Abdruck aus: »Der große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao«

Nahrung als Waffe

Über den Zusammenhang von Hunger und Politik im nationalsozialistischen Krieg ­gegen die Sowjetunion.

Infolge des Angriffs des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 mussten Millionen von Sowjetbürgern den Hungertod sterben. Mit dem sogenannten Hungerplan wollte die deutsche Führung 30 Millionen Menschen im Norden Russlands verhungern lassen. Die Vernichtungspolitik durch Hunger im Osten war die Kehrseite der relativ guten Versorgung der deutschen Bevölkerung bis Kriegsende im Mai 1945. Im Nachkriegsgedächtnis der Deutschen blieb jedoch nicht der organisierte Massenmord der Nationalsozialisten an Millionen von Sowjetbürgern durch Hunger haften, sondern der sogenannte Hungerwinter in Deutschland 1946/47.

Der deutsche Hungerplan

Für die deutsche Führung war der Überfall auf die Sowjetunion ein Weltanschauungskrieg zur Vernichtung des »jüdischen Bolschewismus«. Schon vor dem Überfall hatte Hitler unter Beteiligung des Oberkommandos der Wehrmacht festgelegt, dass die Truppenkommissare der Roten Armee sowie Freischärler, Saboteure und Juden ermordet werden sollten.
Auch weil Stalin die nachrichtendienstlichen Warnungen vor dem bevorstehenden deutschen Angriff in den Wind geschlagen hatte, kam es in den ersten Kriegsmonaten zu einem militärischen Desaster für die Rote Armee. Die Deutschen eroberten das Baltikum, Weißrussland, die Ukraine und den Südwesten Russlands. Durch die großen Landgewinne der Wehrmacht gerieten nun Millionen von Juden unter deutschen Einfluss. 90 Prozent der sowjetischen Juden lebten damals in den Städten der westlichen Re­gionen des Landes.
Die deutsche Führung verfolgte mit dem Krieg gegen die Sowjetunion auch wirtschaftliche Ziele. Die Blockade der Westmächte gegen Deutschland ließ im Reich die Lebensmittelvorräte schrumpfen. Durch die Eroberung der »Kornkammer« Ukraine und die Kontrolle der Rohstoffe des Kaukasus und des Kaspischen Meeres glaubte die deutsche Führung, einen autarken Wirtschaftsblock zu schaffen, der sie in die Lage versetzte, den Krieg im Westen um Jahre fortsetzen zu können. Die Naziführung ging zwar nicht davon aus, die ganze Sowjetunion erobern zu können, wohl aber davon, dass der »Koloss auf tönernen Füßen« durch den Blitzkrieg der Wehrmacht schnell kollabieren würde.
Aus der deutschen Novemberrevolution von 1918 hatten die Nationalsozialisten die Lehre gezogen, dass die Lebensmittelversorgung an der Heimatfront um jeden Preis aufrechterhalten werden müsse. Im November 1918 hatten Matrosen und Arbeiter gegen den Krieg revoltiert und schließlich den Kaiser gestürzt. Diese Revolution wurde als »Dolchstoß« und Grund für die deutsche Kriegsniederlage gesehen.
Aufgrund dieser historischen Erfahrungen plante die deutsche Führung, dass sich die Wehrmacht in der Sowjetunion im Feld selbst versorgen sollte. Reichsmarschall Hermann Göring machte im September 1941 deutlich, dass eine Kürzung der Rationen im Reich vermieden werden und »rücksichtslose Sparmaßnahmen« nur die anderen Völker in den besetzten Gebieten treffen sollten. Göring sagte: »Selbst wenn man (außer den in deutschem Interesse Arbeitenden, F. W.) die sämtlichen übrigen Einwohner ernähren wollte, so könnte man es im neubesetzten Ostgebiet nicht.« Der Wirtschaftsstab Ost hatte schon vor dem Angriff auf die Sowjetunion den sogenannten Hungerplan entwickelt. Die Idee war einfach: Millionen Menschen sollten verhungern, um mehr Lebensmittel für die Wehrmacht und das Reich zur Verfügung zu haben. Wenn man die Mangelregionen im Norden Russlands von den Überschussregionen im Süden abschnitt, würden die dortigen Menschen verhungern und die Städte zerfallen. In dem Dokument »Wirtschaftspolitische Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft« hieß es ohne Umschweife: »Viele zehn Millionen Menschen werden in diesem Gebiet (d. h. in den Waldzonen und den Industriestädten im Norden, F. W.) überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche, die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, dass man aus der Schwarzerdezone Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockfestigkeit Deutschlands und Europas. Darüber muss absolute Klarheit herrschen (…).«
Die deutsche Führung ging davon aus, dass im Norden Russlands die Industrie zerfallen und die Viehwirtschaft zusammenbrechen würde. In einer einmaligen Aktion sollten die Pferde abtransportiert werden, um sie in den Überschussgebieten zu nutzen.
