Die Indie-Pop-Sängerin Sophie Hunger

Sophies Welt

Keine Identität, kein Konzept, kein Ziel: Die Schweizer Indie-Pop-Sängerin Sophie Hunger lässt sich durch die Strömungen des Diskursrocks treiben.

Das Leben ist ungerecht. Da verschleißt man einen Gesangslehrer nach dem nächsten oder übt tagein, tagaus, einem waghalsigen Turmspringer gleich, drei, ach was, vier Oktaven fassende Vibratohechtsprünge, und am Ende hört sich alles an wie bei Beyoncé.
Der Schweiz liebsten Exportschlager nach Präzisionsuhren und Hartkäse aus Rohmilch, die 29jährige Musikerin Sophie Hunger, kann man sich allenfalls als leicht boshaft lächelnden Zaungast solch Ohrenfelle zausender Hupfdohlendarbietungen vorstellen. Denn Hunger, die schlagfertige, angenehm eigensinnige, Grenzerfahrungen verschiedenster Art schätzende, viel gereiste Diplomatentochter mit dem erstaunlichen Faible für den rundherum farblosen Tennisstar Roger Federer, hat die Stimme. Na gut, vielleicht hat sie auch bloß eine sehr schöne, sehr ausdrucksstarke Stimme. Gleich, was sie mit ihr anstellt, stets klingt sie bemerkenswert unangestrengt. Und erinnert darin prompt an die kanadische Songwriterin Leslie Feist, deren sonorer Gesang trotz aller Zerbrechlichkeit niemals plump verzärtelt anmutet. Deepness, inszeniert mit großer Selbstverständlichkeit. Bei Hunger ist das genauso.
Die Musikerin, deren hörenswertes viertes Album »The Danger of Light« kürzlich erschienen ist, verwirrt auf angenehme Weise, denn sie singt in vielen Bedeutungsfarben zugleich: Klingt sie in dem von einem ungeraden Schunkelgroove getragenen Opener »Rerevolution« nun bedauernd, klagend, optimistisch, fordernd oder doch einfach nur zu Tode betrübt? Man kann es nicht sagen. Indes bleiben Dramen durch Ambivalenzen lebendig und sorgen für Spannung. In einem angespannten Schwebezustand befindet sich auch die Protagonistin des Stückes, eine Minirevolutionärin im Geiste, die sich nicht dazu durchringen kann, die Initiative zu ergreifen und zu handeln.
Die in Zürich lebende Künstlerin lässt sich nur ungern festlegen, und einschränken schon gar nicht. Wofür sie bisweilen gute Gründe hat. Als ein Interviewer sie fragte, ob sie ein fröhlicher oder ein melancholischer Mensch sei, musste sie beides verneinen. Bist du dies, bist du das? Wie blöd! Man liest sowas und wundert sich einmal mehr, wie bereitwillig man sich selbst, dann und wann zumindest, in banalste, dem Leben kaum gerecht werdende Klischees pressen lässt. Hunger sagt: »Das Konzept Identität habe ich nie ganz begriffen. Ich weiß nicht, was die Leute meinen, wenn sie sagen: Ich bin so und so.« Lakonisch-flapsig reagiert sie auf die bedeutungsschwer dröhnende Frage nach der »wahren« Autorschaft ihrer Musik. Wer denn ihre Musik schreibe – ob sie selbst die Autorin oder vielleicht eher »das Medium sei, durch das sich die Musik ausdrücken« wolle? Hunger: »Ich würde sagen: Ich habe keinen blassen Schimmer.« Was der Albumtitel »The Danger of Light« bedeutet, müsse sie selbst erst rausfinden, er sei ihr halt so eingefallen. An die Intuition des Künstlers, der man dringend »nachhorchen müsste«, nein, an so was glaube sie nicht. Sie wolle sich nicht durch Künstlerklischees einschränken lassen. Daher reiche es ihr, wenn sie beim Publikum Assoziationen wecke. Kontrollieren müsse sie die nicht. Und überhaupt: »Die Musik entsteht erst beim Zuhören.«
