»Unbehagen in der Mittelstufe«

Unbehagen in der Mittelstufe

Zwei Drogendramolette für Minderjährige.

Die folgenden Dramolette gehören zu einer Sammlung von Schülertheaterstücken, mit denen der Autor Kinder und Jugendliche an wichtige Bildungsgüter wie Schauspiel und die spiele­rische Darstellung gesellschaftlicher Themen heranführen möchte. Es handelt sich um leicht nachspielbare Miniaturen, deren Umsetzung keine großen Anforderungen an die Spielstätte stellt. Geeignet sind vermüllte Kinderzimmer und dunkle Schränke.

Finger weg von harten Drogen

Personen:

Geheimdienstoffizierin: eine knallharte Soldatin
Ärztin: trägt einen weißen Kittel, eine große Brille und knabbert, wenn sie nicht spricht, an einem Bleistift
Polnische Suppe: ein Drogensüchtiger
Pappen-Pille, Schakal, Horst Peter: drei Geheimagenten
Alf: ein DDR-Bürger, wird von der Ärztin gespielt, spricht eine völlig alberne Karikatur des sächsischen Dialekts

Polnische Suppe ist am Stuhl festgeschnallt. Er trägt ein Stirnband mit Spangen, die gewaltsam seine Augen offen halten.
Polnische Suppe (schreit): Wäääh!
Geheimdienstoffizierin: Frau Doktor, bringen Sie den Mann zur Räson.
Die Ärztin gibt ihm ein paar Ohrfeigen.
Ärztin: So, jetzt ist er vernehmungsfähig.
Geheimdienstoffizierin: Also, jetzt noch einmal von vorne. Sie waren in der DDR. Wie haben wir uns das denn vorzustellen?
Polnische Suppe: Nicht ich war in der DDR, die DDR war hier.
Geheimdienstoffizierin: Hier, in den »alten« Bundesländern? Und das war keine Halluzination?
Polnische Suppe: Nein, ich hatte zwar Halluzinogene genommen, in Verbindung mit Opiaten, Barbituraten, Amphetamin, Ketamin und Emphatogen – aber eine Halluzination war das trotzdem nicht. Vielmehr habe ich – unter Einfluss, oder besser mit Hilfe der Drogen – einen Eingang gefunden, eine Schleuse, wenn Sie so wollen, durch die ich in eine parallele Realität gelangt bin.
Geheimdienstoffizierin: Sie sind eingeschlafen! War es ein Traum?
Polnische Suppe: Nein, ich bin wach und bei klarem Bewusstsein durch die Tür gegangen.
Geheimdienstoffizierin: Und was haben Sie auf der anderen Seite gesehen?
Polnische Suppe: Nun ja, die DDR.
Geheimdienstoffizierin: Aber nicht jenen Staat, der nach 40jährigem Bestehen 1989 zusammengebrochen ist – sondern?
Polnische Suppe: In jener Nebenrealität scheint die Zeit genauso vergangen zu sein wie in unserer. Können Sie mir folgen?
Geheimdienstoffizierin: Ja, wir können Sie gut verstehen.
Polnische Suppe: Aber die Geschichte ist dort drüben – jenseits der Tür – etwas anders verlaufen. In jener Wirklichkeit wurde die ehemalige DDR nicht als »die fünf neuen Bundesländer« an den Westen angegliedert und hat dessen Verfassung und Wirtschaftssystem übernommen, sondern die elf alten BRD-Bundesländer wurden an den Osten angeschlossen.
Geheimdienstoffizierin: Wie bitte? Ich wiederhole noch einmal langsam. Die alte Bundesrepublik hat aufgehört zu existieren und ging praktisch in der DDR auf – inklusive Sozialismus, Sozialistischer Einheitspartei und Fünfjahresplan. Ist das korrekt?
Polnische Suppe: Das ist völlig richtig.