Die zentrale Figur der Lebensmittelversorgung im Reich und in den besetzten Gebieten war Herbert Backe. Er war Görings Ernährungsbeauftragter und auch für die Versorgung des Nachschubs für die deutschen Truppen im Osten zuständig. Als Mitglied im Wirtschaftsstab Ost beteiligte er sich direkt an den Ausarbeitungen des Hungerplans. Ab Mai 1942 leitete er faktisch das Landwirtschaftsministerium und löste 1944 auch offiziell seinen Vorgänger R. Walter Darré ab. Backe galt als einer der Russlandexperten der NSDAP. Er wurde 1896 in der Stadt Batumi geboren, die damals zu Russland gehörte und heute in Georgien liegt. Im Zuge des Bürgerkriegs musste er Russland 1918 verlassen und emigrierte nach Deutschland, wo er nach seinem Abschluss als Diplom-Landwirt eine Dissertation zum Thema »Die russische Getreidewirtschaft als Grundlage der Land- und Volkswirtschaft« verfasste, die allerdings von der Universität nie angenommen wurde. In Detailfragen der Lebensmittelversorgung verließen sich sowohl Hitler als auch Göring auf Backe. Im Juni 1941 veröffentlichte Backe in seiner damaligen Funktion als Sekretär des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft die »12 Gebote für das Verhalten der Deutschen im Osten und die Behandlung der Russen«. Darin hieß es unter anderem: »Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.« So war es zwar richtig, dass die russischen Bauern daran gewöhnt waren, weniger zu konsumieren als lettische oder deutsche Landwirte, trotzdem war die Aussage der reinste Zynismus, da Millionen Menschen nicht nur die Hungersnöte von 1891, 1921 und 1931 bis 1933 »ertragen« hatten, sondern auch an ihren Folgen gestorben waren.

»Kahlfraßzone«

In den ersten Monaten ernährte sich die Wehrmacht in den besetzen Gebieten zunächst durch organisierte Plünderungen. Die Spitze der deutschen Agrarverwaltung in Südrussland und der Ukraine sprach sogar von einer »Kahlfraßzone von 800–1 000 Kilometer Tiefe«, die die deutschen Truppen hinterlassen hatten. Während die deutschen Soldaten der Heeresgruppe Mitte täglich Fleischrationen von 215 Gramm bekamen, wurden in Weißrussland die Viehbestände bis September 1941 um 50 Prozent dezimiert. Im Sommer 1942 wurden die »Butter-« und die »Eierschwemme« in der Wehrmacht zum festen Begriff, ausgelöst durch die Ausplünderung des Landes. Da man fürchtete, die beschlagnahmte Butter könne verderben, wurden für die deutschen Soldaten tägliche Butterrationen von 80 Gramm ausgegeben.
Zur gleichen Zeit war die Stadtbevölkerung Weißrusslands von einer schlimmen Hungersnot betroffen. Ihr war der Verzehr von Fleisch und Butter dennoch praktisch verboten. Sie war deshalb besonders vom Hunger betroffen, weil die Nationalsozialisten sie als proletarische und jüdische »nutzlose Esser« ansahen. Da in den Städten die sowjetische Arbeiterschaft und der bolschewistische Verwaltungsapparat konzentriert waren, pflegte man gegenüber der dortigen Bevölkerung einen besonderen Hass. Die meisten weißrussischen Städte waren ohnehin durch die deutschen Bomben schwer zerstört worden.
