Geheime Dokumente zum Olympia-Anschlag 1972 in München

Fehlerfrei tödlich

Das israelische Staatsarchiv hat bislang geheimgehaltene Dokumente zum Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München freigegeben. Sie erhellen nicht zuletzt, wie unterschiedlich die Beurteilungen des gescheiterten Versuchs, die Geiseln zu befreien, auf westdeutscher und israelischer Seite ausfielen.

Die Zeit drängte. Weil die israelische Regierung und der Verteidigungsausschuss des Parlaments tags darauf über zwei Abschlussberichte zur Ermordung elf israelischer Sportler während der Olympischen Spiele in München diskutieren sollten, ergriff Informationsminister Shimon Peres in der Ministerrunde, die am 7. Oktober 1972 zur Beratung und Vorbereitung der Debatte zusammengekommen war, das Wort. »Die Deutschen haben eine Untersuchungskommission eingesetzt und gesagt, auf ihrer Seite sei alles korrekt abgelaufen«, bemerkte er, »und jetzt kommen die Israelis und geben sich selbst die Schuld. Wir sollten klarstellen, dass Israel nicht für die Sicherheitsbelange in Deutschland zuständig ist.«

Justizminister Yaacov Shimshon Shapira stimmte Peres zu: »In Deutschland musste niemand gehen, und ein Untersuchungsbericht wurde vom Innenausschuss des Deutschen Bundestages sogar einstimmig verabschiedet, während hier drei Leute gefeuert werden sollen.« Gemeint waren die Sicherheitschefs des Inlandsgeheimdienstes, der israelischen Botschaft in Bonn und des Außenministeriums. Regierung und Verteidigungsausschuss entlasteten die Letztgenannten schließlich vom Vorwurf, eine Mitschuld an den Geschehnissen von München zu tragen, und kamen zu dem Schluss: »Die Terroristen konnten ungehindert in das Gebäude eindringen und Menschen in ihre Gewalt bringen, weil die deutschen Behörden keine geeigneten Sicherheitsmaßnahmen ergriffen hatten.«
Dies und noch weit mehr geht aus 45 bislang unter Verschluss gehaltenen Dokumenten im Zusammenhang mit dem Olympia-Attentat vom 5. September 1972 hervor, die das israelische Staatsarchiv kürzlich freigegeben hat. Die Berichte, Protokolle und Telegramme erhellen, wie unterschiedlich die Planung und Ausführung des gescheiterten Versuchs, die israelischen Sportler zu befreien, auf westdeutscher und auf israelischer Seite bewertet wurden. Sie geben Einblick in diplomatische Auseinandersetzungen zwischen der israelischen und der westdeutschen Regierung sowie in die Kontroversen, die es in der israelischen Politik über die Frage gab, wie es zur Geiselnahme und Ermordung der Sportler kommen konnte und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien.
Deutlich wird nicht zuletzt, wie entsetzt der damalige Direktor des Mossad, Zvi Zamir, angesichts des Vorgehens der deutschen Sicherheitskräfte und Politiker war. Zamir war nach Bekanntwerden der Geiselnahme nach Westdeutschland geflogen und hatte mit Zustimmung des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) dem Befreiungsversuch auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck beigewohnt. Währenddessen bemühte sich die israelische Premierministerin Golda Meir darum, die israelische Kritik an den Deutschen einzudämmen, weil sie am Fortbestand der guten Beziehungen zum sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt interessiert war. Nachdem Brandt ihr am Tag nach dem Massaker ein Kondolenzschreiben geschickt hatte, telegraphierte sie anerkennend zurück: »Wir begrüßen sehr, was Ihre Regierung in einem verzweifelten Versuch, das Leben unserer Sportler zu retten, unternommen hat, ohne der brutalen Einschüchterung nachzugeben.«