Geheimdienstoffizierin: Sie wissen: Wir vom Geheimdienst beschäftigen uns nicht mit Ihnen, weil Sie drogensüchtig sind. Das gilt für uns als Lappalie, Kinkerlitzchen, kriminalistisch gesehen. Solche Fälle wie Sie überlassen wir dem Rauschgiftdezernat, oder von mir aus dem Ordnungsamt. Was uns als Verfassungsschutz – der für die Sicherheit Deutschlands zuständig ist – interessiert, ist die Möglichkeit, dass an einem Ort in der Bundesrepublik – in einer anderen Realität, wie Sie sagen – die Verfassung außer Kraft gesetzt sein könnte und der Westen vom (nicht mehr existierenden) realexistierenden Sozialismus geschluckt worden sein könnte. Wir müssen diesen Sachverhalt unbedingt genauer erforschen und haben deshalb ein Spezialkommando, eine absolute Elitetruppe zusammengestellt, die unter Ihrer Führung – denn Sie sind der Einzige, der die Pforte kennt – jenen Nebenschauplatz der Wirklichkeit erforschen soll. Die Astronauten – oder Zeitreisenden – sind im Einzelnen: Der Schakal, ein absoluter Spionageprofi, internationale Einsätze, spricht fließend acht Sprachen, Sprengstoff- und Waffenexperte, durchtrainiert, sportlich, außerdem Karatemeister mit schwarzem Gürtel. Dann wäre da noch Pappen-Pille, Alkoholiker seit seinem elften Lebensjahr, heroinsüchtig mit 14, sieben Mal Überdosis und dreimal klinisch tot auf der Bahnhofstoilette gefunden worden. Er ist eine wissenschaftliche Koryphäe auf dem Gebiet der Narkotika und Rauschmittel. Der dritte Spezialagent ist H. P., Horst Peter, strahlungsresistenter Ex-Raver, der bis zu 27 Tage ohne Schlaf auskommen kann. Als wir ihn angeworben haben, war er dabei, im Monbijou-Park mit einer Hecke zu kämpfen, die er für einen Türsteher hielt. Mit diesen drei Kapazitäten werden Sie auf die Reise ins »andere« Deutschland gehen und uns einen genauen Bericht über die Lage dort und über die Möglichkeiten einer propagandistischen Infiltra­tion geben.
Während ihrer Rede haben die Agenten nacheinander die Bühne betreten: Der Schakal ist ein arroganter Anzugträger, Pappen-Pille ist ein Penner mit Plastiktüte und Horst Peter hat blonde Stoppelhaare und ist solariumgebräunt. Die Bühne beginnt sich zu drehen.
Ärztin: So, ich verabreiche Ihnen jetzt die Medikamentation, die es Ihnen ermöglichen wird, die Realitätsschleuse zu erreichen. LSD – bitte schlucken Sie den Zuckerwürfel, dann schnupfen Sie dieses weiße Pulver mit dem beiliegenden Glasröhrchen, jetzt gebe ich Ihnen eine Spritze – Achtung, das piekt …
Pille: Du machst das fa-halsch. Gib mal her, du Witzfigur.
Ärztin: Jetzt das Ketamin und die …
Schakal (unterbricht sie): Uiuiuiuiui! Meine Pumpe! Hilfe, Leute, mein Herz rast wie verrückt und hört gleichzeitig auf zu schlagen.
Horst Peter: Der Spionagefuzzi schafft es nicht. Der schnappt ab.
Pille: Ist wohl zu viel für unseren James Bond?
Horst Peter: Kann mir nicht passieren. Ich bin absolut immun. Ich habe mein Speed jahrelang von schmutzigen Klodeckeln gezogen. Das härtet ab und stärkt die körpereigenen Abwehrkräfte.
Ärztin: Herzstillstand. Der Mann ist tot.
Geheimdienstoffizierin: Wir haben eine unserer Spezialkräfte verloren! Wir können nur hoffen, dass die anderen es überleben.
Ärztin: Die Dosierung ist extrem hoch. Es kann gut sein, dass gar keiner durchkommt …
Die Bühne hört auf sich zu drehen. Die Ärztin und die Geheimdienstoffizierin verschwinden.