Die deutsche Führung musste allerdings erkennen, dass der Hungerplan, wie ursprünglich vorgesehen, nicht durchzusetzen war. Man begriff, dass der Wehrmacht die Truppenstärke fehlte, um die Mangel- von den Überschussregionen abzuschneiden und um die Migration von Hungerflüchtlingen gänzlich zu unterbinden. Ebenso wenig konnte die Wehrmacht das Aufkommen von Schwarzmärkten verhindern. Ein Berater der deutschen Militärverwaltung erklärte im November 1941: »Es ist selbstverständlich, dass sich die Bevölkerung der Städte gegen das ihnen zugedachte Verhungern wehrt, das heißt, dass die städtische Bevölkerung versucht, durch Umtausch von Gebrauchsgütern des täglichen Bedarfs, die der Bauer benötigt, sich Lebensmittel zu verschaffen. Dieser Ausweg wird für die ukrainischen Mittelstädte immer möglich sein und praktisch auch durch keine Polizeiexekutive, für die es überdies an Personal mangelt, ganz zu verhindern sein.«
Da die deutsche Führung von dem Plan Abstand nahm, die komplette Stadtbevölkerung verhungern zu lassen, stellte sich die Frage, ob sie nicht besser auf das Land umgesiedelt werden sollte, um sich selbst zu ernähren. So hätten die Deutschen kein Rationierungssystem organisieren müssen. Die Stadtbevölkerung einfach auf das Land zu schicken, hatte aber auch einige Nachteile: Weil auf den Dörfern ein Mangel an Lebensmitteln herrschte, nicht aber an Arbeitskräften, würden die Städter stehlen, Unruhen verursachen und die Viehbestände schädigen. Es wurde befürchtet, dass so die ländlichen Überschüsse zuungunsten der Deutschen reduziert würden. Entgegen der ursprünglichen Planungen wurde dann für die Stadtbevölkerung doch ein Rationierungssystem eingeführt. Die Rationen reichten allerdings kaum zum Überleben aus. Für Juden gab es die geringsten Rationen, sie sollten beispielsweise keine Kartoffeln bekommen. Im Herbst 1941 begannen Sicherungsdivisionen der Wehrmacht einen Vernichtungsfeldzug gegen »Wanderer« und »Ortsfremde«, womit hamsternde Städter, Zwangsausgesiedelte und jüdische Flüchtlinge gemeint waren. Beim Versuch, die Städte stärker vom Land abzuriegeln, wurden Zehntausende Menschen ermordet.
Ein weiterer Grund, den Hungerplan zu modifizieren, war die Angst vor Seuchen und Unruhen in den Städten, da oft Zehntausende deutscher Soldaten dort stationiert waren. Diese Abkehr von den ursprünglichen Plänen hielt die deutschen Besatzer allerdings nicht davon ab, in besonderen Fällen Versuche zu machen, eine ganze Stadt aushungern zu lassen.
Im Oktober 1941 besuchte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, auf seiner Tour durch die Ukraine Kiew und war vom furchtbar »proletarischen » Aussehen der Menschen auf den Straßen enttäuscht und angewidert. In einem Gespräch mit Hitler äußerte er, dass man auch gut ohne 80 bis 90 Prozent von ihnen auskommen würde. Im Herbst und Winter 1941 versuchte die Besatzungsmacht, Kiew auszuhungern. Man verbot alle Lebensmittellieferungen in die Stadt und blockierte die Zufahrtswege vom Land. Außerhalb der offiziellen Märkte wurde der Handel streng verboten. Wie bereits die Bolschewiki im Kriegskommunismus (1918–1920), so sagten auch die deutschen Behörden den als »Sackleute« bezeichneten Hamsterern den Kampf an. Eine Person durfte nur ein Huhn, zehn Eier, einen Liter Milch, 20 Kilogramm Kartoffeln, ein Kilogramm Brot und einen Korb Gemüse transportieren. Der Rest wurde zwangskonfisziert. Kiew verwandelte sich dadurch in eine »Stadt von Bettlern«. Wie viele Menschen genau bei der Blockade starben, bleibt offen. Die Besatzungsbehörden mussten schließlich erkennen, dass sie zu wenig Soldaten und Polizisten einsetzen konnten, um die Schwarzmärkte völlig zu unterdrücken. Schließlich wurden doch wieder Rationen für die Bevölkerung eingeführt: 1 500 Gramm Brot pro Woche, rund 214 Gramm pro Tag. Nur Arbeiter in Waffen- und Eisenfabriken, Minen und Steinbrüchen wurden besser ernährt und bekamen Extrarationen. Die täglichen Rationen schwankten in Kiew im September 1942 zwischen 467 und 2 074 Kalorien pro Tag. Unter den damaligen Bedingungen hätte ein Mensch, der nicht arbeitet, mindestens 2 000 Kalorien und ein Schwerstarbeiter 4 000 Kalorien benötigt, um satt zu werden.
