Siedlungspolitik und Wahlkampf in Israel

Bibi, der Baumeister

Israel steckt im Wahlkampf, innen- wie außenpolitisch geht es rund. Palästina darf in der Uno beobachten, Israel soll aber keine Siedlungen bauen.

Weder 40 000 Tote im syrischen Bürgerkrieg noch ein drohender Einsatz von Sarin-Giftgas gegen die Aufständischen in Damaskus, eine halbe Million syrische Flüchtlinge, die sich anbahnende Gegenrevolution in Ägypten oder gar die Vernichtungsträume des Hamas-Führers Khaled Meshal in Gaza besorgten die europäischen Außenminister in Brüssel am Montagabend vergangener Woche so sehr wie Israels Reaktionen auf den fragwürdigen palästinensischen Gang zur Uno. Der allein auf die Palästinenser reduzierte »Nahost-Konflikt« spielt bei den derzeitigen innenpolitischen Kontroversen in Israel allerdings keine Rolle. Einen sozialen Anstrich haben sich im Wahlkampf inzwischen alle gegeben, indem sie sich gegen hohe Benzin- oder Hüttenkäsepreise aussprechen – von Bibi (Benjamin Netanyahu) über Tzipi (Livni) bis hin zu Sheli (Shelly Yachimovich, Arbeitspartei).

Alle Prognosen zum Wahlausgang am 22. Januar in Israel mussten am Donnerstag vergangener Woche in den Papierkorb geworfen werden. Der ehemalige Verteidigungsminister Amir Peretz hatte für ein Durcheinander gesorgt: Er verließ die Arbeitspartei, um sich Tzipi Livni anzuschließen. Diese hatte mit der Gründung ihrer »Bewegungspartei« bereits das Oppositionslager zersplittert. Peretz war vor seinem Wechsel von den sozialdemokratischen Genossen auf den dritten Platz der Parteiliste gewählt worden, bei Livni landete er ohne Stichwahl ebenfalls auf dem dritten Listenplatz.
Bis zum 6. Dezember, der Frist für das Einreichen der endgültigen und nicht mehr änderbaren Kandidatenlisten der 34 angemeldeten Parteien bei der Wahlkommission, hat es noch andere Rauswürfe, Parteienwechsel und Rückzüge ins Privatleben gegeben. Bei manchen Anhängern des Likud hat der Zusammenschluss ihrer Partei mit Avigdor Liebermans Partei »Israel Beiteinu« hat Unbehagen ausgelöst. Der unter Korruptionsverdacht stehende Lieberman hat den stellvertretenden Außenminister Danny Ayalon vor die Tür gesetzt, weil dieser angekündigt hatte, den Parteivorsitz übernehmen zu wollen, falls Lieberman wegen einer Anklage seine Ämter aufgeben müsse. Lieberman mag keine Konkurrenz im eigenen Haus. Deshalb mussten sich auch der erfolgreiche Tourismusminister Stas Misezhnikov und eine Abgeordnete von »Israel Beitenu« »ins Privatleben« zurückziehen. Die bislang größte Partei Israels, die von Shaul Mofaz geführte Kadima, wird wohl an der Zwei-Prozent-Sperrklausel scheitern. Der bisherige Verteidigungsminister Ehud Barak und der frühere Ministerpräsident Ehud Olmert wollen nicht wieder antreten. Die künftige Zusammensetzung der Knesset ist völlig ungewiss.
Den Alleingang des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, Palästina in der Uno als »Beobachterstaat« anerkennen zu lassen, haben fast alle Politiker abgelehnt. Auf die unzweideutigen Ankündigungen des Hamas-Führers Khaled Meshal bei seinem »historischen« Besuch im Gaza-Streifen reagierten fast alle Israelis, von rechts bis links, mit Abscheu. Meshal hatte von »Widerstand« geredet und die Befreiung von ganz Palästina angekündigt. Weltfremd wirkten angesichts dieser Vernichtungsträume der Hamas Aufrufe an den »Hardliner« Netanyahu, die Hamas anzuerkennen (Sigmar Gabriel) oder die »letzte Chance« zu nutzen, den Islamisten die Hand zum Frieden zu reichen (Spiegel Online).