Polnische Suppe: So, Leute, vorwärts, los geht’s. Hier ist die Tür!
Pille: Was steht da drauf? »Sechste Dimension, Wiedervereinigte Deutsche Demokratische Republik«? Na, sowas.
Polnische Suppe: Da gehen wir jetzt durch, und dann stehen wir mitten auf dem Alex neben der Weltzeituhr.
Pille: Dolles Ding.
Polnische Suppe: Ich verrate euch auch gleich noch, wie wir wieder zurückkommen. Es gibt hier in der DDR einen grünen Pfefferminzlikör, genannt Pfeffi. Davon mindestens drei Flaschen trinken. Das bringt einen wieder zurück in die Normalität.
Pille (ironisch): Mensch, ich muss aufpassen, dass ich nicht aus Versehen beim Saufen aus der Scheinwirklichkeit herauskatapultiert werde, bevor unsere Mission abgeschlossen ist.
Polnische Suppe: Also, falls wir uns verlieren sollten, Pfeffi gibt’s in jeder Kaufhalle.
Er öffnet die Tür.
Polnische Suppe: So, da wären wir.
Horst Peter: Geil. Geiler Trip. Ich muss unbedingt jemanden auf die Fresse hauen.
Pille (sieht sich um): Ich dachte, es wäre eine Propagandalüge gewesen, dass es im Osten immer regnet. Aber es stimmt.
Horst Peter: Und es ist auch immer dunkel. Schlechte Straßenbeleuchtung. Geil. Wie in einer Disco.
Pille: Gehen wir mal raus zum Plänterwald. Vielleicht treffe ich ein paar Juckel-Penner.
Polnische Suppe: Vielleicht sollten wir erstmal im Interhotel unser Basislager aufschlagen?
Plötzlich steht die Ärztin wieder neben ihnen. Sie ist jetzt so gekleidet, wie man sich einen typischen DDR-Bürger vorstellt: knisternde Synthetikstoffe, blasse Farben, alles nicht so recht zueinander passend.
Ärztin: Tachchen, ich bin der Alf. Seid ihr ooch Blueser?
Pille (leise): Achtung! Der Mann sieht zwar aus wie der letzte Abschaum, wahrscheinlich ist er aber trotzdem bei der Stasi und will uns aushorchen.
Horst Peter (laut): Bei der was?
Pille (leise): Staatssicherheit!
Ärztin: Ihr kommt von drieben? Eure blauen Gacheln sind hier nüscht mehr wert. Werden nicht mal mehr im Intershop genommen.
Horst Peter: Blaue Kacheln?
Ärztin: Na, eure D-Mark.
Horst Peter: Nichts mehr wert?
Ärztin: Nee, nach der Wiedervereinigung konnte man noch een halbes Jahr eins zu eins umtauschen, und dann war die Klabbe zu. Die D-Mark war absolut wertloses Konfetti geworden.
Pille (sich plötzlich an ihren Auftrag und ihre Mission erinnernd): Wie kam es denn eigentlich zur Wiedervereinigung?
Ärztin: Na … Ihr stellt Fragen! Die Deutsche Demokratische Republik hat durch den NÖSPL im ÖKULI den Westen überdrumpft.
Horst Peter: Wie bitte? Wie denn?
Ärztin: Durch das »Neue ökonomische System der Planung und Leitung« war es möglich im »ökonomisch- kulturellen Leistungsvergleich« die BRD zu ieberfliegeln.
Pille: Was war denn das für ein komisches Auto, das gerade vorbeifuhr?
Horst Peter: Sah aus als hätte man Teile der 3er, 5er und 7er Baureihe mit Pappe zusammengeklebt und eierschalenfarben angemalt.
