Katastrophenhilfe, selbstgemacht. »Occupy Sandy« in New York City

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In New York City unterstützen die Aktivistinnen und Aktivisten der »Occupy«-Bewegung die Menschen, die am stärksten vom Wirbelsturm Sandy getroffen wurden. »Occupy Sandy« funktioniert und bringt die richtige Hilfe dorthin, wo sie gebraucht wird.

Vor der Lutheranischen St.-Jacobi-Kirche an der 4th Avenue in Brooklyn herrscht schon am frühen Morgen reges Treiben. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen von Autos, Lieferwagen und Menschen, die allerdings nicht zum Gottesdienst wollen. Die Kirche wird seit einigen Wochen aus einem anderen Grund besucht: Hier ist das Hauptquartier von »Occupy Sandy«, einem Netzwerk, das sich in den ersten Tagen nach dem verheerenden Hurrikan Sandy gebildet hat, um den davon am meisten betroffenen Menschen zu helfen. Die Aktivistinnen und Aktivisten von »Occupy Wall Street« und Zuccotti Park haben hier eine einzigartige und erstaunlich gut funktionierende Form der Katastrophenhilfe organisiert.
Die Kirche ist eine der Sammelstellen für die gespendeten Güter, von hier aus werden die Lieferungen in die am stärksten betroffenen Viertel, vor allem in der Nähe der Küste, koordiniert. Alles Mögliche wird von Privatpersonen vorbeigebracht. Wer helfen möchte, kann über Facebook, Twitter und die Homepage von »Occupy« schnell erfahren, was benötigt wird, wo sich die Sammelstellen befinden und wann man vorbeikommen kann. Und die Leute kommen, ununterbrochen, so wie heute, an einem ganz normalen Tag mitten in der Woche.
Auf dem Bürgersteig stehen zwei junge Frauen mit Walkie-Talkies in der Hand. »Wir brauchen 400 warme Mahlzeiten an der Neptune Avenue und 200 kalte an den Rockaways«, lautet die Mitteilung an die Kolleginnen und Kollegen in der Küche. Die befindet sich in der Kirche auf der anderen Straßenseite. Geleitet wird die Arbeit dort von zwei professionellen Köchen, die herumkommandieren, als wären sie gerade mit der Zubereitung von Gourmet-Menüs in einem edlen Restaurant beschäftigt. Der Geruch aus den riesigen Töpfen und Pfannen ist sogar sehr gut, und die Gerichte sehen erstaunlich einladend aus. Auf der Treppe der St.-Jacobi-Kirche steht ein junger Mann mit langen Haaren, der wirkt, als wäre er gerade erst aufgestanden. Er notiert die Namen der Menschen, die hierhin kommen, um zu helfen, und verteilt an sie Klebeband und einen Marker. »Schneidet ein Stück davon ab und schreibt eure Namen darauf«, sagt er freundlich. Der junge Mann kommt aus Ohio, er ist hier, seit »Occupy Sandy« begonnen hat, und erzählt, er fühle sich hier »sehr wohl«. Ein anderer Freiwilliger fragt ihn, ob er einen Platz zum Schlafen gefunden habe: »Ja, ich habe etwas für die nächsten Tage gefunden, zum Thanksgiving fahre ich dann nach Hause, und wenn ich noch gebraucht werde, komme ich danach wieder hierher.«