Der palästinensische Antrag zur Anerkennung als Beobachterstaat bei der Uno kam aus Sicht der Israelis einem Bruch der Osloer Verträge gleich. Diese sind aber die Grundlage für die palästinensische Selbstverwaltung in den besetzten Gebieten mitsamt Regierung, Briefmarken, Pässen, Polizei und Wirtschaftsabkommen. Yassir Arafat und Yitzhak Rabin hatten sich geeinigt, dass keine Seite allein den rechtlichen Status ändern dürfe.
Der Ausbau von israelischen Siedlungen im Osten Jerusalems bedeutet keine Statusänderung, der Gang von Abbas zur Uno aber durchaus. So stand Israel vor der Frage, ob alle Verträge für ungültig erklärt werden sollten oder welche andere Reaktion angemessen sei. Zunächst wurde beschlossen, im Namen der Autonomiebehörde eingezogene Steuern und Zölle einzubehalten und für die Bezahlung von Schulden bei der israelischen Stromgesellschaft zu verwenden. Israel hat jedoch kein Interesse am Zusammenbruch der Autonomiebehörde, der droht, wenn Abbas keine Gehälter mehr zahlen kann. Ein Ende der palästinensischen Selbstverwaltung käme den jüdischen Staat wesentlich teurer als die Begleichung ausstehender Stromrechnungen.
Nicht einzusehen ist jedoch, wieso israelische Steuerzahler für palästinensischen Strom- und Wasserverbrauch aufkommen sollen, nur weil die Autonomiebehörde keine Stromzähler austeilt und keine Gebühren einzieht. Während in Deutschland ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger kaum mehr ihre Stromrechnungen zahlen kann, erklärte schon 2006 ein EU-Beamter: »Weil die Bewohner des Gaza-Streifens nicht gewohnt sind, ihre Stromrechnungen zu zahlen, kann die EU nicht zuschauen, wie die Menschen im Finsteren sitzen. Deshalb zahlt die EU für die Stromerzeugung im Gaza-Streifen.« Es handelte sich um Millionenbeträge. So gewährte die EU den Palästinensern Privilegien, die sie den eigenen Bürgern nicht einräumt.

Die zweite Reaktion Israels war die Ankündigung, 3 000 neue Wohnungen unter anderem im Gebiet E1 zu bauen. E1 ist ein unwirtlicher, kaum erschlossener Hügel mit tiefen Schluchten zwischen Jerusalem und der 1974 gegründeten Stadt Ma’aleh Adumim östlich von Jerusalem. Die ersten Baupläne für E1 wurden schon unter Ministerpräsident Yitzhak Rabin entworfen. Bis heute nicht realisierte Baupläne irritieren jedoch die europäischen Außenminister mehr als die einseitige palästinensische Statusänderung in der Uno und die Tatsache, dass eine von Israel gebaute Autobahn zwischen al-Asarije im Süden und Anata im Norden viel eher »Kontinuität« im künftigen Palästinenserstaat ermöglicht als ein für Fahrzeuge unpassierbarer Hügel. Auch nach einer Annexion von E1 und Ma’aleh Adumim durch den israelischen Staat bliebe den Palästinensern ein 21 Kilometer breiter Korridor zwischen dem Norden und dem Süden der Westbank, während Israel sich mit einer 15 Kilometer breiten »Wespentaille« bei Natanya nördlich von Tel Aviv begnügen muss. Der Widerstand der »internationalen Gemeinschaft« gegen jegliche israelische Siedlungstätigkeit ist grundsätzlicher politischer Natur. In Israel hingegen sprechen zahlreiche rechtliche, politische, militärische, historische, emotionale und praktische Gründe für die Siedlungen, ganz besonders in Jerusalem.
Netanyahu hat möglicherweise einen schweren politischen Fehler begangen, indem er die Bautätigkeit in Siedlungen erstmals zu einer »Strafmaßnahme« gegen Palästinenser erklärte. Damit hat er der israelischen Siedlungspolitik seit 1967 und sogar historischen Ansprüchen auf heilige jüdische Stätten in Ost-Jerusalem die Grundlage entzogen. Ungeachtet der strittigen Frage, welche Siedlungen und Territorien Israel für seine »Sicherheit« benötigt und welchen Sinn die Siedlungen machen, ist am Beispiel von E1 zu erkennen, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um die »Zwei-Staaten-Lösung« geht. Die verbreitete Ansicht, dass das »traditionell arabische« Ost-Jerusalem fortan von »Palästina« isoliert wäre, ist faktisch falsch, denn Ramallah im Norden wie Bethlehem im Süden grenzen direkt an Jerusalem. So mag Israel weiter isoliert worden sein, aber die Glaubwürdigkeit der EU als moralischer Schiedsrichter und Mittler im Nahen Osten dürfte noch mehr gelitten haben.