Ärztin: Das ist ein VEB-BMW. Die werden in der Margot-Honecker-Stadt gefertigt. Nachdem der Klassenfeind kabiduliert hatte, also nach der Wiedervereinigung, wurde das Unternehmen BMW für eine Mark Ost gekauft und in einen Volkseigenen Betrieb umgewandelt. Das war ein juristisch korrekter Verkauf, es ging damals alles mit rechten Dingen zu. Einwandfrei. Verkauft, eben nicht enteignet. Der Zehner, der hier gerade vorbeifuhr, war der letzte verzweifelte Versuch des maroden Unternehmens, sich dem veränderten Zeitgeschmack anzupassen. Aber es war bereits zu spät, der Bankrott war nicht mehr abzuwenden, und einige Wochen später wurde die Marke abgewickelt.
Horst Peter (tonlos): Abgewickelt! Ein einstmals blühendes Unternehmen.
Ärztin: Hatten als Autos auch einen sehr schlechten Ruf. Die FDJ hat immer nach »Hugo Leichtfuß« gesucht, nach besonders rücksichtslosen und fahrlässigen Verkehrsteilnehmern. Und die saßen dann meistens in einem VEB-BMW. Wo wollt ihr denn hin? Ins Interhotel? Müsst ihr euch natürlich vorher beim Abschnittsbevollmächtigten melden. Der nimmt eure Einreiseanträge entgegen und wird einen schönen Aktendulli über euch anlegen. Wollt ihr nicht? Hmm. Wo wollter denn bleiben? Wisst ihr nicht? Na sowas! Ich kann euch in meiner Datsche unterbringen. Ist zwar ein bisschen kühl um diese Jahreszeit, aber es geht durchaus. Ich stelle euch den Nachbarn als Komsomolzen aus dem Tal der Ahnungslosen vor …
Horst Peter: Alles klar, der ist total auf Trip, wie der quatscht. Besser nicht hinhören. Was ist denn das für eine Tür? Steht drauf: »Siebte Dimension, Nazi-Deutschland hat den Krieg gewonnen«. Schauen wir mal …
Pille: Halt, geh da nicht rein!
Ärztin: Zu spät, der is weg.
Polnische Suppe: Den kriegen wir erst in 1 000 Jahren wieder zu Gesicht.
Pappen-Pille zieht einen kleinen Fotoapparat aus der Tasche und beginnt zu knipsen. Die Geheimdienst­offizierin steht plötzlich neben ihm. Sie trägt jetzt eine Ost-Uniform mit vielen Orden, darüber einen langen, braunen Mantel.
Geheimdienstoffizierin: Moment mal, was fotographieren Sie denn da? Können Sie sich ausweisen?
Pille: Meine Papiere kommen Ihnen vielleicht seltsam vor, aber ich kann Ihnen das erklären.
Er gibt ihr seinen Pass.
Geheimdienstoffizierin: Reisepass der Bundesrepublik Deutschland? Das ist nicht nur eine sehr blumbe Fälschung – die Pässe der BRD waren grau, und der hier ist rot – das Land, aus dem Sie angeblich eingereist sind, existiert seit 21 Jahren nicht mehr.
Pille: Sehen Sie mal da, Stempel, Foto, alles vorhanden, alles amtlich, fälschungssicher und biometrisch …
Geheimdienstoffizierin: Geben Sie zu, Sie sind ein amerikanischer Spion.
Pille: Nein, nein.
Geheimdienstoffizierin: Sie sind ein Agent. Kommen’se mit, zum Verhör.
Die Geheimdienstoffizierin schleppt Pappen-Pille von der Bühne.
Polnische Suppe: Da vorne ist ein Laden, gehen wir rein und kaufen uns Pfefferminzlikör.
Alf: Pfeffi? Da drin? Glaubste doch selber nich! Das ist ein »Delikat«, da gibt’s so was nicht. Nur gehobenes Sortiment. Pfeffi gibt’s in der HO. Der Handelsorganisation.
Polnische Suppe: Was war denn das für ein komischer Vogel im Trenchcoat, der meinen Kumpel Pappen-Pille weggezerrt hat?
Alf: Staatssicherheit, Stasi. Wahrscheinlich halten sie deinen Genossen für einen westlichen Agenten. Den werden sie jetzt schön befragen. Den sehen wir so schnell nicht wieder, glaube ich.
