Debatte um Ausbeutung im US-amerikanischen Football

Das gebrochene Knie

Nach der schweren Verletzung eines College-Spielers wird plötzlich über Ausbeutung im Football diskutiert.

Noch fast zwei Wochen nach der schweren Verletzung des Runningbacks Marcus Lattimore bekunden Footballfans in diversen Social Networks, noch nie so schockiert gewesen zu sein. Der Moment, in dem das Knie des College-Spielers fast im 90-Grad-Winkel nach vorn gebogen wurde, und die entsetzten Reaktionen der Mitspieler und Gegner wurden am vorvergangenen Wochenende nicht nur live gesendet, sondern anschließend auch zigmal in Zeitlupe wiederholt.
Es war ein Sportunfall, wie er im American Football eben passieren kann, ohne Absicht der Gegenspieler. Marcus Lattimores Kniegelenk wurde dabei ausgekugelt, die Kniescheibe brach und praktisch alle Bänder rissen – nach Meinung seiner Ärzte wird er in ein oder zwei Jahren zwar wieder Football spielen können, aber sicher ist das nicht. Lattimore, der bisher als eines der größten Nachwuchstalente galt, wird im Frühjahr nicht für die Draft angemeldet werden und damit als Erstrunden-Pick einen Job bei einem der NFL-Vereine bekommen. Durch die Verletzung entgehen ihm zweistellige Millionenbeträge.
Für die meisten Experten ist das jedoch gleichzeitig eine gute Gelegenheit, das System College-Football in Frage zu stellen. Denn während die Hochschulen Millionen an ihren Sportteams verdienen, gehen die Athleten leer aus. Ob Lattimore für den Fall einer Sportinvalidität oder eines längeren Ausfalls überhaupt versichert ist, ist beispielsweise unklar – die Beiträge sind so hoch, dass die Spieler sie sich in der Regel nicht leisten können. Die NCAA (National Collegiate Athletic Association), ein Verband, über den Colleges und Universitäten ihre Sportprogramme organisieren, schreibt genau vor, welche Versicherungen gegen welche Fälle welche Leistungen beinhalten (bis hin zur Zahl der erlaubten Arztbesuche pro Jahr) – aber ob und zu welchen Konditionen die Sportler überhaupt versichert werden, ist jeder Lehranstalt selbst überlassen. Sobald man dann auf die High School geht, spielt man Football nicht mehr im Jugendteam, man spielt für die Schule. Hier empfiehlt man sich auch für Colleges, die die besten High-School-Spieler umwerben. Viele Spieler sind bei Abschluss der High School zwischen 17 und 18 Jahre alt, eigentlich also schon volljährig – zumindest aber alt genug, um in den USA Vollzeit zu arbeiten, professionell Baseball oder Basketball zu spielen –, nicht aber alt genug für professionellen American Football.
Denn hier gibt es eine Regel, wonach ein Spieler erst drei Jahre nach seinem High-School-­Abschluss die Berechtigung hat, an der Draft, der alljährlichen Spielerauswahl der Profiteams, teilzunehmen. Aus diesem Grund werden auch die besten High-School-Spieler nicht gleich nach der Schule Profis, sondern gehen erst einmal an ein College und spielen dort College-Football. Für viele von ihnen geht das nur mit einem Sportstipendium, weil sie sich die hohen Gebühren andernfalls nicht leisten könnten. Das Leben dieser Stipendiaten ist nicht einfach: Den Universitäten ist es nicht erlaubt, die Studenten für den Sport zu bezahlen oder ihnen sonstige Vergünstigungen zukommen zu lassen. Nur die Finanzierung der Studiengebühren ist zulässig. Viele können es sich nicht einmal leisten, am Wochenende auszugehen und irgendwo eine Cola zu trinken oder einen Burger zu essen – was den Coaches sicher sehr gelegen kommt, da sich die jungen Männer notgedrungen auf das Training konzentrieren. Vor einigen Jahren gab es sogar einen Skandal – verbunden mit einer Strafe für die betreffende Universität –, weil dort die besten Spieler in den universitätseigenen Unterkünften Einzelzimmer bewohnten, Studenten in den Dorms aber traditionell in Zweierzimmern wohnen.