Ein Hurrikan ist nicht zu Ende, wenn der Regen aufhört, das haben die Leute von »Occupy« schnell verstanden. Monatelang haben sie besetzt, diskutiert und demonstriert, und als die Stadt, in der ihre Bewegung entstanden ist, so schwer getroffen wurde, hatten sie die Gelegenheit zu zeigen, dass Solidarität nicht nur ein leeres Wort ist. »Wir sind aber nicht das Rote Kreuz«, sagt Kei, ein weiterer freiwilliger Helfer. »Die Idee ist die der Selbsthilfe, die Leute sollen nicht nur passiv Unterstützung bekommen, sondern aktiv unterstützen, es ist ein partizipatives Projekt. Wir wollen die zerstörten Stadtteile gezielt unterstützen, damit sie nicht nur wiederaufgebaut, sondern sogar bessere Orte werden als sie vor dem Hurrikan waren.« Auch Kei sieht aus, als könnte er noch ein paar Stunden Schlaf gebrauchen. Seit Tagen koordiniert er die Lieferungen der Mahlzeiten und der gespendeten Sachen in die getroffenen Gebiete. Lachend sagt er: »Wir müssen hier den Wahnsinn organisieren.«
Das scheint jedenfalls ganz gut zu klappen. »Occupy Sandy« arbeitet schnell, unbürokratisch und effizient. Die Hilfe soll dort ankommen, wo sie auch wirklich gebraucht wird. Deshalb werden zur Verbreitung von Informationen alle mögliche Kommunikationskanäle benutzt. Die sozialen Netzwerke sind selbstverständlich von zentraler Bedeutung, aber auch die Bürgerinnen und Bürger, die weniger Internet-affin sind, haben die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Wer helfen möchte, kann zu bestimmten Zeiten anrufen und erfahren, was benötigt wird. Für diejenigen, die nicht vorbeikommen können, haben sich die Aktivistinnen und Aktivisten eine originelle Lösung ausgedacht: die Online-Hochzeitslisten auf Amazon. »Sie können nicht persönlich kommen und spenden? Dann kaufen Sie Windeln, Mopps, Desinfektionsmittel, Decken, Taschenlampen und Camping-Küchen online und wir kümmern uns darum, die Sachen zu verteilen!« So hat »Occupy Sandy« New Jersey in 20 Tagen Hilfsgüter in Wert von 110 000 Dollar gesammelt. Aber die meisten Spenden werden persönlich vorbeigebracht.
»Heute habe ich Wasser vorbeigebracht, gestern haben sie mich mit einer Ladung Kleider zurückgeschickt. Die brauchen die wohl nicht mehr«, scherzt ein LKW-Fahrer, der gerade Kisten und Kartons in die Kirche schleppt. »In der gesamten Küstengegend der Stadt gibt es Familien, die obdachlos geworden sind oder die zwar noch ein Dach über den Kopf haben, aber keine Heizung und keinen Strom«, erzählt Markus, ein vielleicht 50jähriger Helfer mit starkem deutschen Akzent. »Tausende Freiwillige sind noch dabei, den Schlamm zu beseitigen in den Gegenden der Stadt, die bereits vor dem Sturm in einem sehr schlechten Zustand waren.«

Unter den Helferinnen und Helfern in St. Jacobi sind viele, die bei »Occupy Wall Street« mitgemacht haben, aber nicht nur. »People powered recovery« nennen sie das, was hier organisiert wird, Wiederaufbau von unten. Alle, die helfen möchten, sind willkommen, niemand wird nach Hause geschickt und jeder findet nach wenigen Minuten etwas zu tun. Im Unterschied zu den öffentlichen Versammlungen der »Occupy«-Bewegung mit dem »menschlichen Mikrophon« und anderen zehrenden basisdemokratischen Strukturen sind hier vor allem gesunder Menschenverstand und praktischer Sinn am Werk, was für die erstaunliche Effizienz der Organisation sorgt.
Im geräumigen Erdgeschoss der Kirche stehen unzählige Kisten. Zwei junge Frauen packen Hygiene-Kits in verschließbare Plastiktüten: Zahnpasta, Rasierklinge, Seife, Desinfektionsmittel und Aspirin. In weiteren Kisten sind Taschenlampen, Waschmittel auf den Regalen. In einem anderen Raum befinden sich Bettwäsche, Decken und Kleidung. Helferinnen und Helfer laden Kisten in die Autos, die jeweils eine der sechs weiteren Sammelstellen der Stadt beliefern. Rund 100 Menschen sind heute hier mit Schleppen, Sortieren, Packen und Kochen beschäftigt. Vielleicht funk­tioniert genau deshalb alles reibungslos? »Viele? Heute ist eher Normalbetrieb, Sie sollten am Wochenende kommen und sehen, was hier los ist«, sagt Kei, der den Eindruck macht, hier eine der leitenden Personen zu sein.