Polnische Suppe (sehr beunruhigt): Bestimmt ist alles in Ordnung.
Alf (höhnisch): Klar, solche Sachen gehen immer gut aus.
Polnische Suppe: Ich brauche unbedingt Pfeffi. Mehrere Flaschen am besten.
Alf: Du gehst aber ran, mein lieber Scholli! Hmm, hier in der Hauptstadt scheint er aus zu sein, Versorgungsengpass, aber soweit ich gehört habe, gibt’s im Raum Dresden noch Vorräte. Wir könnten mit dem Zug da runterkübeln. Dich verkleiden wir einfach als Jung­schaffner oder Bausoldat. Kriegst ’ne Mai-Nelke vorne an die Brust, oder einen Parteibonbon.
Polnische Suppe fasst die Ärztin, beziehungsweise Alf, von hinten an die Hüften. Gemeinsam laufen sie kreuz und quer über die Bühne und zählen dabei die Bahnstationen auf.
Alf: Karl-Marx-Stadt, Ernst-Thälmann-Stadt, Stalin-Stadt, Plaste-Stadt Guben, so hier gibt’s Pfeffi. In Marxwalde gibt’s alles.
Polnische Suppe: Nichts wie rein in die HO!
Sie rennen in den Supermarkt, Polnische Suppe greift sich eine Flasche aus dem Regal, öffnet sie und beginnt sofort zu trinken.
Alf: Momentchen, vielleicht erst bezahlen? Junge, hat der einen Durst!
Die Bühne beginnt sich zu drehen. Alf verschwindet.
Polnische Suppe: Hurra, ich bin wieder in meiner Wirklichkeit!
Er fällt auf die Knie und küsst den Boden. Da tauchen die Ärztin und die Geheimdienstoffizierin neben ihm auf. Die Geheimdienstoffizierin ist wie eine Nutte angezogen und die Ärztin transportiert mehrere große, rohe Fleischstücke, die notdürftig in Packpapier gewickelt sind.
Polnische Suppe: Ich renne gleich zum Bahnhof und kaufe Stoff, um meine Rückkehr zu feiern.
Er bemerkt die beiden.
Polnische Suppe: Nanu, wie seht ihr denn aus? Frau Geheimdienstler, ich wollte Ihnen Bericht erstatten, von der Mission …
Geheimdienstoffizierin (unterbricht ihn): Keine Zeit, wir haben jetzt andere Probleme.
Ärztin: Es ist Wirtschaftskrise, Mann!
Geheimdienstoffizierin: Durch die Schuldenkrise ist im gesamten Euroraum die Währung zusammengebrochen. Alle Banken sind zu, Gehälter werden nicht mehr ausgezahlt und Lebensmittel gibt es nur noch auf dem Schwarzmarkt.
Ärztin: Genau da gehe ich hin. Als Medizinerin habe ich natürlich Zugang zu den besten Stücken, Schenkel, Rippe, Filet, was Sie wollen …
Geheimdienstoffizierin: Ich muss leider auf den Strich gehen, um mich durchzuschlagen …
Beide ab. Polnische Suppe bricht in Tränen aus.
Polnische Suppe: Wäääh, ich will nach Hause. Ich will heim in die richtige Realität! Ich schwöre, dass ich nie wieder harte Drogen nehmen werde. Ich will raus! Ich will nüchtern sein! Wäääh …

Dank an FiL K. Dick für die Inspiration.

Traumberuf Trinker

Personen:

Sprecher: Er ist ein schizoider Einzelgänger. Er hält sich selbst für einen netten Kerl, wird aber unkontrollierbar durch Alkohol. Leider ist er immer betrunken. Er führt Selbstgespräche. Durch seine Isolation von der menschlichen Gesellschaft hat sich eine gewisse Ver­rohung in seinem Denken manifestiert. Er hat sich angewöhnt, sprunghaft und assoziativ seinen Gedankenbahnen zu folgen, wodurch es noch schwieriger wird, ihn zu verstehen.

