Annette Lohmann im Gespräch über den Aufstand im Norden und die Lage in Bamako

»Der Konflikt war vorprogrammiert«

Annette Lohmann leitet seit 2010 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in der malischen Hauptstadt Bamako. Die Jungle World sprach mit ihr über die Konflikte in der Politik und in der Gesellschaft, über den bewaffneten Aufstand im Norden des Landes und über die Chancen, den Konflikt zu beenden.

Wie ist die Lage in Bamako derzeit? Wie sieht es auf den Straßen aus?
Es ist derzeit ausgesprochen ruhig, und ich persönlich erwarte auch keine Unruhen mehr. Ich denke, dass die Menschen begriffen haben, dass die gewalttätigen Ausschreitungen im Mai gegen den Interimspräsidenten Diouncounda Traoré zu weit gegangen sind. Ich denke auch, dass damit der Höhepunkt erreicht worden ist und dass es keine weiteren Ausschreitungen geben wird. Wie es allerdings politisch weitergehen wird, muss sich natürlich erst noch zeigen.
Lässt sich zu dem jetzigen, doch recht frühen Zeitpunkt schon etwas über die neue »Regierung der nationalen Einheit« sagen? Wie viel »nationale Einheit« steckt überhaupt in dieser Regierung?
Nach dem Putsch ist es ja zu einer starken Polarisierung in der Gesellschaft gekommen. Die neue Koalition stellt jetzt einen Versuch dar, einen größtmöglichen Konsens zwischen den Lagern herzustellen, um wieder eine starke und handlungsfähige Regierung zu haben. Es gibt aber auch Akteure, die nicht an der Regierung beteiligt sind. Neben vielen kleinen Parteien ist hier vor allem die linke Partei Sadi um den ehemaligen Studentenführer Oumar Mariko zu erwähnen, die sich sehr deutlich für den Putsch ausgesprochen hatte und die Traoré bis heute nicht als Interimspräsidenten anerkennt. Im Allgemeinen ist die Unterstützung für die Regierung jedoch sehr groß. Wie handlungsfähig sie wirklich ist, werden erst die nächsten Monate zeigen.
Ist mit der neuen Regierung zu erwarten, dass neue Bewegung in den Konflikt im Norden des Landes kommt?
Die Beendigung der politischen Blockade in Bamako ist zumindest eine wichtige Voraussetzung für eine mögliche Lösung der Krise im Norden. Nur eine handlungsfähige Regierung kann mit den Rebellen im Norden verhandeln und auch eine militärische Intervention mit Unterstützung der Ecowas, der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten, kann es nur mit einer stabilen Regierung geben.
Könnte es jetzt nicht sogar zu einem neuen Bündnis zwischen der MNLA, der Nationalbewegung für die Befreiung des Azawad, und der Regierung gegen die Jihadisten der Ansar Dine kommen, und könnte dies Autonomie im Tausch für eine gemeinsames militärisches Vorgehen bedeuten?
Diese Diskussion ist in Mali sowie im Ausland intensiv geführt worden, aber derzeit ist das kein Thema mehr. Die MNLA ist zwar noch präsent, allerdings haben die Islamisten – vor allem Ansar Dine, aber auch der lokale Ableger von al-Qaida (AQMI) und dessen Abspaltung MUJAO – die MNLA schon vor einiger Zeit militärisch unter Druck gesetzt. Sie spielt militärsich einfach keine Rolle mehr. Insofern ist eine solche Strategie sehr unrealistisch, weil die MNLA der Regierung eigentlich nicht wirklich etwas anzubieten hat. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Islamisten und MNLA keineswegs für alle Menschen im Norden sprechen können. Ganz im Gegenteil: Sie repräsentieren eigentlich nur sehr kleine Splittergruppen. Für eine wirkliche Lösung müssen aber alle Interessens- und Bevölkerungsgruppen, die im Norden vertreten sind, mit an den Tisch geholt werden, um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen. Andernfalls kann das gar nichts werden.
Rebellion der Tuareg, Staatsstreich, islamistische Milizen – wie konnte es überhaupt so weit kommen? Mali galt doch lange Zeit als einer der politisch stabilsten Staaten Afrikas .
Ein wichtiger Faktor dabei ist sicher die wirtschaftliche Situation. Mali ist ein sehr armes Land und die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Internationalen Schätzungen zufolge leben 60 Prozent der Menschen hier unterhalb der Armutsgrenze. Dass die demokratisch gewählten Regierungen es nicht geschafft haben, an den wirtschaftlichen Problemen substantiell etwas zu ändern, ist einer der Hauptgründe für Unzufriedenheit in der Bevölkerung und eine Ursache dafür, dass sich die Demokratie nie wirklich konsolidieren konnte. Dazu kommt noch, dass es in Mali ein hohes Maß an Korruption gibt und dass sich viele Menschen von den Regierungen nie wirklich repräsentiert gefühlt haben. Die Distanz zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung war in Mali sehr groß.