Auch in der ukrainischen Stadt Charkow kam es infolge der deutschen Politik zu einer schweren Hungersnot. Die Stadt wurde im Oktober 1941 von deutschen Truppen erobert, und der Terror gegen Juden und Parteikader begann. Die neue Stadtverwaltung von Charkow registrierte wegen der schlechten Versorgung allein zwischen Januar und August 1942 11 185 Hungertote. Spätere Schätzungen gehen von insgesamt 70 000 bis 80 000 Opfern des Hungers aus.
Die deutschen Behörden machten vor allem die astronomisch hohen Lebensmittelpreise auf dem Schwarzmarkt für die schlechte Versorgung verantwortlich, waren aber nicht in der Lage, das Problem in den Griff zu bekommen. Nachdem die Rote Armee Charkow im Februar 1943 zeitweise zurückerobert hatte, wurden alle Waren der Schwarzmärkte einfach beschlagnahmt und anschließend unter strenger Aufsicht zu niedrigen Preisen verkauft.
Wie viele sowjetische Zivilisten in den besetzten Gebieten in der Folge der deutschen Hungerpolitik starben, bleibt unklar. Schätzungen gehen von einigen Hunderttausenden bis hin zu Millionen aus.

Massenmord an Kriegsgefangenen

Viele Stadtbewohner konnten durch Hamsterfahrten auf das Land und durch die Schwarzmärkte überleben. Einer Gruppe blieb diese Möglichkeit jedoch verwehrt: den sowjetischen Kriegsgefangenen. Insgesamt kamen etwa 3,3 von den 5,7 Millionen Kriegsgefangenen der Deutschen ums Leben. Die meisten von ihnen starben infolge des Hungers.
Bereits zu Beginn des Kriegs teilten die politische Führung und das Oberkommando des Heeres die Auffassung, dass der materielle Aufwand für die Versorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen so gering wie möglich gehalten werden sollte. Auch hier spielte das Argument, die Ressourcen für die Versorgung der deutschen Bevölkerung zu sparen, eine zentrale Rolle. Außerdem wurden keine ausreichenden Vorbereitungen für die Unterbringung und Versorgung der Kriegsgefangenen getroffen. Ein Massensterben in den ersten Kriegsmonaten war die Folge.
Im März 1942 erhielt der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, eine Denkschrift, in der es hieß: »Von den 3,6 Millionen Kriegsgefangenen sind heute nur noch einige hunderttausend voll arbeitsfähig. Ein großer Teil von ihnen ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen. Tausende sind auch dem Fleckfieber erlegen (…). In der Mehrzahl der Fälle haben jedoch die Lagerkommandanten es der Zivilbevölkerung untersagt, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zur Verfügung zu stellen, und sie lieber dem Hungertode ausgeliefert.«
Ab Oktober 1941 sollten arbeitsfähige Gefangene offiziell 2 000 und nicht Arbeitende 1 000 Kalorien pro Tag bekommen. Es galt allerdings der Vorbehalt, dass die Nahrungsmittel »aus dem Lande« kommen sollten. Oft bekamen Gefangene kein Fett, Fleisch oder Gemüse und musste sich mit 100 bis 200 Gramm Brot und einem Liter wässeriger Brühe begnügen. Rassismus gegenüber der slawischen Bevölkerung spielte bei dieser Politik ebenfalls eine wichtige Rolle. Immer wieder wurde die angebliche Leidensfähigkeit des russischen Magens zur Rechtfertigung der mangelhaften Versorgung angeführt. Nazifunktionäre erfanden sogar ein »Russenbrot«. So hieß es: »Die Versuche über ein besonders herzustellendes Russenbrot haben ergeben, dass die günstige Mischung sich aus 50 % Roggenschrot, 20 % Zuckerrübenschnitzel, 20 % Zellmehl und 10 % Strohmehl oder Laub ergibt.« Als »Zuckerrübenschnitzel« wurde ein Rückstand bei der Zuckergewinnung aus Rüben bezeichnet.
Auch wenn Bauern in den besetzten Gebieten litten und teilweise sogar hungerten, ist davon auszugehen, dass es den deutschen Besatzern viel schlechter als den Bolschewiki gelang, die Bauern zu kontrollieren; zumal die Wehrmacht auch immer stärker dem Druck des sowjetischen Partisanenkriegs ausgeliefert war. Im Gegensatz zur sowjetischen Hungersnot von 1931 bis 1933 fand im Krieg das Massensterben in den Städten statt. Diese Tatsache spiegelt die unterschiedlichen Prioritäten der Bolschewiki und der Nationalsozialisten wider: Während Stalin und seine Genossen die Städte und die Industriearbeiter auf Kosten der Landbevölkerung schützen wollten, setzten die Nationalsozialisten den Hunger als Waffe gegen die Städte ein, um eine als rassisch minderwertig betrachtete proletarische und jüdische Bevölkerung zu vernichten. Außerdem stand dahinter auch die pragmatische, aber dennoch massenmörderische Absicht, die Wehrmacht aus dem Land heraus selbst zu ernähren.