Monolog, notfalls auch ohne Zuhörer

Sprecher: Ich beginne meine Erzählung mit einer Beschreibung des Handlungsortes – dem führenden Schandfleck dieser Gegend. Fußgänger, die aus Versehen hineingeraten, taumeln zurück und schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht. Selbst unerschrockene Nachtschwärmer sind schockiert. Dabei wurde die Einrichtung gerade erst repariert.
Trotz des hellen und freundlichen Sonnenlichts draußen sitzen hier drin alle Gäste mit stumpfer und angespannter Miene. Kleidungsmäßig findet man hier die neuesten Trends der aktuellen Alkoholikermode: lange, fettige Haare, viele tragen dazu Halbglatze – eine so­genannte Platte – Schuhe mit schiefgelaufenen Absätzen … Modische Impulse der Außenwelt kommen hier immer mit einiger Verspätung an, weshalb jetzt gerade Jogginghosen schwer an­gesagt sind, obwohl wir alle mit Sport nicht das Geringste zu tun haben.
Unser Anblick ist sicherlich kein Vergnügen, so wie es jetzt kein Vergnügen für euch ist, davon zu hören. Ich bin fast jeden Tag hier. Geschadet zu haben scheint es mir nicht – wenn man von der allgemeinen Schwäche und dem stechenden Blick absieht.
Das Leben in Kneipen rüstet den Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten aus – allerdings wird der Lebenswille auf das Ärgste unterminiert. Worüber man hier spricht? Darüber, wie miserabel alles ist. Eigentlich immer dieselben Missfallensbekundungen. Das Schöne ist, dass die meisten nur das Nötigste sagen. Für gewöhnlich glotzen sie nur mit fahlen Gesichtern.
Gerade bewegen sich einige Gestalten auf mich zu. Jede hält ein Bierglas in der Hand, aus dem beim Laufen Fontänen spritzen. Schon am Ausdruck ihrer Gesichter kann man sehen, dass ihnen unentwegt die Worte »Ärger machen, Ärger machen« im Kopf rasseln. Ich bin darauf eingestellt, sie zu ignorieren, falls sie mich ansprechen. Wie die mich schon anstarren! Klar, die unterscheiden schon im Geiste: »Arbeitslager oder sofort erschießen?« Bestimmt kommen gleich die Sprüche …
Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Denen muss ich zuvor kommen. Die werde ich auf ihrer Spießerschiene rechts überholen! Mit einem Angriff aus dieser Richtung rechnen die nie.
Laut
»Geht erstmal arbeiten, und wascht euch mal die Haare!«
Aha, das bringt sie aus dem Konzept, dass ich ihnen die eigenen Nazisprüche an den Kopf werfe. Der Wirt guckt schon. Politische Diskussionen sieht er ungern in seinem Lokal. Wenn die anderen unbedingt Ärger machen wollen – bitte. Ich bin friedlich. Mich macht nur das Geräusch des Geldspielautomaten nervös.
Geräusch eines Daddelautomaten: düüülülülülü … 
Die Feiglinge verziehen sich. »Ganz schön zugig hier.« Suchen sich einen anderen Tisch. Hauen ab, als ob ich aussätzig wäre. Was die sich einbilden!
Laut
»Was ist euer Problem, ihr Fotzen? Wenn ich gleich zu euch rüberkomme, könnt ihr schon mal die Behindertenschilder hinten aufs Auto kleben!«
»So, Feierabend, mein Herr.« Habe schon verstanden, Herr Wirt. Im Rausgehen werfe ich noch den Mantelständer um. Wenn ich nicht wäre, würde es diesen Typen an Gesprächsstoff mangeln.
Genau wie meinen Alten: stumpfsinnige Rentner, die auf einem verschimmelten Balkon rumsitzen. Hatten sich was anderes erhofft von mir. Jetzt sind sie enttäuscht. Gut so, dann sehen sie klarer.
Ich nehme die U-Bahn und hole noch Getränke am Spätkauf. Puh, die U-Bahn. Schon bereue ich meinen Entschluss. Die Reisenden starren mich feindselig an, niemand sagt ein Wort.
