Das Buch »Israel schafft sich ab«

Schaffe, schaffe, Zukunft baue

Gershom Gorenberg hat ein Plädoyer für eine Wiederbelebung des linken Zionismus und für eine »Zweite israelische Republik« geschrieben.

Nach Deutschland »schafft sich« nun angeblich auch »Israel ab«. So heißt das gerade erschienene Buch des liberalen israelischen, religiös-linkszionistischen Autors Gershom Gorenberg auf Deutsch. Einen provokanteren Titel hätte der Verlag für die deutsche Ausgabe des im Englischen als »The Unmaking of Israel« publizierten Textes kaum finden können, und man fragt sich, warum der Autor keinen Einspruch gegen einen Titel erhoben hat, der die geheimen Sehnsüchte vieler Deutscher ausspricht.Doch Gorenberg geht es, anders als der kleinen Schar antizionistischer israelischer Linker und ihrer großen globalen Fangemeinde, nicht darum, den israelischen Staat zu delegitimieren und die internationale Gemeinschaft der Israel-Hasser mit Argumenten auszustatten, er argumentiert vielmehr für eine Reformulierung des zionistischen Grundgedankens und für ein Art Neugründung Israels. Was bei deutschen »Israel-Kritikern« zur Bemäntelung ihrer antiisraelischen Ressentiments dient, ist bei Gorenberg ein nachvollziehbares Motiv für seine Kritik: Die Sorge um die Zukunft des jüdischen Staates, die er durch die fortdauernde, ausgesprochen kostspielige Besatzung der Westbank und durch die von diversen isra­elischen Regierungen geförderte Ausbreitung unterschiedlicher Spielarten eines militanten religiösen Extremismus bedroht sieht.
Gorenberg war lange Zeit als Redakteur des renommierten Magazins Jerusalem Report tätig und schreibt für Publikationen wie die linksliberale Haaretz und die New York Times. Seine bisherigen Bücher haben die Debatten in Israel und im englischsprachigen Raum maßgeblich beeinflusst. »The Unmaking of Israel« ist über weite Strecken eine instruktive Reflexion der Widersprüche, die im Zionismus notwendigerweise angelegt sind und eine meist überzeugende Kritik sowohl am radikalisierten nationalreligiösen Teil der Siedlerbewegung, der mittlerweile im Offizierskorps der Armee wichtige Funktionen besetzt, als auch an den Ultraorthodoxen, deren Einfluss in der israelischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren merklich zugenommen hat. Letzteres hat zu einer veritablen Gegenbewegung von säkularen, aber auch von orthodox-religiösen Israelis wie Gorenberg geführt, die sich für eine konsequente Trennung von Religion und Staat einsetzen.
»The Unmaking of Israel« prangert die im Rahmen der mannigfaltigen staatlichen Unterstützung für die nationalreligiösen Siedler erfolgte partielle Ausgliederung von Elementen der Sicherheits- und der Bildungspolitik an die Siedlerbewegung an, also die Übertragung von Verteidigungs- und Erziehungsaufgaben an »ein ideologisches Lager, das pragmatische Beschränkungen als Mangel an Glauben auffasst« und die eigene Agenda über jene des Staates stellt. Solch eine Kritik steht ganz in der Tradition von David Ben Gurions Konzeption des Mamlachtiyut. Mit diesem mit »Staatlichkeit« oder »Etatismus« nur unzureichend übersetzten Konzept, das Gorenberg in anderen Zusammenhängen kritisiert, wollte der pragmatische erste Premierminister Israels ein spezifisches Verständnis von jüdischer Staatlichkeit und von souveränem Handeln sowohl nach innen als auch nach außen ausdrücken: Es beinhaltete die Konzentration auf das Wesentliche der zionistischen Idee, der alle anderen partikularen Ansprüche, seien sie säkular oder religiös begründet, untergeordnet werden. Gorenbergs detaillierte Schilderung der Besatzungsrealität, die von all jenen ignoriert werden muss, die sich nur solange zur Verteidigung Israels in der Lage sehen, wie sie ihr kindisch idealisiertes Bild der israelischen Staatsgewalt aufrechterhalten können, verdeutlicht, welche Probleme das militärische und politische Agieren im Westjordanland für das Selbstverständnis des israelischen Staates mit sich bringt. Insbesondere seine Hinweise auf jene Fälle völlig unzureichender Ahndung der Gewalttaten von Siedlern gegenüber Palästinensern bis hin zum Mord zeigen, wie stark der israelische Staat seine Souverä­nität in einigen Aspekten untergräbt und ganz und gar nicht im Sinne von Ben Gurions Mamlachtiyut handelt.
Gorenberg erlaubt sich den Luxus, konsequent aus der Perspektive der israelischen Gesellschaft zu argumentieren. Er abstrahiert weitgehend von den feindlichen Nachbarn und vollkommen von den Debatten, die in Europa über Israel geführt werden. Schon deswegen wird das Buch von jenen Feinden Israels begierig aufgegriffen werden, die souverän über den dezidierten Zionismus Gorenbergs hinwegsehen werden, um einen weiteren jüdisch-israelischen Kronzeugen bei ihrer hemmungslosen Delegitimierung Israels anführen zu können – was der Autor durch eine ganze Reihe missverständlicher Formulierungen auch noch befördert. So ist es kein Wunder, dass das Buch in der antizionistischen Tageszeitung Junge Welt nachdrücklich empfohlen wurde.
