Die Stimmung in den Swing States

Swing Time!

Welche Auswirkungen der Wirbelsturm »Sandy« auf den Wahlausgang haben wird, wird vermutlich von Barack Obamas Katastrophenmanagement abhängen. Der Wahlkampf selbst war lang und wenig spektakulär. Dass Barack Obama überhaupt noch als Favorit gilt, ist die eigentliche Überraschung.

Wenige Tage vor der Wahl ist es überhaupt nicht sicher, wer der nächste Präsident der USA sein wird. Vor vier Jahren ließen sich hope und change besser verkaufen als die Botschaft, die mehr oder weniger deutlich diesen Wahlkampf bestimmt hat: Es waren vier harte Jahre, aber mit einem anderen Präsidenten ginge es euch heute noch viel schlechter. Und welcher Präsident ist mit einer Arbeitslosenquote von mehr als sieben Prozent jemals im Amt bestätigt worden? Dass Obama immer noch als Favorit gilt, ist daher überraschend.
»Hätte er im ersten TV-Duell gut abgeschnitten, wäre die Partie bereits entschieden. Mitt Romney ging von einer schwächeren Position aus, allein dass er präsidentenhaft rüberkam, war für ihn ein Sieg.« Das ist die Meinung des Wahlkampfexperten Robert Shrum, der 1994 in Massachusetts den erfolgreichen Wahlkampf Ted Kennedys um den Senatorenposten gegen Romney leitete, sowie den weniger erfolgreichen Wahlkampf von John Kerry gegen George W. Bush 2004. »Aber die TV-Duelle sind nur für einen kleinen Teil der Wählerschaft entscheidend«, so ­Shrum, »seit der Bush-Ära ist dieses Land politisch tief gespalten.«
Der Wahlkampf, der in wenigen Tagen zu Ende geht, war lang und unspektakulär. Beide Kandidaten haben es vorgezogen, den jeweiligen Gegner anzugreifen, anstatt Vorschläge für die Zukunft anzubieten. Sowohl Obama als auch Romney haben versucht, die Enttäuschten und die Unentschlossenen für sich zu gewinnen. Obama hat eine Reform des Immigrationsgesetzes, Steuern für die Reichen und Investitionen in die Infrastruktur und die Bildung versprochen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Romneys Wirtschaftsprogramm sieht die Senkung der Steuern, Kürzungen der Sozialprogramme, mehr Militärausgaben und zugleich die Senkung des Defizits vor. Im Grunde ist das jedoch die Wirtschaftspolitik von George W. Bush, die dieses Defizit produziert hat. Darüber hinaus hat Romney die Abschaffung zweier Reformen angekündigt, die unter Obama verabschiedet wurden: die Gesundheitsreform und das Gesetz zur Bankenregulierung.
In Leesburg, einem idyllischen Städtchen im Norden des Bundesstaats Virginia, tritt heute Michelle Obama auf. »Ich habe mich erst in den vergangenen zwei Wochen entschieden, wählen zu gehen«, erzählt die Besucherin Kate Williams kurz vor Beginn der Veranstaltung. Sie sei schockiert von den Aussagen einiger republikanischen Kandidaten über Vergewaltigung und Abtreibung: »Von Obama bin ich enttäuscht, aber wenn es noch Leute gibt, die behaupten, eine Abtreibung sei inakzeptabel, selbst nach einer Vergewaltigung, dann gehe ich sehr wohl wählen.« Ihre Freundin Vicky klingt etwas überzeugter: »Ich bin hier, um Michelle Obama zu unterstützen, weil ich denke, dass wir dazu beitragen sollen, unser gemeinsames Wohl zu erreichen«, sagt die Grundschullehrerin. »Wir wollen bei wichtigen Themen wie der Gesundheitsreform, der Abtreibung und der Verhütung keinen Rückschritt erleben.«
In Vorstädten wie dieser wird die Wahl entschieden. Virginia gehört zu den swing states, in denen der Wahlausgang knapp zu werden verspricht, ansonsten gilt allgemein: In den Großstädten und im Norden des Landes wählt man eher Obama, im Süden eher Romney.
Die Moderatorin der Wahlveranstaltung wirkt etwas erschöpft; bevor sie die First Lady auf die Bühne bittet, beschreibt sie mit gebrochener Stimme ihr derzeitiges Leben: »Seit einem Jahr pflege ich meinen chronisch kranken Ehemann, der früher LKW-Fahrer war. Ohne die Gesundheitsreform und weitere Formen der Unterstützung würden wir es nicht schaffen. Ich gehöre zu den 47 Prozent, von denen Romney spricht.« Dana, so heißt die Dame, bezieht sich auf ein anonymes Handy-Video von einer Spendengala in Florida, in dem Romney seinen reichen Spendern erklärt: »47 Prozent der Menschen sind abhängig vom Staat und werden ohnehin nicht für mich stimmen.« Diese Leute, die keine Einkommenssteuer zahlen und sich selbst als Opfer sähen, seien alle Obama-Wähler, fügte er hinzu. Ein PR-Desaster für den republikanischen Kandidaten, der sich inzwischen für seine Aussagen öffentlich entschuldigt hat. Zwar waren im Grunde in erster Linie die Afroamerikaner und Latinos gemeint, aber auch die republikanischen Wähler unter den Rentnern, Kriegsveteranen und working poor fühlten sich von diesen abfälligen Kommentaren getroffen.

