Über heiligen Zorn und beleidigte Muslime

Es geht nicht um Religion

Erneut lieferte eine weltweite islamistische Kampagne Bilder des zornigen und ­beleidigten Muslims. Einmal mehr fiel der »Westen« darauf herein.

Ein Szenario: 1982 strapazierte der Film »Das Gespenst« die Toleranz der christlichen Mitbürger. Herbert Achternbusch ließ einen vom Kreuz gestiegenen Jesus verwirrt durch München irren und heillos an der Gegenwart scheitern. »Blasphemie«, so der Vorwurf, könne nicht geduldet werden. In dieser Situation sahen sich christliche Gläubige weit entfernter und strukturschwacher Länder bemüßigt, die deutschen Botschaften dem Erdboden gleichzumachen. Es gab Tote. Als Anlass wurde ein Film genannt, von dem es kaum wahrscheinlich war, dass er von der Mehrheit der empörten Randalierer gesehen, geschweige denn verstanden worden war.
Die Fiktion ist leicht durchschaubar. Zwar wurde »Das Gespenst« in Deutschland zeitweilig indiziert, aus heutiger Perspektive wirken die Vorwürfe jedoch ausgesprochen kleinkariert. Vom lebensbedrohlichen Zorn religiöser Eiferer blieben Achternbusch und auch die deutschen Auslandsvertretungen verschont. Allerdings änderte ein konservativer Innenminister die Bezuschussungsregeln der Filmförderung. Als in den achtziger Jahren der Muff der »geistig-moralischen Wende« durch die Republik waberte, war es daher Ausweis fortschrittlich gelüfteter Gesinnung, sich auf Seiten Achternbuschs zu stellen.
Jüngst nahm sich die Situation ganz anders aus. Schlecht synchronisierte Sequenzen auf Youtube, die Ausschnitte eines Films über den Propheten Mohammed zeigen sollten und von der digitalen Gerüchteküche zunächst einem »in den USA lebenden israelischen Juden« zugeschrieben wurden, lösten Unruhen in mehreren Ländern aus. In Libyen, Sudan und andernorts brannten westliche Botschaften, mehrere Menschen, darunter ein hochrangiger US-Diplomat, starben. Dabei wusste man eigentlich nichts. Weder etwas über den Film, noch über seinen tatsächlichen Inhalt oder die Produzenten. Ein Gerücht, durch das Netz global gestreut, reichte aus, den Mob in mörderische Rage zu bringen. Eine interkulturelle Krise war geboren – mal wieder. Doch warum unterschieden sich die Reaktionen so gravierend von jenen auf Achternbusch?

Die Beschleunigung eines Gerüchts
Inmitten dieses digitalen Raunens und heiligen Zorns schien sich das subversive Potential des Internet gegen seine fortschrittliche Intention zu wenden. Die rhizomatische Struktur des Netzes diente nicht der Umgehung staatlicher Zentralgewalt, sondern unterminierte das ohnehin fragile Zusammenleben. Es half, ein Gerücht in immenser Geschwindigkeit zu verbreiten. Allerdings greift die Technikschelte allein zu kurz. Noch immer ist das Internet in Ländern wie Libyen, Ägypten, Pakistan oder Sudan weniger verbreitet als in den Hightech-affinen Metropolen der Welt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mob wusste, worum es eigentlich ging, ist äußerst gering. Das Vorgehen war deutlich orchestriert: Regelmäßig eskalierte die Situation nach den Freitagsgebeten, als fester Bestandteil eingeübter Rituale wurden Fahnen der USA und Israels verbrannt. Vor allem der anfangs lancierte Begriff »Jude« verfehlte seine Wirkung in Gesellschaften nicht, in denen der Antisemitismus zur politischen Normalität ­gehört.
Die Mechanismen solch einer öffentlich zelebrierten Empörung aufgrund eines Gerüchts lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Schon 1840 reichte in Damaskus ein Gerücht, um ein Massaker an den jüdischen Gemeinden in Syrien auszulösen. Etwa zur selben Zeit, mitten im beschaulichen Biedermeier, diente in den deutschen Ländern das Gerücht einer Hostienschändung oder eines Kindsmordes als Vorwand, um antijüdische Krawalle auszulösen. Stets gab es Akteure, die das Gerücht verbreiteten, und offizielle Stellen, die die Ausschreitungen duldeten. Der naheliegende Gedanke, dass es bei den jetzigen Ausschreitungen auch um innerislamische Interessen ging, wurde jedoch kaum geäußert.