Von 1931 bis 1933 hatten die hungernden Bauern verzweifelt versucht, Zugang zum städtischen Rationierungssystem zu bekommen, und wurden daran durch Maßnahmen wie dem Inlandspass-System und Deportationen aus den Städten gehindert. Von 1941 bis 1943 suchten die Städter hingegen auf dem Land nach Nahrung und mussten befürchten, von den Sicherungsdivisionen der Wehrmacht erschossen zu werden.
Es ist davon auszugehen, dass sich in den Städten unter den Arbeitern und im Verwaltungsapparat die meisten Anhänger des sowjetischen Systems befanden. Die Aushungerung der Städte durch die Nationalsozialisten war in diesem Sinne auch durchaus eine antikommunistische Maßnahme. Der Unterschied zwischen den Hungersnöten unter den Bolschewiki und den Nationalsozialisten besteht darin, dass Stalin keinen Plan aufgestellt hatte, Teile der Bevölkerung durch Hunger zu vernichten, sondern in einer schweren Agrarkrise Prioritäten zu­ungunsten der Bauern setzte.

Mehr Tote als in Hiroshima

Zu den schlimmsten Verbrechen der Nationalsozialisten im Zusammenhang mit der Hungerpolitik gehört die 900 Tage andauernde Belagerung von Leningrad. Nach offiziellen sowjetischen Angaben starben 641 803 Leningrader Bürger an Hunger und 17 000 durch deutsche Bomben. Wissenschaftler sprechen heute von 700 000 bis zwei Millionen Hungertoten. Zu Beginn des Krieges lebten rund 3,2 Millionen Menschen in der zweitgrößten Stadt der Sowjetunion.
Selbst wenn wir die niedrigste Schätzung der Opferzahlen nehmen, verursachte die Belagerung die größte städtische Hungersnot des 20. Jahrhunderts. Es starben mehr Menschen als beispielsweise durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945. Im Zuge der Verteidigungsschlachten um Leningrad verlor die Rote Armee außerdem über 980 000 Soldaten, zwei Millionen wurden verwundet.
Bereits Anfang Juli 1941 teilte Hitler dem Oberkommando der Wehrmacht seine Absicht mit, Moskau und Leningrad »dem Erdboden gleichzumachen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten«. Auch die militärische Führung machte klar, dass man an einer sofortigen Eroberung oder Kapitulation der Stadt kein Interesse habe. Zum Beispiel schrieb am 18. September 1941 die Seekriegsleitung an die Heeresgruppe Nord: »Sich aus der Lage in der Stadt ergebende Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann und soll. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unserseits nicht. Notfalls soll die gewaltsame Abschiebung in den östlichen russischen Raum erfolgen.« Die Blockadepolitik hatte nicht nur »pragmatische« Gründe, die Bevölkerung nicht ernähren zu wollen. Leningrad war als Stadt der Oktoberrevolution bei den Nationalsozialisten besonders verhasst. Sie wollten den Ausgangspunkt der bolschewistischen Revolution zerstören.
Für die sowjetische Regierung war die Verteidigung Leningrads von großer strategischer Bedeutung. Sollte die Stadt fallen, drohte eine Offensive der Deutschen und Finnen von Norden auf Moskau. Außerdem war die Stadt eines der wichtigsten Industriezentren des Landes. Stalin beauftragte deshalb einen seiner besten Generäle, Georgi Schukow, mit der Verteidigung. Die Parteiführung der Stadt hatte Andrei Schdanow inne, der mit eiserner Faust dafür sorgte, dass im Unterschied zur Lage in Moskau beim Vorrücken der Wehrmacht in Leningrad keine große Panik auftrat und es auch trotz der Hungersnot zu keinen Aufständen kam. Die politische Polizei, der NKWD, spielte dabei eine zentrale Rolle. Die Belagerung begann am 8. September 1941, und die Lebensmittelvorräte in der Stadt gingen schnell dem Ende entgegen. Anfang November waren nur noch Mehlvorräte für sieben Tage, Fett für 14 Tage und Zucker für 22 Tage vorhanden. Der Wehrmacht war allerdings keine vollständige Blockade gelungen, da immer noch LKW über den zugefrorenen Ladogasee, die sogenannte Straße des Lebens, Lebensmittel herbeischaffen konnten. Für die Fahrer war dies allerdings ein lebensgefährliches Unterfangen, da die Eisdecke oft zu dünn war und außerdem die deutsche Luftwaffe die Strecke immer wieder bombardierte.