»So oder so« sind auch die Texte ihres neuen Albums nicht, und die Musik ist es auch nicht. Einen roten Faden gibt es trotzdem. Hunger ist eine flexible, phantasiebegabte, mitunter ziemlich witzige Autorin: »Ich nehme, was mir im Kopf herumschwirrt, oft ist es nur ein Bild oder ein Wort, das ich wachsen lasse wie einen Pilz.« Das Ergebnis sind elf Geschichten, erzählt in 40 Minuten. Sie handeln von der Freiheitsstatue, die sich alles andere als frei fühlt, was kein Wunder ist, da sie fest auf einem unverrückbaren Sockel steht. Sie handeln vom bedrohlichen Durcheinander im Kopf einer Amokläuferin und vom idiotischen Phrasen-Terror des »Neuen«: »30 ist das neue 20, der Mann ist die neue Frau, Freiheit ist das neue Gefängnis, Reich ist das neue Schlau, Zuckerberg ist der neue Kolumbus, der Bankman die neue Aris­tokratie, Gesundheit der neue Exorzismus.«
Mag sein, dass es sich um ausgesprochene Zeitgeistthemen handelt. Dass die Welt Songs über Innenansichten heillos krisengeschüttelter Irak-Kriegsheimkehrer so dringend braucht wie schwarze Pocken. Oder dass Hungers Geschichten jene tiefschwarze Abgründigkeit, wahrhaftige Boshaftigkeit und unfassbare Untröstlichkeit vermissen lassen, die ihrer Wiener Kollegin Gustav selbstverständlich sind. Aber Sophie Hunger ist nicht Gustav. Im deutschsprachigen Mainstream, den Hunger nun einmal repräsentiert, andernfalls würden Zeit, Spiegel Online und die NZZ keine ellenlangen Interviews bringen, ist sie gleichwohl so etwas wie ein Lichtstrahl am Horizont geklonten Schwachsinns.
Die Songs, geschmackvolle Folk- und Barjazz-Balladen, Midtempo-Gleiter, die von viel Soul ­getragen werden, anmutige Minimalrocker, energetische Stücke mithin, die von einer souveränen Spannung im Aufbau leben, so dass man lieber nicht weghören möchte – Hunger hat sie in mehreren Sessions mit dem Warpaint-Produzenten Adam Samuels in Frankreich und Los Angeles aufgenommen. Josh Klinghoffer, der Gitarrist der Red Hot Chili Peppers, der Bright-Eyes-Trompeter und Pianist Nathaniel Walcott und noch ein paar andere große Namen haben mitgewirkt. So was kostet natürlich. Aber wenn das Geld da ist und das Album dadurch besser wird – warum nicht?
Die Stücke sind so luftig arrangiert, wie sie gleichzeitig athletisch-kompakt erscheinen. Dicht am Zuhörer dran, dabei sehr räumlich – ein bisschen fühlt man sich wie auf einem Live-Konzert, was exakt der Intention Hungers entspricht, die ihre Songs live im Studio aufgenommen hat. Transparent erscheinen sie, niemals verwaschen. Man kann jede Note glasklar hören, jedes Gitarrenpicking, jedes davonschwebende Posaunensolo. Nie kann man sicher sein, wie Hunger es meint. Denn sie lügt, wie sie kokett sagt, ausgesprochen gern und ausgesprochen viel. »Ich finde es nicht schlimm zu lügen. Beziehungsweise verstehe ich den Unterschied zwischen Fiktion und Wahrheit nicht. Das ist auch eine meiner Regeln. Es ist dasselbe.« Klingt gut, ist aber Quatsch. Sym­pathisch bleiben solche Sätze trotzdem. Hunger möchte sich nicht festlegen lassen, will die Dinge, ihre Ränder, ihre Grenzen zum Verschwimmen, am besten zum Verschwinden bringen. Und in sie hineinschlüpfen. Nur zu.

Sophie Hunger: The Danger of Light (Two Gentlemen/Rough Trade)