Vor der Hilfestelle in Coney Island ist eine Menschenschlange, die das gesamte Gebäude umgibt. Es sind vor allem Schwarze, aber nicht nur. Sie sind hier, um Decken, Zahnbürsten und Medikamente zu bekommen. Auch kann man hier um jemanden bitten, der oder die zum Helfen nach Hause kommt, um das vom Sturm hinterlassenen Chaos zu beseitigen. »Ich brauche Decken, nachts ist mir kalt und die Heizung geht nicht mehr«, sagt Rosy, die aus Puerto Rico stammt. »Und wir brauchen dringend jemanden, der zu Hause hilft: Ich muss alles, alles wegwerfen und ich weiß nicht, wie ich neue Möbeln kaufen soll. Von dem, was ich besitze, kann ich nichts mehr gebrauchen.« Das Zentrum in Coney Island befindet sich in einem von einem Metallzaun abgeriegelten Lagerraum. Hier kommen alle LKW der Hilfe für Coney Island an, von den Kirchen bis hin zur Fema, der Bundesagentur für Katastrophenhilfe.
Von Anfang an organisierten die Aktivistinnen und Aktivisten von »Occupy« Koordinierungstreffen mit der Fema und der New Yorker Polizei. »Noch vor ein paar Monaten nahm uns die Polizei fest, heute kommen die Beamten sogar mit uns essen«, lacht Jeffrey, ein Student aus Brooklyn, der die Räumung des Liberty Park erlebt hat. »Ich muss ein älteres Ehepaar besuchen, dem Mann geht es nicht gut, er kann sich nicht bewegen«, sagt Joey, der von Beruf Krankenpfleger ist. Auf dem Bürgersteig gegenüber steht eine community organizer, die Kleidung und Hygieneartikel verteilt. Im Vergleich zu anderen betroffenen Gebieten sieht es hier aus, als sei die Rückkehr zur Normalität sehr weit entfernt.
In unmittelbarer Nähe der Küste wird der Ausmaß der Verwüstung deutlicher sichtbar: Die Straßen sind voll mit Schutthaufen, Möbeln und voll bepackten Kisten mit nunmehr nutzlosem Zeug. An den Zäunen der Häuser hängen neben dem Schutt alle mögliche Gegenstände, die von der Flut gespült worden sind. Viele der Häuser stehen leer, überall auf den Straßen sind Autowracks zu sehen, die nach einem Monat noch nicht beseitigt worden sind. In anderen Gegenden der Stadt hat die Überschwemmung gesundheitliche Gefahren mit sich gebracht, dort wird es lange kein Trinkwasser geben. Der Wiederaufbau wird lange dauern. In den vergangenen Tagen haben die U-Bahnlinien zu den am stärksten betroffenen Vierteln den Betrieb wieder aufgenommen, zunächst einmal kostenlos.
Die Leute von »Occupy« fangen dort an, wo die Erste-Hilfe-Maßnahmen aufhören. Sie besuchen die Menschen in den betroffenen Gegenden und stellen sicher, das die richtige Hilfe bei ihnen ankommt, aber vor allem versuchen sie, langfristige Netzwerke der Selbsthilfe auf lokaler Ebene aufzubauen, nach dem Vorbild der Nachbarschaftsversammlungen.