Die Lebensmittelrationen der Leningrader mussten trotz der »Straße des Lebens« weiter gekürzt werden. Im September erhielten Arbeiter noch eine 600-Gramm-Brotration pro Tag und Kinder 400 Gramm. Anfang Oktober wurden die Rationen auf 400 Gramm für Arbeiter und 200 Gramm für Kinder gekürzt. Fleisch, Kartoffeln und Kohl waren nur noch schwer zu bekommen. Im November kündigte die Stadtverwaltung die nächste Kürzung der Brotrationen an, auf 250 Gramm für Arbeiter sowie 125 Gramm für Angestellte und Kinder. Im Winter 1941/42 kam es zu einem furchtbaren Massensterben in der Stadt. In diesem Zeitraum waren die meisten Opfer während der gesamten Blockade zu beklagen. Auch in dieser Hungersnot kamen wieder die Hierarchien des sowjetischen Rationierungssystems zum Ausdruck. Mitarbeiter des NKWD und der Miliz, das Personal im Militärstab, leitende Parteifunktionäre sowie Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften erhielten Sonderrationen.
Auch gewöhnliche Parteimitglieder bekamen zusätzliche Marken für Mittagessen. Arbeiter und Ingenieure in 100 Fabriken, die für Rüstungsproduktion tätig waren, erhielten eine kostenlose Zusatzversorgung in den Betriebskantinen. Ein Platz in der Stammbelegschaft eines Industriebetriebes konnte lebensrettend sein.
Die Gruppe, die am schlimmsten vom Hunger getroffen wurden, waren Flüchtlinge, die vor der Wehrmacht in die Stadt geflohen waren. Alte, Kranke und Kinder starben in der Regel als Erste. In den meisten Gebäuden funktionierte weder die Strom- noch die Wasserversorgung, die ständige Kälte verstärkte den Hunger noch. Auf den Schwarzmärkten schnellten die Preise in die Höhe. Einem Bericht des NKWD vom Dezember 1941 zufolge bekam man für einen Damenmantel aus Kaninchenfell etwa 16 Kilogramm Kartoffeln, für eine Taschenuhr 1,5 Kilogramm Brot und für ein paar Lederstiefel drei Kilogramm Brot. Trotz aller Versuche gelang es weder der Polizei noch dem NKWD, die Schwarzmärkte erfolgreich zu unterdrücken. Außerdem waren viele Menschen für ihr Überleben auf die zusätzliche Versorgung angewiesen.
Berge von Leichen stapelten sich auf den Friedhöfen. Es war schwierig, unter den abgemagerten Menschen noch Totengräber zu finden, weil die meisten keine Kraft mehr hatten. Der Kälte war es allerdings zu verdanken, dass keine schlimmen Seuchen ausbrachen, wie es während der Hungersnot von 1921 der Fall gewesen war. Im Winter verschwanden auch die Katzen aus dem Straßenbild Leningrads. In einem Bericht des NKWD wird ein Arbeiter zitiert: »Ich als Arbeiter erhalte 250 Gramm Brot pro Tag und in der Kantine einen Teller trübes Wasser und als Hauptgericht einen Löffel Bohnen. Das ist die Tagesration. Ich bin stark abgemagert. Neulich habe ich eine Katze gefangen, sie geschlachtet, und dann haben Bessonow und ich sie gekocht und gegessen. Selbst über eine Katze freue ich mich, aber es gibt schon keine mehr.«
Der Diebstahl von Lebensmitteln und Lebensmittelkarten war weit verbreitet. Wohnungen von Bürgern, die zur Front abkommandiert oder evakuiert worden waren, wurden geplündert. Der NKWD war nicht in der Lage, Diebstähle völlig zu unterbinden, und entwickelte deshalb die Strategie, hart gegen Banden und organisierten Schwarzhandel vorzugehen, aber bei kleineren Diebstählen zur Selbstversorgung ein Auge zuzudrücken. Erschießungen wegen der Entwendung eines Brotes blieben deshalb die Ausnahme.