Laut
»Habt ihr nichts besseres zu tun, als mir hinterher zu glotzen? Du fängst dir gleich eine, das geht ganz schnell, wie bei Mutti. Ja, ja, schaut ruhig weg, ihr Arschlöcher.«
Eher lasse ich mich körperlich züchtigen, als nochmal die U-Bahn zu nehmen. Ich kann auch gleich den Rest der Nacht hier auf dem Bahnhof rumziehen. Dreimal bin ich heute Nacht schon rausgeflogen. Dann trinke ich eben alleine weiter, gehe zum Späti. Ein paar klirrende Muntermacher in die Plastiktüte, und dann ab nach Hause. Ladenschluss, kein Geld, immer dasselbe …
Wo geht’s lang? Ich kann diese verdammte Gegend nicht ausstehen. Dieses Viertel ist ein riesiges Gruselkabinett, in dem sich Supermärkte, Parkplätze, Autobahnen, Frustration und Verzweiflung immer weiter ausbreiten. Verschwenderisch mit Müll verziert – menschlichem Müll. Parkhausgerechte Stadtplanung. Fabriken, Werkstätten, Schulen … Orte, wo Jugend und Schönheit nutzlos vergehen. Moment mal, ich wollte doch noch jemand eine verpassen.
Du Idiot! Warum hast du das denn getan? Ich zucke zusammen und stöhne laut auf. Gerade fällt mir wieder ein, was ich denen vorhin an den Kopf geworfen habe. Peinlich, peinlich. Ich könnte hier alles kurz und kleinschlagen, so unangenehm ist mir die Sache.
Ich bin immer ein bisschen ungeschickt im Umgang, aber heute Abend muss ich geradezu bizarr gewirkt haben. Sofort fallen mir wieder die mitleidigen Blicke ein. »Warum musst du denn jetzt randalieren? Niemand sonst käme auf die Idee, die Gäste am Nebentisch anzublaffen, aber für dich ist das ein normaler abendlicher Zeitvertreib.« »Lasst ihn in Ruhe, er hat ­einen Gehirnschaden seit seiner Geburt.« Die sprechen von mir wie von einer außerirdischen Monstrosität, die dem interessierten Fachpublikum vorgestellt wird. Mit derselben Nachsicht, die man Buckligen oder Behinderten anderer Hautfarbe entgegenbringt.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich für was Besseres hielten. Sowas kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Das geht ganz fix, und schon verwandelt sich ein weich gekochtes Ei in ein hartgekochtes Ei. Sie hätten wissen sollen, dass man jemanden, der intellektuell unternormal ist, bei Laune halten muss.
Im Grunde genommen hilft diese Art von Auseinandersetzungen nur der Pharmaindustrie, ihre Überproduktion von Beruhigungsmitteln an den Mann zu bringen.
Besser ich unterbreche meine trüben Betrachtungen. Ich höre nicht auf, mich für das, was heute Abend passiert ist, schuldig zu fühlen, obwohl ich weiß, dass ich unschuldig bin.
Möglicherweise fehlt es mir an Selbstachtung, deshalb habe ich die Idioten vom Nebentisch beschimpft.
Es ist einfach zu viel für einen leicht erregbaren Menschen, der sich häufig durch Nebensächlichkeiten verwirren lässt. Ich schnappe mir dann meistens einen langen Schraubenzieher oder ein Stuhlbein und ziehe los.
Denn sie sind alle gegen mich. Autofahrer, Verkäufer, Sachbearbeiter, das Café, die Gäste, der Kellner oder irgendein liberaler Arsch. Ich bin in solchen Fällen in der Lage, meinen Verstand ganz ungekünstelt abzuschalten und zuzuschlagen. Besonders, wenn mir die Kommentare der anderen unpassend oder geringschätzig erscheinen. Dann kann ich nicht anders. Ich muss die Schmerzgrenze überschreiten.