Auch Ohio ist ein wichtiger swing state. In den Umfragen liegt Obama dort vorn, was erkennbar mit seiner Wirtschaftspolitik zusammenhängt. 2009 wurde ein Bailout für die Autoindustrie beschlossen, das viele Firmen vor dem Bankrott rettete. »In Ohio ist jeder Achte direkt oder indirekt in der Autoindustrie beschäftigt«, erklärt John Russo, Arbeitssoziologe und Dozent an der Universität von Youngstown, einer Stadt, die einst ein wichtiger Standort für die Stahlindustrie war und heutzutage nur noch eine kleine von leerstehenden Fabrikgebäuden umgebene Provinzstadt ist.
Sandra, 54, geht nach eigenen Angaben unregelmäßig wählen. »Ich wohne in Youngstown, dort hat General Motors jüngst Geld in eine Fabrik investiert«, erzählt sie, »wir hatten nicht damit gerechnet. Das hat uns gerettet. Ohio ging es schon lange vor der Krise schlecht.« Sie werde dieses Mal wählen gehen. So wie vermutlich viele der Zuschauerinnen und Zuschauer es tun, die heute nach Parma gekommen sind, um Bill Clinton und Bruce Springsteen zu sehen. »The Boss« hat dann auch »Youngstown« gesungen, ein Lied, in dem es um einen Arbeiter aus der Stadt geht, die gerade um die Ecke liegt, und der seinen Job verliert: »Seven hundred tons of metal a day, now Sir you tell me the world’s changed, once I made you rich enough, rich enough to forget my name«, heißt es darin. Viele der knapp 4 000 Leute, die an diesem Tag hier sind, wissen, wovon Springsteen singt.

