicht schon die Augen geöffnet gehabt in dieser blassen Morgendämmerung, die wie eine Dunkelheit war, an die sich die Augen gewöhnt haben.
Ich werde mich noch lange an diesen Januarmorgen erinnern, nicht, weil er Zeuge eines wichtigen Ereignisses meines Lebens war, sondern weil ich sonst immer schlafe, wenn der Morgen graut.
Ich werde mich daran erinnern, an einem Morgen nicht geschlafen zu haben, als Sie, armes Kind, da waren. Später einmal, wenn der Zufall es will, dass ich aufwache, wenn der Tag gerade anbricht, werde ich an Sie denken.
Früher gehörte die Morgendämmerung zu meinen Erinnerungen an Weihnachten. Dann zu meinen Erinnerungen als Soldat. Von nun an wird sie Ihnen gehören.
Der große Spiegel in meinem Zimmer zeigte Reflexe wie von ruhendem Wasser. Es hatte den Anschein, als würde das zurückkehrende Licht die Gegenstände vom Vortag nicht mehr kennen. Sie waren unnütz, jedoch an ihrem Platz, wie Findlinge in einer Ebene. Alles wog schwer. Mein Hut auf dem Kaminsims kam mir vor wie der von einem im Graben gelandeten Vagabunden.
Allmählich breitete sich das Licht im ganzen Zimmer aus.
Ich erinnerte mich an die Nächte im Krieg, in denen ich schmutzig und vor Müdigkeit fast umfallend stundenlang von weißen Bettlaken träumte. Nun waren sie da, diese Laken, direkt neben mir, und ich scherte mich nicht drum.
Oft erreicht mich, wenn ich zu Bett gehe, wenn ich mich an den Tisch setze, eine nur ganz vage Erinnerung an das Elend.
Diese Erinnerung, die in dem Moment, als mein Leben wieder bei Null anfing, so stark gewesen war, ist jetzt so verblasst, dass ich sie nicht weiter heraufbeschwöre, um das, was ich besitze, noch mehr lieben zu können.
Mein bekleideter Körper setzte sich langsam von der Dunkelheit ab. Abends im Bett denkt man, dass man sich am anderen Morgen frische Sachen anziehen wird. An jenem Tag hatte ich dieselbe Kleidung anbehalten. Sie war nicht knittrig geworden. Kleidung zerknittert in der Nacht nicht mehr als bei Tag.
Aber im Gegensatz zu den Laken erschienen mir ihr Stoff dunkel, die Knöpfe als zu viele und die Taschen wie willkürlich eingesetzte Löcher.
Es wurde stetig heller. Das Bett mit dem schlafenden Mädchen auf der Tagesdecke, das die Füße unter dem Rock versteckt hielt, erhob sich über einem hellen Parkettboden.
Mein Mantel mit seinen herabhängenden Schultern hing an der Garderobe, als gehörte er einer abwesenden Person. Ein schräg vor mir stehender Stuhl sah aus, als ob jemand gerade aufgestanden und hinausgegangen wäre und er das Zimmer leer zurückgelassen hätte.
Ich hielt meinen Atem an, um den des jungen Mädchens zu hören. Aber ich vernahm nichts. Ich trat ans Bett.
Ihr Mund war nur einen winzigen Spalt offen. Er bewegte sich nicht. Ich hätte nicht sagen können, in welchem Moment genau sie atmete. Ihr Körper war entspannt. Auch ihre Finger ruhten, jeder in seiner bestimmten Position. Einzig der Daumen zeigte sich eigenwillig. Das Kinn stand ein bisschen zu weit vor. Aber ich wusste, dass es von einem Augenblick auf den anderen wieder seinen ursprünglichen Platz einnehmen könnte.
Ich sah ein Ohr, das beim geringsten Geräusch den ganzen Körper aufgeweckt hätte.
Nicht eine Bewegung, kein Atemgeräusch, das den langsamen Blutkreislauf, das leise Schlagen des Herzens, das Hin- und Herfließen der Luft in den Lungen verriet.
Über das arme Kind gebeugt, betrachtete ich es liebevoll und rührte mich nicht, aus Furcht, der Parkettboden könnte knarren.