In besonders extremen Fällen kam es auch zu Kannibalismus, und auf den Schwarzmärkten wurde sogar Menschenfleisch gehandelt. Am 3. Dezember 1941 schickte der Leiter des NKWD der Gebietsverwaltung Leningrad eine besondere Mitteilung an seinen Chef Lawrenti Beria: »Im Zusammenhang mit Problemen bei der Lebensmittelversorgung in Leningrad ist es in letzter Zeit zu neun Fällen von Kannibalismus gekommen: 1. K. – geb. 1912, Ehefrau eines Rotarmisten, erstickte ihre eineinhalbjährige, jüngste Tochter. Sie verwendete die Leiche, um für sich und ihre drei Kinder Nahrung zuzubereiten (…) 3. Am 30. November tötete der zeitweilige Arbeitslose V., der früher als Meister in einer Reifenfabrik gearbeitet hatte, seinen Mitbewohner Z., der in derselben Fabrik beschäftigt war, geb. 1923. V. sagte aus, er habe den Mord begangen, da er Hunger gehabt habe und beabsichtigt habe, den Leichnam von Z. zu verzehren (…).« Insgesamt sollen während der Blockade 1 500 Personen wegen Kannibalismus oder des Verkaufs von Menschenfleisch angeklagt worden sein. Viele der Täter wurden sofort vor ein Erschießungskommando gestellt.

Leningrads »doppelte Tragödie«

Solange die Sowjetunion als Staat bestand, wurde die Verteidigung Leningrads als Heldenmythos inszeniert, in dem sich Bürger und Soldaten selbstlos für das Vaterland im Kampf gegen die deutschen Faschisten opferten. Schwarzmärkte, Diebstahl, Terror oder Kannibalismus hatten in diesem Narrativ keinen ­festen Platz. Auch während der Blockade verfolgte der Repressionsapparat vermeintliche politische Gegner sowie als unzuverlässig eingestufte Bevölkerungsgruppen. Aus der Stadt wurden zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1942 nicht nur 58 210 Finnen und Deutsche deportiert, sondern auch 40 231 »sozialfremde« und 30 307 »kriminelle Elemente«. Auch Intellektu­elle litten unter Repressionen. Allein im Frühjahr 1942 verhaftete der NKWD rund 100 Wissenschaftler wegen angeblicher »konterrevolutionärer Verschwörung«.
Nach dem Ende der Sowjetunion wurden einige Stimmen laut, die behaupteten, dass es besser gewesen wäre, wenn Leningrad kapituliert hätte, anstatt so viele Menschen den Hungertod sterben zu lassen. Angesichts der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und der Pläne, Leningrad dem Erdboden gleichzumachen, stellte eine Kapitulation jedoch keine ernsthafte Alternative zum Durchhalten dar. Juden und Kommunisten wären von den Nationalsozialisten ermordet und der Rest der Bevölkerung dem Hunger ausgeliefert worden. Außerdem band die Front um Leningrad über 300 000 Soldaten der Achsenmächte. Das entsprach rund zwölf Prozent der Truppen der Achsenmächte an der Ostfront. Der Fall Leningrads hätte es der deutschen Wehrmacht ermöglicht, weiter nach Osten vorzustoßen und noch größere Teile Russlands zu besetzen. Heute behaupten einige Historiker, dass Stalin Leningrad nicht zu Hilfe kam, obwohl er die militärischen Mittel dazu hatte.
Er soll die Stadt gehasst haben, weil sie ein unabhängiges Machtzentrum des Landes darstellte und in den zwanziger Jahren sogar eine Hochburg der »linken Opposition« war. Der deutsche Historiker Jörg Ganzenmüller argumentiert gegenüber dieser Sichtweise, dass es auf Grundlage des verfügbaren Archivmaterials keine Beweise dafür gebe, dass Stalin wegen einer Antipathie gegenüber Leningrad die Befreiung der Stadt hinauszögerte. Zwischen September 1941 und Januar 1943 unternahm die Rote Armee insgesamt fünf opferreiche und dennoch erfolglose Versuche, den Belagerungsring zu durchbrechen. Im August 1943 hatte die Wehrmacht keine Reserven mehr. Trotzdem entschied sich Stalin, mit der Befreiung der Stadt zu warten, um seine Truppen an wichtigeren Fronten einzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich nur noch 630 000 Menschen in der Stadt, und die Versorgungslage hatte sich gegenüber dem Winter 1941/42 deutlich verbessert. Mit dem entscheidenden Angriff auf die Belagerer bis Januar 1944 zu warten, sei nach Ganzenmüller militärstrategisch durchaus nachvollziehbar gewesen. In Stalins Gesamtstrategie hatte die frühzeitige Erleichterung des Kriegsalltags der Leningrader Bevölkerung keine Priorität.