»Seit den achtziger Jahren hat die US-amerikanische Arbeiterklasse für die Republikaner, also im Prinzip gegen ihre eigenen Interessen gestimmt«, sagt Russo. »2008 änderte sich das. Ohio ist exemplarisch dafür, dort haben 44 Prozent der weißen Arbeiterklasse Obama gewählt. Romney spricht eher den religiösen Teil der Arbeiterklasse an.« Darüber hinaus beziehe sich der republikanische Kandidat auf die Kleinunternehmer. »Damit sind nicht nur Händler oder Inhaber von Kleinbetrieben gemeint«, führt Russo aus, »als ›Kleinunternehmer‹ bezeichnet er auch die Leute, die Patchwork-Existenzen führen und mehrere prekäre Jobs annehmen müssen, um einen gewissen Lebensstandard zu erhalten.« Diesen Leuten, so Russo, biete Romney »die Vision einer komplett entbürokratisierten, also deregulierten Ökonomie«, die de facto keinen Sozialstaat vorsieht. Allerdings handele es sich oft um junge Leute, die hinsichtlich ethischer Themen wie der Homoehe und Abtreibung viel weiter seien als die Republikaner und eher liberale Positionen verträten.
Auch in Ohio brauchte Obama eine gezielte Kampagne. Wichtig ist vor allem, die Leute mit jedem Mittel dazu zu bewegen, wählen zu gehen. In den USA ist Wählen eine komplexe Angelegenheit. Zumal die Republikaner in den von ihnen regierten Bundesstaaten – Ohio gehört auch dazu – die Teilnahme an der Wahl mit allen Mitteln zu erschweren versuchen. Etwa durch Gesetze, die die Eintragung in die Wählerlisten – um die sich die Bürgerinnen und Bürger selbst kümmern müssen – komplizierter machen. Vor allem mit einer zusätzlichen Ausweispflicht, die Millionen Menschen, die keinen Personalausweis besitzen, von der Wahl ausschließen. Es handelt sich dabei nicht nur um die clandestinos, die papierlosen Migranten. Weil in den USA Personalausweise keine Pflicht sind, wird die Verschärfung der Prozeduren, mit denen man sich für die Wahl einträgt, auch weiße und afroamerikanische Mitglieder der underclass abschrecken, so dass viele Leute vermutlich beschließen werden, nicht wählen zu gehen. Es sei denn, Wahlkampfhelfer kommen an die Haustür. Darüber gibt es eine Art Wissenschaft, die »get out the vote« genannt wird.

Sasha Issenberg, Jurist, Journalist und Autor des Buchs »The Victory Lab«, in dem er analysiert, wie die Parteien die eigenen Wähler mobilisieren, erklärt: »Um potentielle Wähler an die Urnen zu bringen, gelten die Techniken der Verhaltenspsychologie.« Manchmal sei die explizite Erwähnung von Politik gar nicht nötig oder sogar kontraproduktiv. Klopft zum Beispiel ein lokaler Wahlhelfer an die Tür eines potentiellen Wählers, fragt er ihn nicht, wen er wählen wird, sondern: ›Um wie viel Uhr planen Sie denn, zur Wahl zu gehen?‹ Da wird die Person anfangen, seinen Tag so zu planen, dass Zeit übrig bleibt, um wählen zu gehen.« Die Wahlkampfteams der jeweiligen Kandidaten haben ihre Datenbank und wissen, bei wem es sich lohnt, jemanden vorbeizuschicken.
Wie die Wahl im Jahr 2000 zeigte, bei der George W. Bush gewann, obwohl Al Gore insgesamt mehr Stimmen erhalten hatte, ist nicht die popular vote entscheidend, also die Stimmen der einzelnen Bürger, sondern die electoral vote, die Abstimmung der Wahlmänner und -frauen des Electoral College. Dafür ist es wichtig, die Mehrheiten in den jeweiligen Bundesstaaten zu gewinnen. Insgesamt gibt es 538 electoral votes, um Präsident zu werden, braucht ein Kandidat 270. Obama gilt als Favorit in einigen Bundesstaaten mit höherer Bevölkerungsdichte. Romney könnte hingegen in den weniger bevölkerten Staaten gewinnen.
Den Ausschlag geben daher stets die swing states. Und die Entscheidung zwischen wichtigen Reformen, die in den vergangenen vier Jahren zumindest versucht wurden, und einer Rückkehr zu politischen und wirtschaftlichen Doktrinen, die dieses Land in den etwa 30 Jahren zuvor beherrscht haben, wird wahrscheinlich in Leesburg und ähnlichen Orten getroffen werden.

Übersetzung: Federica Matteoni