Aber Gorenberg argumentiert nicht gegen den Zionismus, sondern zu seiner Verteidigung. Im Widerspruch zu antizionistischen Propagandisten wie Ilan Pappe weist er anhand von Dokumenten der Jewish Agency aus den Jahren 1947/48 nach, dass es keine Direktiven zur Vertreibung der arabischen Bevölkerung gegeben hat, sondern ganz im Gegenteil detaillierte Planungen, wie das lokale Gesundheits- und Bildungswesen für die arabische Minderheit in einem zukünftigen israelischen Staat organisiert werden könnte. Entgegen der antizionistischen Hetze hebt er die Fortschritte hervor, die Israel seit seiner Gründung in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen gemacht hat. (Als ein bis heute demokratiepolitisch wegweisendes Urteil führt er die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs an, mit dem der Regierungsbeschluss zur Schließung der kommunistischen Parteizeitung Kol Ha’am Anfang der fünfziger Jahre revidierte wurde.)
Gorenberg wendet sich nachdrücklich gegen jede Form einer »Einstaatenlösung«, von der die Israel-Hasser der »Boycott/Divestment/Sanc­tions«-Kampagne mit Judith Butler als ihrem internationalen Aushängeschild heute träumen. Er betont, dass Israel auch bei einem Rückzug aus der Westbank nicht darauf verzichten muss, sich als jüdischer Staat zu definieren, und fordert, bei aller Kritik sowohl an Diskriminierungen arabischer Israelis als auch an der Selbstethnisierung ihrer politischen Führungsfiguren, die Armee »unter jüdischer Hegemonie zu belassen«. Im Unterschied zu den antizionistischen Phantasien der Protagonisten eines »postna­tionalen Zeitalters« will Gorenberg, dass der israelische Staat bei der Einwanderung auch in Zukunft zwischen Juden und Nichtjuden unterscheidet. Während er das Rückkehrgesetz des israelischen Staates, das jedem Juden die Einwanderung nach Israel garantiert, als eine Essenz des Zionismus verteidigt, wendet er sich völlig zu Recht gegen das »Rückkehrrecht« der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen, dessen Realisierung zwangsläufig das Ende des jüdischen Staates bedeuten würde.
Gorenberg hat ein leidenschaftliches Plädoyer für die Wiederbelebung jener linkszionistischen Tradition geschrieben, die Israel in den ersten Dekaden nach der Staatsgründung maßgeblich geprägt hat. Für solch eine Reaktivierung unter den heutigen Bedingungen müsse sich die israelische Gesellschaft von ihrer »Ersten Republik«, bei der es um die Etablierung von Staatlichkeit in einer feindlichen Umwelt ging, endgültig verabschieden und die Gründung einer »Zweiten israelischen Republik« in Angriff nehmen. Vieles von dem, was in der prästaatlichen zionistischen Praxis richtig und in der Phase der Staatsgründung notwendig gewesen sei, erweise sich heute als kontraproduktiv. Das, was Ben Gurion mit seinem Mamlachtiyut beabsichtigt hat, habe der Zionismus bis heute nicht erreicht: »den Übergang von einer Revolution zur Institution, von einer Bewegung zum Staat«. Zur Abwendung jener Gefahren, denen Gorenberg den israelischen Staat aufgrund seiner eigenen Politik ausgesetzt sieht, fordert er die Wandlung Israels und des Zionismus von »einer nationalen Befreiungsbewegung hin zu einem liberalen Nationalstaat.«
Hier kommt jene Sehnsucht nach Normalität zum Ausdruck, die im Zionismus im Allgemeinen, insbesondere aber in seinen linken Spielarten immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Doch dort, wo diese Sehnsucht das Bewusstsein davon verdrängt, dass es diese Normalität aufgrund des historischen und des gegenwärtigen Antisemitismus nicht geben kann, wird das Grundmotiv des Zionismus in Frage gestellt und einer gefährlichen Ignoranz gegenüber der antisemitischen Bedrohung Tür und Tor geöffnet. Das ist auch das Problem bei Gorenberg. Das Unverständnis für das Wesen des Antisemitismus kommt bei ihm beispielsweise darin zum Ausdruck, dass er die Agitation des derzeitigen israelischen Außenministers Avigdor Liebermann gegen Araber mit dem Antisemitismus auf eine Stufe stellt. Wie auch bei anderen linken Kritikern der israelischen Politik zeugt seine Rede von einer »Selbstabschaffung« oder »Selbstzerstörung« des Zionismus von der Weigerung, die volle Bedeutung des Antisemitismus für jegliche Grundsatzentscheidung, die in Israel zu treffen ist, zur Kenntnis zu nehmen.
