Radikaler Flüchtlingsprotest und staatliche Flüchtlingspolitik

Auf der Flucht und in der Offensive

Die Flüchtlingsproteste in Deutschland sind so stark und radikal wie nie. Hinsichtlich der staatlichen Flüchtlingspolitik sind jedoch schon länger einige Verbesserungen zu verzeichnen.

Das hat es seit elf Jahren nicht gegeben: Über den »Protestmarsch der Asylbewerber« berichtete, durchaus wohlwollend, am Freitag voriger Woche sogar die Tagesschau in ihrer 20-Uhr-Ausgabe, direkt nach der Eurokrise. Seitdem das No-Border-Camp im Juli 2001 den Frankfurter Rhein-Main-Flughafen blockiert hatte, waren inländische Flüchtlingsproteste nicht mehr so prominent in deutschen Medien vorgekommen. Fast alle überregionalen Zeitungen und viele Fernsehsender haben über die Aktionen berichtet, mit denen Flüchtlinge und Geduldete für bessere Lebensbedingungen kämpfen. Als die Marschierer am Freitag nach 600 Kilometern Berlin erreichten, war der Jubel über die öffentliche Aufmerksamkeit auf den einschlägigen Mailinglisten groß. Dass die Wahrnehmungsschwelle der Mainstream-Medien überwunden werden konnte, ist weder Glück noch Zufall: Die Intensität und der Organisationsgrad der gegenwärtigen Proteste gehen über alle früheren Aktionen weit hinaus. Einen so lange anhaltenden und radikalen Kampfzyklus hat die Flüchtlingsbewegung in Deutschland noch nicht zuwege gebracht.

Nachdem sich am 29. Januar der Iraner Mohammad Rahsepar in einem Asylbewerberheim in Würzburg – untergebracht in der ehemaligen »Adolf-Hitler-Kaserne« – umgebracht hatte (Jungle World 18/12 und 32/12), kam es zunächst in Bayern zu einer Vielzahl von Flüchtlingsprotesten. Schon seit Jahren hatte es vor allem in Bayern immer wieder Aktionen gegen die Unterbringung in den abgelegenen, heruntergekommenen, überfüllten Lagern, gegen die Residezpflicht und die Ausgabe von Lebensmittelpaketen statt Bargeld gegeben. Doch die waren nach einer gewissen Zeit immer wieder abgeebbt und Bayerns CSU-Sozialministerin Christine Haderthauer war stets hart geblieben. »Mehr als zwei Drittel der Asylantragsteller missbrauchen unser Gastrecht. Wem es hier nicht passt, der kann ja wieder gehen«, mit diesen und ähnlichen Worten hatte Haderthauer es wiederholt abgelehnt, Forderungen der Flüchtlinge zu erfüllen.
Doch nach dem Tod Rahsepars mochten diese nicht mehr nachgeben. Für sie war klar: Das Lagersystem, das sie alle quält, hatte den labilen Rahsepar in den Suizid getrieben. »Wir leiden unter dem langwierigen, Jahre anhaltenden Prüfungsprozess unserer Asylanträge und hoffen jeden Tag darauf, dass sich diese Folter der Ungewissheit schnellstmöglich zum Besseren wendet. Diese Ungewissheit und dass uns keinerlei Selbständigkeit im Alltag gewährt wird, wir außerdem wie Gefangene gehalten werden, zermürbt uns und treibt uns Schritt für Schritt in den Tod«, mit diesen drastischen Worten wandten sie sich im März an die Öffentlichkeit. Zunächst in Würzburg und dem fränkischen Aub bauten sie Zelte für Dauermahnwachen in Innenstädten auf. Sie nähten sich ihre Münder zu und erstritten vor Gericht das Recht, so zugerichtet in der Fußgängerzone zu sitzen. Monatelang nahmen sie keine feste Nahrung zu sich. Ihr Eskalationswille machte sie schnell in ganz Deutschland bekannt. In kurzer Zeit schlossen sich Flüchtlinge in weiteren Städten an.
Dabei konnten sie ein Netz von Kontakten nutzen, das seit Mitte der neunziger Jahre existiert. Damals haben sich erstmal Asylbewerber in Deutschland zusammengeschlossen, Vorreiter waren afrikanische Flüchtlinge in ostdeutschen Lagern. Sie gründeten im thüringischen Jena das »Voice Refugee Forum«, 1998 entstand die bundesweite Schwesterorganisation »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen«. Die autonome Linke und die Flüchtlingsräte solidarisierten sich schnell mit ihnen, das Verhältnis blieb jedoch nie frei von Spannungen: Während vielen Deutschen der teils orthodoxe Internationalismus und Antiimperialismus der Flüchtlingsorganisationen fremd blieb, waren die Flüchtlinge stets bestrebt, von den deutschen Unterstützern nicht paternalistisch vereinnahmt zu werden. Dies verhinderte eine schlagkräftige gemeinsame Organisation, auch wenn im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von gemeinsamen Kampagnen entstanden. Mehrheitlich blieben die Aktionsformen jedoch entweder deutsch (etwa die Deportation-Class-Kampagne oder die Grenz- bzw. No-Border-Camps) oder migrantisch (etwa die Kampagnen gegen Botschaftsvorführungen oder für die Aufklärung des Todes von Oury Jalloh). Die verschiedenen Fraktionen der antirassistischen Bewegung agierten oft neben- statt miteinander. Nun aber scheint es, als habe mit dem Marsch und der »Tent Action« die gesamte Szene endlich das gefunden, wonach sie seit über zehn Jahren gestrebt hatte: einen gemeinsamen bewegungspolitischen Fixpunkt.