Lehrbeispiel Rushdie
Dabei ist das Spiel mit den gekränkten »religiösen Gefühlen« spätestens seit den Protesten gegen die Mohammed-Karikaturen bekannt. Lange nach dem Erscheinen der Karikaturen wurde ihre Verbreitung von islamistischen Klerikern gefördert, darunter waren auch einige Motive, die nie in Dänemark erschienen waren. Der Mob stand bereit, auch damals gab es Tote. Der »Westen« übte sich in Deeskalation. Ignoriert wurde zudem, dass es seit der Affäre um Salman Rushdie längst Erfahrungen mit dem politischen Kalkül und der Dynamik des inszenierten »weltweiten muslimischen Aufschreis« gab.
Der britische Publizist Kenan Malik zeichnete jüngst in einem klarsichtigen Essay mit dem Titel »The Myths of Muslim Rage«, der auf seiner Webpage zugänglich ist, anhand der Rezeption der »Satanischen Verse« das Drehbuch eines solchen »religiösen Aufruhrs« nach. Bereits der Aufruhr von 1989 beruhte auf dem politischen Kalkül islamischer Politik und war ein Spiel mit den exotistischen Sehnsüchten des »Westens«. Spontan waren die Proteste keineswegs. Die Kampagne gegen das Buch, betont Malik, wurde erst durch die Konflikte innerhalb islamischer Gruppen bedeutsam. 1988 war der Vorstoß Saudi-Arabiens zur Indizierung der »Satanischen Verse« bei den Regierungen der sogenannten islamischen Welt, einschließlich Irans, auf Desinteresse gestoßen. Doch die Konkurrenz zwischen islamischen Staaten um die Führerschaft in der islamischen Welt, namentlich Saudi-Arabien und dem Iran, ließ die Situation eskalieren. Nachdem Riad bereits die interna­tionale Kampagne gegen den Autor finanziert hatte, konnte die iranische Regierung dies nur durch eine »Fatwa« überbieten. Bereits damals gab es erstaunliches Verständnis meist konservativer Regierungen und Autoren der angloamerikanischen Welt für den Kampf der Muslime gegen die »Blasphemie«. Malik zufolge ließ sich der »Westen« daher von den Drohgebärden beeindrucken und zog die falschen Konsequenzen: »In der Welt nach Rushdie wurde akzeptiert, dass es moralisch falsch ist, andere Kulturen zu kränken, und dass in einer pluralistischen Gesellschaft die Rede notwendigerweise weniger frei sein kann.« Diese Konklusion war fatal, die implizierte Beschränkung der Möglichkeiten der Kritik war genau das, was die Akteure der Empörungskampagne erreichen wollten.

Die »Weltangepasstheit« des Islam
Es geht also um Politik, nicht um Religion. Aber es gibt einen Unterschied zwischen den Vorfällen in Damaskus von 1840 oder den Hep-Hep-Unruhen in Deutschland und den Mohammed-Karikaturen: Nie war Unmündigkeit so selbstverschuldet wie heute. Das gilt nicht nur, aber vor allem für jenen Teil der Welt, der gemeinhin als »der islamische« bezeichnet wird. Anders als im 18. und 19. Jahrhundert stehen heute ein fast unbegrenztes Wissen und hochentwickelte Kommunikationstechnik zu seiner Verbreitung zur Verfügung. Allerdings müssten die Bedingungen, diese zu nutzen, erst noch geschaffen werden. Es mag im »islamischen Kulturkreis« an vielem mangeln, Kapital gehört jedoch nicht dazu. So wie die europäische Aufklärung aus den Zentren die Peripherie erreichte, könnten die Golfstaaten mit ihren obszönen Reichtümern ihre Glaubensbrüder in Sachen Aufklärung voranbringen. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade jene Kräfte, die die Situation verändern könnten, zeigen kein Interesse daran.
Die besondere »Weltangepasstheit des Islam« nannte Max Weber die ausgeprägt politischen Elemente, die in solchen Empörungskampagnen zum Ausdruck kommen: Machterhalt, Expan­sion und Wahrung der ökonomischen Interessen, das sind die Maßgaben, nach denen solche Ereignisse sich vollziehen, nicht verletzte religiöse Gefühle. Die Erregungsschwelle der Massen wird als wohlfeiles Mittel bewusst niedrig gehalten.

Das Bild vom Exoten
Aber religionssoziologische Erklärungen sind nicht mehr gefragt. Stattdessen wird mit Hinweis auf die »Kultur« entschuldigend – oder besser: schulterzuckend – der Missstand konserviert: »Da kann man nichts machen, die sind eben so!« Eine modische Lesart stellt die Kritik an den Machtverhältnissen unter das Verdikt des nachkolonialen Rassismus. Dabei ist gerade diese Lesart rassistisch, die den Menschen die Möglichkeit der Veränderung abspricht, sie zu ewigen »Kindern Gottes« macht, die ihrem kollektiven Rationalisierungsdefizit ausgeliefert bleiben. Tatsächlich ist der Umgang mit »postkolonialen« Sehgewohnheiten längst zur Waffe der Religiösen geworden. Sie liefern dem Westen die Bilder, die er sehen möchte. Die Schaffung einer medialen Drohkulisse fanatisierter Massen zum Zweck der politischen Dauererpressung ist keine schlechte Leistung für eine angeblich vom Bilderverbot tief geprägten Kultur. Sie festigt das essentialistische Bild, das die islamische Politik von sich zeichnen will: als feste Burg gegen die Einflüsse des dekadenten Westens. Bislang hat die Strategie Erfolg, und so scheint die Medienkompetenz dort höher als hier. Doch irgendwann werden sich auch die »islamischen Massen« entscheiden müssen, ob sie als verfügbarer Mob agieren oder zum Subjekt ihrer Geschichte werden wollen. Die Aufklärung musste sich in Europa gegen heftige Widerstände durchsetzen, mal revolutionär, mal im Kompromiss, aber immer im Konflikt. Sie ist noch lange nicht abgeschlossen.