Das erklärt möglicherweise den Staatstreich, aber nicht das, was im Norden passiert …
Was die bewaffneten Aufstände angeht, denke ich, dass es kein Zufall ist, dass es gerade jetzt dazu gekommen ist. Ende letzten Jahres hat der malische Staat versucht, seine Militärpräsenz im Norden auszubauen. Bis dahin war das Gewaltmonopol des Staates im Norden Malis außerhalb der großen Städte de facto nicht vorhanden. Das dadurch entstandene Machtvakuum hat dafür gesorgt, dass die Region zu einem Schwerpunkt der organisierten Kriminalität – vor allem des transsaharischen Drogenschmuggels – wurde. Ich schätze, die zunehmende staatliche Präsenz wurde hier von denjenigen, die an den lukrativen Geschäften verdienen, als Bedrohung gesehen. Ein gewalttätiger Konflikt war unter diesen Bedingungen vorprogrammiert.
Welche Rolle spielt Rassismus dabei? Ist der Gegensatz zwischen »Schwarzen« auf der einen und »Tuareg und Arabern« auf der anderen Seite, von dem europäische Medien immer wieder berichten, real oder bloß eine von außen herangetragene Interpretation?
Ich denke, die Situation in Mali lässt sich nicht mit der etwa im Sudan vergleichen, weil es hier keine durchgehende Konfliktlinie zwischen den Bevölkerungsgruppen gibt. Im Frühjahr dieses Jahres hat es jedoch Ausschreitungen gegen und Übergriffe auf hellhäutige Afrikaner in Bamako und in anderen Städten des Südens gegeben, die eine Reaktion auf ein von Tuareg begangenes Massaker an malischen Soldaten waren. Das war aber eher ein einmaliger Vorfall, der auch quasi vom gesamten politischen Establishment sofort und in aller Schärfe kritisiert wurde. Es lässt sich allerdings auch nicht verschweigen, dass die Tuareg nach wie vor sehr schlecht in die malische Gesellschaft integriert sind und nicht die gleiche gesellschaftliche Teilhabe haben wie andere Gruppen.
Etwa 90 Prozent der Menschen in Mali sind Muslime, doch wird dort traditionell eine eher volkstümliche und liberale Form des Islam praktiziert. Wie passen die Ansar Dine in dieses Bild? Wie konnte eine solche Gruppe entstehen und sich etablieren?
Ich würde eigentlich nicht sagen, dass Ansar Dine sich etabliert hat. Sie haben sich zwar im Norden festgesetzt und kontrollieren strategische Punkte, aber ihnen fehlt jeglicher Rückhalt in der Bevölkerung. Die radikal-islamischen Ideen der Gruppe rühren sicher daher, dass ihr Anführer, Iyad Ag Ghaly, eine Zeitlang in Saudi-Arabien war und dort eine Radikalisierung durchgemacht hat. Ich würde aber sagen, dass es am Ende doch viel mehr um Macht als um Religion geht. Ag Ghaly möchte die politische Kontrolle ausüben und die Sharia und die drakonischen Strafen sind dabei gut dazu geeignet, die Bevölkerung einzuschüchtern. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in Mali sieht in dieser Auslegung des Islam allerdings nichts als den Missbrauch ihrer Religion.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das neue »Ministerium für religiöse Angelegenheiten« unter Minister Yacouba Traoré und wie ist Traoré politisch einzuschätzen?
Die Gründung dieses Ministeriums ist sicher der gestiegenen Bedeutung des Hohen Islamischen Rats, einer zivilgesellschaftliche Gruppe, in der unter anderem die Imame organisiert sind, geschuldet. Dieser Rat ist in den vergangenen Monaten in das entstandene Machtvakuum gestoßen und ist gerade dabei, von einem gesellschaftlichen zu einem politischen Akteur zu werden. Das spiegelt natürlich auch die Schwäche der anderen Akteure wieder, denn Mali ist ja laut Verfassung eigentlich ausdrücklich ein laizistischer Staat. Minister Traoré, der auch Mitglied des Hohen Islamischen Rates ist, hat sich bis jetzt jedoch ausgesprochen gemäßigt geäußert und auch gesagt, dass er sich nicht nur um die Muslime, sondern auch um die anderen Religionsgruppen kümmern will. Was genau jetzt eigentlich die Aufgabe des Ministeriums sein soll, weiß aber auch niemand so recht.
Wenn wir all das zusammen nehmen – für wie realistisch halten Sie die Hoffnung, dass die Konflikte im Land in näherer Zukunft beigelegt werden können?
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, eine genaue Prognose abzugeben, aber eine umfassende und nachhaltige Konfliktlösung wird sicher Zeit in Anspruch nehmen. Insofern halte ich eine schnelle Lösung des Konflikts für unwahrscheinlich.