Die NFL benutzt die Colleges als kostenloses Farmteamsystem, wie es in den anderen großen US-Profiteams von der Liga selbst betrieben wird, um junge Athleten an das Profiniveau heranzuführen. Der Unterschied besteht darin, dass die jungen Spieler in solch einem Farmteam dafür bezahlt werden, während das an den Colleges eben nicht der Fall ist.
Dabei ist College-Football ein Milliardengeschäft. Die Spiele werden genauso häufig im Fernsehen übertragen wie die der NFL. Nur die Spieler profitieren davon nicht, außer dass sie nebenher einen kostenlosen Collegabschluss machen können, wenn sie das denn schaffen. Denn die Belastungen als Sportler sind fast so hoch wie im professionellen Bereich, viel Zeit zum Lernen oder gar für einen Nebenjob bleibt nicht. Die Athleten am College gehören oft zu den ärmsten Studenten überhaupt, wenn die Eltern sie nicht unterstützen können. So verwundert es auch kaum, wenn sich die Spieler nicht gegen eine solche Verletzung versichern können – die Beiträge sind einfach nicht bezahlbar.
Der Grund dafür, dass die Spieler drei Jahre aus der High School sein sollen, ist offiziell, dass die jungen Männer reifen sollen. In den meisten Fällen ist dies auch richtig, auch mit dem intensiveren Training und den Spielen im College haben viele Spieler Schwierigkeiten, den Sprung in die NFL zu schaffen. Wenn eine Saison in der NFL beginnt, sind bei den 32 NFL-Teams nur wenige Rookies, wie die Neulinge genannt werden, in der Startaufstellung.
Doch die Frage ist, ob nur, weil es den meisten Spielern so geht, auch Ausnahmetalente wie Marcus Lattimore drei Jahre im College spielen müssen, um in die NFL wechseln zu können, auch wenn nach seiner ersten Saison im College Coaches, Scouts und Analysten im Fernsehen sich einig sind, dass er den Sprung sofort machen könnte. Lattimore könnte schon seit zwei Jahren Profi sein, bezahlt werden und versichert sein – aber die Drei-Jahre-Regel verbietet es ihm.
Nun wird darüber spekuliert, ob Lattimore die NFL deswegen auf Schadensersatz verklagen sollte – und so die unfaire Regel kippen könnte. Viele Spieler, Fans und Experten wünschen sich eine solche Klage. Es sei einfach nicht richtig, dass Spieler im College praktisch unbezahlt Kopf und Kragen riskieren müssen, um sich für eine Profikarriere weiter zu empfehlen – auch wenn sie die nötige Qualifikation eigentlich längst haben.
Doch die Schuld allein der NFL zuzuweisen, ist kurzschlüssig. Denn die NCAA profitiert von dieser Regelung genauso wie die NFL und die Universitäten. Die Colleges und die NCAA bekommen ihre Sportler praktisch zum Schnäppchenpreis und verdienen mit ihnen Millionen. Die NFL erhält von den zur Auswahl stehenden Aspiranten jede Menge Spielsituationen, die analysiert werden können, und dazu das für die Profi­clubs kostenlose Training an den Colleges.
Diese stillschweigende Übereinkunft, sich nicht gegenseitig in die Quere zu kommen und die Spieler wegzunehmen, zeigt sich aber nicht nur in der Drei-Jahres-Regel. Zwar werden die College-Spiele von anderen Fernsehsendern übertragen als die der NFL, man ist aber trotzdem sehr bemüht darum, dass nie ein NFL-Spiel stattfindet, wenn auch ein College-Spiel läuft. Die Regel ist fast unumstößlich: Samstags wird College-Football gespielt, sonntags spielt die NFL. Das geht so weit, dass die NFL fast jede Woche zwei Spiele, die sonntags nicht unterzubringen sind, stattdessen auf Montagabend und Donnerstagabend legt – denn der Freitag ist für die High Schools reserviert.
Marcus Lattimore wurde indessen operiert, erfolgreich, wie sein Coach Steve Spurrier auf einer Pressekonferenz erklärte. Die »besten Ärzte der Welt« kümmerten sich um ihn, sagte er weiter, die Chancen, dass er wieder vollkommen genese und Football spielen könne, seien nicht schlecht. Man werde sich auch weiterhin intensiv um den Verletzten kümmern – sicherlich nicht zuletzt, um eine Klage mit weitreichenden Folgen zu verhindern.