Die Knilche vorhin dachten wahrscheinlich, ich sei schwerhörig. Wenn ich über den vergangenen Abend nachdenke, dann regt sich in mir fast so etwas wie Dankbarkeit. Vorher wäre ich nicht auf die Idee gekommen, Stühle zu werfen, Faustschläge auszuteilen und leblose Körper mit spitzen Gegenständen aufzuschlitzen. Jetzt schon! Mal sehen, wann sich der Staatsanwalt für diese Form von Dankbarkeit zu interessieren beginnt.
Aah, die Kiste läuft noch. Ich bin ein großer Fernsehfreund. Keine Vorhänge. Die Nachbarn halten mich wahrscheinlich für einen ungewöhnlich großen Hund, der den ganzen Tag auf dem Sofa rumsitzt. Besser als jeden Tag vom Gerüst zu fallen und besoffen in der Baugrube zu liegen.
Ich winke ihnen mal. Hallo, ich bin es.
Der-schlecht-für-die-Gesundheit-Nachbar.
Der-ich-habe-mich-doch-nur-umgedreht-undschon-war-die-Nase-blutig-Nachbar.
Der-die-Kleine-wollte-doch-auch-Nachbar.
Der-gleich-nach-der-Geburt-erstickte-Babys-im- Blumentopf-verstecken-Nachbar.
Na gut, Spaß beiseite. Man könnte hier ganz angenehm leben, wenn der Kanarienvogel nicht dauernd schreien würde. Ich haue einfach ein paar Mal gegen den Käfig.
Man kommt auf keinen grünen Zweig. Man kommt zu nichts. Der Vogel verpestet das Haus, die Nachbarn glotzen. Aber das wird sich ändern, solange ICH hier noch was zu husten habe.
Völlig verschmiert, das Glas. Macht nichts, macht gar nichts. Erstmal einschenken.
Mit der Arbeitswelt bin ich nicht so vertraut. Ich habe seit meiner Geburt nicht die geringste Sehnsucht danach verspürt. Scheint sehr mühsam zu sein, sehr langweilig, gefährlich und erschöpfend für den Körper. Und das alles für ein paar bunte Scheine, mit denen ich am Wochenende die Langeweile überbrücken soll.
Einen Leberschaden kann ich mir auch so holen. Wahrscheinlich käme ich gar nicht mehr hoch auf so ein Baugerüst.
Arbeit, Konsum, Verbrauch, Produktion und noch mehr Arbeit, ein verteufelter Kreis. In dieser Welt wird zu viel gearbeitet. Und die Überzeugung, Arbeit sei eine Tugend, richtet ungeheures Verderben an. Ich geh lieber zum Amt und stelle einen Antrag. Morgen mache ich das. Ja, ja, morgen. Oder überübermorgen. Oder überüberüberüber, bis es eines Tages zu spät ist.
Ich will lieber nicht wiederholen, was der Arzt letztes Mal über mein Herz sagte – ich hätte nur noch acht Monate zu leben. Wovon denn? habe ich ihn gefragt. Am besten, ich würde gleich von der Brücke springen.
Ach was, mir geht es doch sehr gut. Im Fernsehen gibt’s die schönsten Bahnstrecken, es ist genug zu trinken da, ich habe eine Jogginghose und wenn mir kalt ist, mache ich mir einen Pissefleck.

Brezel Göring, geboren als Hartmut Richard Friedrich Ziegler, ist gemeinsam mit Françoise Cactus, die singt und die Texte schreibt, Musiker der Band Stereo Total. Ihr neues Album »Cactus versus Brezel« ist dieses Jahr bei dem Label Staatsakt erschienen. Gegenwärtig touren Stereo Total durch die Schweiz und Österreich, am 1. Dezember treten sie im »Hotel Shanghai« in Essen auf. Die Buchpräsentation von »Unbehagen in der Mittelstufe« findet am 7. Dezember um 20 Uhr in der »Tante Horst«, Oranienstraße 45, in Berlin statt.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Brezel Göring: Unbehagen in der Mittelstufe. Schülertheaterstücke. Martin-Schmitz-Verlag, Berlin 2012, 128 Seiten, 14,80 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.