Das ist vor allem einer Gruppe junger Iranerinnen und Iraner zu verdanken, die die derzeitige Protestwelle entscheidend prägen. Viele von ihnen sind kaum älter als Mitte 20 und haben sich in der »Grünen Bewegung«, den iranischen Oppositionsprotesten gegen die Wahlfarce im Jahr 2009, radikalisiert. Nach ihrer Flucht nach Deutschland landeten sie in nordbayerischen Sammelunterkünften, ihre Anerkennung als politische Flüchtlinge ließ das Bundesamt lange offen. Zur Begründung ihres Hungerstreiks schrieben sie: »Wir deuten die Untätigkeit der für unsere Asylanliegen verantwortlichen politischen Kräfte als Duldung der Handlungen des faschistischen iranischen Regimes. Wir möchten betonen, dass unsere Entscheidung weder als Heldentum verstanden werden noch Selbstmordabsichten zum Ausdruck bringen soll.« Aus dem Duktus der Zeilen spricht die Verbindung ihrer linksradikalen Haltung mit den noch frischen politischen Erfahrungen in ihrem Herkunftsland. Das unterscheidet sie von vielen anderen Flüchtlingsaktivisten in Deutschland, die oft erst hier, als Reaktion auf die Isolation und Entrechtung in Deutschland, politisch aktiv wurden.
So ist zu erklären, dass sich die Flüchtlingskämpfe ausgerechnet am Ende einer fast 20 Jahre dauernden Eiszeit in Sachen Asylpolitik in Deutschland radikalisieren. Seit dem »Asylkompromiss« 1993 ging es mit den Flüchtlingsrechten kontinuierlich abwärts. Lange konnten die Kämpfe von The Voice, der Karawane, von Flüchtlingsräten und deutschen Grenzregime-Gegnern zwar immer wieder Abschiebungen stoppen und Öffentlichkeit für bestimmte Themen herstellen, am politischen Trend änderte sich jedoch nichts. Seit einiger Zeit sind nun eine Reihe von Verbesserungen in fast allen Bereichen zu verzeichnen, gegen die sich der Protestmarsch richtet. Die europaweit einmalige Residenzpflicht etwa, die es Flüchtlingen verbietet, den ihnen zugewiesenen Bereich ohne kostenpflichtige Sondererlaubnis zu verlassen, wurde gelockert: In sieben Flächenländern ist die Bewegungsfreiheit nicht mehr auf den Landkreis, sondern nur noch auf das Bundesland beschränkt, dasselbe gilt ohnedies für Stadtstaaten. Thüringen hat 2010 eine etwas bizarre Zwischenlösung eingeführt, die sich nicht lange halten dürfte. Mittelfristig könnte die ganze schikanöse Regelung kippen.

Auch das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz steht möglicherweise vor dem Aus. Im Juli entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Geduldete und Asylbewerber bei den Sozialleistungen gleichgestellt werden müssen. Demnächst wird das Bundessozialministerium einen Vorschlag für neue Sätze vorlegen, es wird erwartet, dass sich diese in etwa auf Hartz-IV-Niveau befinden werden. Die rot-grün regierten Bundesländer Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz wollen das Gesetz gleich ganz kippen – das hätte für sie auch noch den Vorteil, dass der Bund sich erstmals an den Leistungen beteiligen müsste. Es ist durchaus vorstellbar, dass so auch die in manchen Ländern wie Baden-Württemberg, Bayern oder Brandenburg gängige bevormundende Praxis der Ausgabe sogenannter Sachleistungen – Gutscheine oder gar fertige Lebensmittelpakete – statt Bargeld ein Ende findet.
Die Heimunterbringung, die viele Flüchtlinge als besonders belastend beschreiben, ist ebenfalls rückläufig. Viele Jahre hatten die Gemeinden, Landkreise und anderen Gebietskörperschaften auf den Heimen bestanden, um die Flüchtlinge zu isolieren und ihren Aufenthalt in Deutschland möglichst unattraktiv zu machen. Dafür waren sie bereit, den meist privaten Betreiberfirmen mehr zu zahlen, als den Flüchtlingen bei regulärem Hartz-IV-Bezug an Mietzuschuss zugestanden hätte. Diese Bereitschaft schwindet: Bundesweit gehen immer mehr Kommunen zur günstigeren sogenannten dezentralen Unterbringung über. Doch die Verbesserungen sind nicht überall gleichermaßen zu spüren. Und gerade Bayern scheint sich auf die Rolle des Hardliners festgelegt zu haben.
Auch wenn noch unklar ist, wie die Protestaktionen konkret weitergehen – was sie grundsätzlich wollten, hätten die Flüchtlinge bereits entschieden, schreibt der Sprecher des Protestmarsches, der Iraner Ashkan Khorasani: Sie wollten »so lange in Berlin bleiben, bis wir mit vereinten Kräften die jahrzehntelangen Kämpfe um menschenwürdige Asylrechte zu ihrem langersehnten Ziel führen«.