Andere Historiker sprechen wiederum von einer »doppelten Tragödie« Leningrads, da die Parteiführung das Leiden der Stadt durch Fehlentscheidungen, Inkompetenz, Desorganisation und Menschenverachtung verstärkt habe. Oft wird angeführt, dass eine demokratische Regierung nicht so sorglos mit Menschenleben umgegangen wäre und die Sowjetunion ohne den Stalinismus den Krieg gegen Deutschland hätte gewinnen können, sogar mit weniger Opfern. Die menschlichen und wirtschaftlichen Belastungen, die westliche Demokratien im Zweiten Weltkrieg aushalten mussten, sind jedoch mit denen der Sowjetunion nicht zu vergleichen. Es ist völlig unklar, welche Alternative die Führung um Schdanow zur mehrfachen Kürzung der Lebensmittelrationen hatte, es gab schlichtweg keine weiteren Vorräte. Die Privilegien bei der Versorgung von Kadern standen zwar im Widerspruch zur Propaganda der kollektiven Entbehrungen, können das Ausmaß des Massensterbens jedoch nicht erklären.
Das Schicksal der einfachen Bevölkerung war der Parteiführung nicht gleichgültig. Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben zwischen Juni 1941 und April 1942 mehr als 1,2 Millionen Menschen unter großen Schwierigkeiten und unzähligen Luftangriffen evakuiert. Darunter waren auch viele Frauen und Kinder. Darüber hinaus wurde erfolgreich der Ausbruch von Seuchen auch nach Ende des Winters verhindert, da die Parteiführung noch in der Lage war, selbst die hungernden Menschen für Reinigungskampagnen auf den Straßen zu mobilisieren. Zwischen März und April 1942 arbeiteten täglich 300 000 Menschen in den Straßen, um Leichen und Müll zu beseitigen. Die öffentliche Ordnung konnte im Großen und Ganzen gewahrt werden. Das lag sicher nicht nur an Repressionen und Terror, sondern auch an der Vernichtungsdrohung durch die Nationalsozialisten. Außerdem war die Bevölkerung von der staatlichen Lebensmittel­rationierung abhängig und hätte deshalb unter einem Ausbruch von Chaos selbst zu leiden gehabt. Zugute kam vielen unteren Funktionären und Bürgern auch, dass sie in den Krisen der zwanziger und dreißiger Jahre schon gelernt hatten, selbständig Dinge an Ort und Stelle zu organisieren, wenn zentrale Verwaltung und Verteilung nicht funktionierten.
Generell ist es richtig, dass im sowjetischen Heldenmythos des Zweiten Weltkrieges Schattenseiten nicht vorkamen. Dazu zählen zum Beispiel die Bestrafung von Soldaten und ihrer Familien, die in deutsche Gefangenschaft gerieten, das brutale Vorgehen gegen Deserteure und auch die opferreichen Deportationen von ethnischen Minderheiten, die unter den kollektiven Generalverdacht gestellt wurden, mit den Deutschen zu kollaborieren, oder auch die Verschickung vieler heimkehrender Zwangsarbeiter aus Deutschland direkt in den Gulag. Trotzdem waren der Sieg der Sowjetunion über Nazideutschland und ihr Beitrag zur Befreiung Europas vom Faschismus eine große historische Leistung. Stalin gelang es, nach dem Desaster des Sommers 1941 die Armee neu aufzustellen und die politische Führung zu stabilisieren.
Das sowjetische System bestand seine bis dahin größte Bewährungsprobe. Die deutschen Streitkräfte erlitten etwa 80 Prozent ihrer Verluste an der Ostfront, und die Wehrmacht hatte bis 1944 ihre Hauptkräfte dort konzentriert. Ob ein anderes politisches System den Krieg hätte gewinnen können, sogar mit weniger Opfern, ist reine Spekulation. Das Russische Zarenreich ging in den Wirren des Ersten Weltkriegs unter. Die provisorische Regierung der Februarrevolution von 1917 scheiterte daran, den Krieg gegen Deutschland mit einem Friedensschluss zu beenden, und wurde gestürzt.

Der Text ist ein gekürzter und überarbeiteter Auszug aus dem Buch »Der große Hunger: Hungersnöte unter Stalin und Mao«, das der Autor soeben im Rotbuch-Verlag veröffentlicht hat.