Gorenberg kritisiert zu Recht die »lautstarken, schamlosen Anstrengungen« von Fraktionen der politischen Rechten, israelische Araber »wie Staatsfeinde statt wie Mitbürger zu behandeln«, aber er erwähnt mit keinem Wort, dass sich ein Teil der israelischen Araber genau so verhält, Selbstmordattentätern hilft, die Hizbollah unterstützt und mit dem Islamic Movement bzw. der Partei Ra’am regelmäßig eine ­islamistische Gruppierung in die Knesset wählt. Weder die Hamas noch die Förderung des Terrors und der antisemitischen Propaganda durch die Fatah, weder die akademische Delegitimierung des jüdischen Staates noch die internationale Mobilisierung gegen Israel, weder die ara­bischen Vernichtungsdrohungen noch das iranische Regime mit seinem Nuklearwaffen- und Raketenprogramm spielen bei Gorenberg eine Rolle. Letzteres verwundert allein schon deswegen, weil er sich damit eines der zentralen Argumente beraubt, die Anfang der neunziger Jahre von der Linken unter Premierminister Yitzhak Rabin zur Begründung für den riskanten Schritt angeführt wurde, mit dem Terrorpaten Yassir Arafat in direkte Verhandlungen zu treten: die Notwendigkeit, angesichts der sich abzeichnenden existenziellen Bedrohung Israels durch die iranische Bombe Frieden mit den unmittelbaren Nachbarn zu schließen.
Der von der pragmatischen Rechten und Teilen der pragmatischen Linken in Israel heute gleichermaßen favorisierte Unilateralismus, also ein einseitiger Abzug aus der Westbank ohne Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde, für den insbesondere Ariel Sharon in seinen letzten Regierungsjahren stand, und der vielen Israels als die logische Konsequenz aus dem bisherigen Scheitern aller bi- oder multilateralen Versuche gilt, die Situa­tion zumindest zu beruhigen, stellt für Gorenberg keine Option dar: »Damit Israel die militärische Kontrolle des Westjordanlands sicher beenden kann, braucht es ein Friedensabkommen mit einer stabilen – und hoffentlich demokratischen – palästinensischen Republik.« Da aber auch der Autor nicht erklären kann, wie solch eine demokratische Repuklik plötzlich entstehen kann, erwähnt er zumindest die Möglichkeit, dass eine Räumung der Siedlungen nicht zu einer Entspannung der Situation führt, argumentiert aber, dass eine Aufgabe der Siedlungen selbst dann im Interesse Israels wäre, um die »Besatzung auf ihr bloßes Gerippe, auf das militärische Minimum zu reduzieren«. Das Argument, die Siedlungen dienten der israelischen Sicherheit, hält er für anachronistisch; sie seien heute für die Armee vielmehr eine »zusätzliche Bürde«. Die Vorstellung, die Siedlungen seien ein Trumpf in späteren Verhandlungen, hält er für illusionär: »Die Siedlungen stärken Israels Verhandlungsposition nicht, sondern zerstören im Gegenteil seine Glaubwürdigkeit (…). Unterdessen zersetzt die Anstrengung, sie zu erhalten, den Staat und macht den Albtraum einer Einstaatenlösung wahrscheinlicher.«
Es gibt also zahlreiche Gründe, einen wie auch immer im Einzelnen zu realisierenden Rückzug aus den besetzten Gebieten zu befürworten – und ebenso viele, die dagegen sprechen, von Gorenberg aber kaum diskutiert oder überhaupt erwähnt werden. Jedem Befürworter einer Beendigung der Besatzung im Westjordanland müsste sich die Frage aufdrängen, inwiefern ein Rückzug automatisch ein Zurückweichen vor dem Antisemitismus bedeutet und ob er von den Feinden Israels nicht nahezu zwangsläufig als Ermunterung zur Eskalation ihres Kampfes verstanden werden muss. Warum sich niemand dafür interessiert, wie es in einem »Staat Palästina« um die Rechte von Frauen und Homosexuellen bestellt wäre und warum die Errichtung solch eines Staates wie selbstverständlich dazu führen würde, dass dort keine Juden mehr leben dürfen, während es die ganze Welt für völlig normal hält, dass im israelischen Kernland über eine Millionen Araber als gleichberechtigte Staatsbürger wohnen, wird von Gorenberg gar nicht erst thematisiert.
Gorenberg weicht entscheidenden Problemen aus, blendet das internationale Umfeld, in dem Israel agieren muss, fast vollständig aus und zeigt sich gegenüber dem Charakter des ­islamischen und arabischen Antisemitismus auffallend naiv. Aber er bietet eine brauchbare Darstellung jener Schwierigkeiten, die aus der gegenwärtigen Situation für die israelische Gesellschaft, für die Zukunft des Zionismus und für das Selbstverständnis des Judentums aus der Sicht eines, wie er sich auf seinem Blog selbst beschreibt, »left-wing, skeptical Orthodox Zionist Jew« entstehen.

Gershom Gorenberg: Israel schafft sich ab. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2012, 316 Seiten, 19,90 Euro