Meine Starrheit ließ mich kaum merklich schwanken und brachte mich, ohne dass ich mir dessen bewusst war, näher an sie heran.
Ich hätte mir gewünscht, dass sie, dem Hauch meines Atems vertrauend, aufgewacht wäre, dass sie sich mir anvertraut, dass sie in meinen Armen geweint hätte.
Das Zimmer lag inzwischen in Tageslicht. So trist und hell blieb es noch einige Minuten, bevor die Geräusche der Straße zu vernehmen waren.
Dieses ängstliche Mädchen so nahe und so still bei mir liegen zu sehen, versetzte mich in Erstaunen.
Ihr aufsteigender schwacher Atem berührte mich sanft. Ich legte meine Hand aufs Bett. Es war lauwarm. Die Wärme ihres Kopfes hatte sich langsam bis dorthin ausgebreitet.
Plötzlich öffneten sich ihre Augen. Das Gesicht schien noch eine Sekunde lang weiter zu schlafen. Dann sprang sie auf. Sie hatte verstanden. Ich wich zurück. Noch bevor ihre Füße den Boden berührten, spürte ich, wie sehr verängstigt sie war.
Ohne dass in ihren Zügen der leiseste Rest von Schlaf übriggeblieben war, war sie nun wieder ins Leben zurückgekehrt. Sie rieb sich nicht die Augen. Statt in der Unsicherheit des Erwachens noch verschlafen zu sein, wirkte sie abweisender als vorher.
Mit dem Tageslicht hatte sie ihre Unabhängigkeit zurückbekommen. Sie versteckte ihre Hände nicht mehr in den Ärmeln.
Sie erforschte das Zimmer, so als ob sie es gerade eben erst betreten hätte, und nach einem kreisenden Blick starrte sie mir direkt in die Augen.
Diesen Blick auf mich – wie gerne hätte ich ihn festgehalten! Und die Hand, die ich ausstreckte, um sie flehentlich zu bitten – sie wurde nicht einmal wahrgenommen.
Dann ging sie zur Tür. Ich tat einen Schritt. Sie stieß einen Schrei aus. Sie traute sich nicht, den Knauf zu berühren. Sie belauerte mich. Hätte ich einen weiteren Schritt getan, hätte sie losgeschrien.
Ich wollte reden, ihr sagen, dass sie mich nicht zu fürchten habe, doch ich spürte, dass meine Stimme sie ängstigen würde, obwohl sie eigentlich ganz sanft ist.
Und sie brauchte ja bloß zu gehen! Den Schmerz, den sie mir zufügte, zeigte ich nicht. Natürlich hätte es mir aber gefallen, wenn sie ihn gespürt hätte.
Ich setzte mich, um zu weinen. Ich sah nicht mehr hin zu ihr. Das Gesicht in den Händen ließ ich mich gehen.
Vielleicht war sie noch da. Hatte Mitleid mit mir. Würde nicht gehen.
Doch ich hörte, wie sie die Tür öffnete. Ich hob meine Augen nicht. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich weinte.
Dann fasste ich mich wieder. Das geschah von ganz allein, ohne dass ich etwas dafür tat.
Einen Moment lang war ich überrascht darüber, dass mein Körper trotz meiner schweren Gedanken langsam zu seinem üblichen Befinden zurückfand.
Ich öffnete das Fenster.
Zu meiner Linken ging die Sonne auf. Ihre Strahlen legten sich auf mich. Sie waren kalt und trotzdem denen so ähnlich, die warm sind.

Emmanuel Bove (1898–1945) ist einer der bedeutendsten und am wenigsten bekannten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Peter Handke hat viele seiner Werke ins Deutsche übertragen. Die Erzählung »Begegnung« ist der ersten vollständigen Übersetzung der 1988 erschienenen Prosasammlung »Monsieur Thorpe« entnommen, die neben unveröffentlichter Prosa auch Texte aus dem Nachlass des Autors enthält.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Emmanuel Bove: Begegnung und andere Erzählungen. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Thomas Laux. Lilienfeld-Verlag, Düsseldorf 2012, 448 Seiten, 24,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.