Auch die globalisierungskritische Bestseller-Autorin Naomi Klein beobachtet die Arbeit von »Occupy Sandy« mit Interesse. Klein, die derzeit ein Buch über den Klimawandel schreibt, ist heute zum Beginn der Kampagne »Do The Math« in New York City. Gleich wird sie mit Bill McKibben, einem Journalisten, Umweltaktivisten und Inititator der Kampagne auf die Bühne steigen und vor den rund 2 000 zahlenden Gästen das Ziel von »Do The Math« erklären.
Die Kampagne richtet sich gegen die transnationalen Konzerne, die mit Kohlenwasserstoffen wie Erdöl und Erdgas Profit machen und deshalb als Hauptverursacher des Klimawandels ausgemacht werden. Ein wichtiges Ziel ist es, Universitäten, Kirchen, Pensionsfonds und ähnliche Institutionen, die Aktien von transnationalen Konzernen wie Exxon und BP besitzen, dazu bringen, ihre Anteile zu verkaufen, divestment nennt man das.
Bevor Klein gleich auf die Bühne gerufen wird, findet sie noch Zeit, um »Occupy Sandy« zu loben: »Sie füllt die Lücke, die von den staatlichen Institutionen hinterlassen worden ist«, sagt sie. »In New York war und ist der Bedarf an konkreter Hilfe nach Sandy akut und dies wird nun in Form der Selbsthilfe organisiert, das ist neu. Die Betroffen fühlen sich dann nicht mehr nur als Opfer, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die sich kollektiv bemüht, wieder auf die Beine zu kommen.« Genau in dieser Überwindung der Passivität sieht Klein eine Möglichkeit für die Organisation politischer Strukturen über die praktische Katastrophenhilfe hinaus: »Es geht darum, dass die Leute anfangen, darüber zu diskutieren, wie der Wiederaufbau aussehen soll, dass sie sich aktiv an diesem Prozess beteiligen und nicht nur das hinnehmen, was Experten für richtig halten.« Klein hofft, dass durch den Einfluss von »Occupy Sandy« langfristige partizipative Projekte für die Entwicklung der benachteiligten Vierteln entstehen: »Wünschenswert wäre, dass in den betroffenen Vierteln die Bürgerversammlungen anfangen, Sachen zu fordern, wie zum Beispiel Solaranlagen für ihre Häuser.«
Die derzeitige Politik der Stadt zur Bewältigung der Kosten der Katastrophe gehe allerdings völlig in die falsche Richtung: »Eine der Maßnahmen, die gerade diskutiert werden, ist die Erhöhung der Preise der U-Bahnfahrkarten. Es ist absurd. Es gibt Leute, die infolge des Sturms vom Rest der Stadt komplett abgeschnitten sind, und anstatt ihnen zu helfen, zur Normalität zurückzukehren, lässt man sie noch mehr Geld ausgeben, oder man ermutigt sie, Auto zu fahren«, empört sich die Autorin und fügt hinzu: »Anstatt über den Bau von Dämmen zu diskuieren, sollte man anfangen, darüber zu sprechen, wie man vermeidet, dass die Flut immer größer und zerstörerischer wird.« Da ist etwas dran. Viele Stadtteile in New York und viele Städte in New Jersey liegen auf Meereshöhe oder sogar darunter. Ursprünglich waren viele dieser Gegenden sumpfig und es braucht nicht allzu viel Regen zu fallen, damit sie sich wieder mit Wasser füllen. Wie nachhaltig der Wiederaufbau sein wird, ist eine entscheidende Frage.
Leonide, eine der jungen Frauen mit Funkgerät in St. Jacobi, hat gerade wenig Zeit, um Fragen über die Zukunft zu beantworten. Sie scheint aber zu wissen, welche Fehler in der Vergangenheit begangen worden sind. »In New Orleans hat man nach dem Sturm die Schwarzen aus bestimmten Vierteln evakuiert, viele von ihnen konnten sich nach dem Wiederaufbau eine Wohnung in diesen Vierteln nicht mehr leisten. Hier besteht diese Gefahr weniger, aber wir müssen trotzdem wachsam sein. Es gibt noch viel zu tun«, sagt sie mit einem Lächeln, dann spricht sie wieder ins Funkgerät: »Sind wir so weit mit den 400 Mahlzeiten? Ich habe Autos, die jetzt losfahren können. Was soll ich tun? Selbst in der Küche helfen? Aber ich habe keine Ahnung vom Kochen!«

Übersetzung: Federica Matteoni