Zamir war da ganz anderer Ansicht. Nach seiner Rückkehr aus der Bundesrepublik schilderte er den Dokumenten zufolge Meir und mehreren Ministern mit emotionalen Worten, wie sich der missglückte Befreiungsversuch zugetragen hatte und welche Fehler begangen worden waren. Die Deutschen hätten sich ausgesprochen unprofessionell verhalten und die Aktion unbedingt so schnell wie möglich beenden wollen – auf welche Weise auch immer. »Sie haben nicht die kleinsten Bemühungen unternommen, um Leben zu retten, sind nicht das kleinste Risiko eingegangen, um die Menschen zu retten – nicht ihre und nicht unsere«, lautete sein Urteil. Die Polizei habe wild herumgeschossen, einem schwer Verwundeten sei nicht geholfen worden. Seine Kritik legte Zamir am 7. September 1972 in einem detaillierten Schreiben an die Bundesregierung dar.
Einen Monat später übermittelte Bundeskanzler Brandt der israelischen Premierministerin die Antwort von Bundesinnenminister Genscher, der sich zu »einigen Ungenauigkeiten bzw. Unrichtigkeiten« äußerte, auf die meisten Vorwürfe Zamirs jedoch mit keinem Wort einging. Bereits am 20. September 1972 hatten die Bundesregierung und die bayerische Landesregierung gemeinsam einen Bericht veröffentlicht, der sich mit den Sicherheitsmaßnahmen bei Olympia, der versuchten Geiselbefreiung sowie der Polizeiaktion in München und Fürstenfeldbruck beschäftigte und allen Ernstes zu dem Ergebnis kam, dass keine Fehler gemacht worden seien. Der Innenausschuss des Bundestages schloss sich diesem Urteil an: Es sei »das nach Lage der Dinge Mögliche getan, angemessen gehandelt und richtig entschieden worden«, weshalb man allen Verantwortlichen »für ihren besonnenen Einsatz« danke.
Wenige Wochen nach diesem tödlichen Desaster, am 29. Oktober 1972, wurde die Lufthansa-Maschine »Kiel« auf dem Flug von Beirut nach München von einem PLO-Kommando entführt. Die Geiselnehmer forderten die unverzügliche Freilassung der drei noch lebenden, in der Bundesrepublik inhaftierten Olympia-Terroristen, andernfalls brächten sie das Flugzeug zur Explosion. Die Bundesregierung gab sofort nach, und diesmal fiel die Reaktion der israelischen Regierung den Akten zufolge bedeutend schärfer aus. Außenminister Abba Eban beispielsweise machte gegenüber dem deutschen Botschafter in Israel klar: »Die drei Terroristen können nun noch mehr Menschen ermorden. Mit dieser Aktion ist gewissermaßen die Todesstrafe über weitere Israelis verhängt worden.« Auch das israelische Parlament verurteilte die Freilassung; zudem sagten verschiedene israelische Organisationen und Institutionen geplante Reisen nach Westdeutschland ab. Bundeskanzler Brandt verteidigte sich und seine Regierung. »In diesem konkreten Fall gab es keine andere Wahl«, schrieb er nach Jerusalem. Andere deutsche Politiker äußerten lapidar, Deutschland sei schließlich nicht verantwortlich für den Nahostkonflikt.

Die Konsequenzen, die in Israel aus dem Olympia-Attentat gezogen wurden, machte Zamir in der ARD-Dokumentation »München 1970 – als der Terror zu uns kam« deutlich. Dem Regisseur Georg M. Hafner, der in seinem Film darauf hinwies, dass den deutschen Behörden nach der versuchten Entführung einer El-Al-Maschine durch drei palästinensische Terroristen im Februar 1970 am Flughafen Riem die Gefahr hätte bewusst sein müssen, sagte er: »Die Verteidigung von Juden ist Sache der Juden. Ich will damit nicht sagen, dass andere uns nicht beschützen. Das tun sie. Aber sie tun es nicht auf dieselbe Art, wie wir es tun. Deswegen gibt es den Staat Israel. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es keinen wirklichen Schutz gibt. Es gibt Sicherheitsvorkehrungen, Sympathie, Unterstützung, ja. Aber um wirklich schützen zu können, muss man bereit sein, notfalls auch mit Blut zu bezahlen. Das tut keiner. Keiner zahlt für uns mit seinem Blut.«