Über den deutsch-jüdischen Schriftsteller Herrmann Grab

Was vom Erzählen übrig blieb

Über die vergessene Modernität des deutsch-jüdischen Schriftstellers Hermann Grab.

Am 4. August dieses Jahres fühlte sich der brasilianische Bestseller-Autor Paulo Coelho berufen, mit einem der bedeutendsten Romane der Literaturgeschichte abzurechnen. Gegenüber der Zeitung Folha de S. Paulo stufte er James Joyces »Ulysses« als schädliches Elaborat ein: »One of the books that caused great harm was James Joyce’s ›Ulysses‹, which is pure style. There is nothing there. Stripped down, ›Ulysses‹ is a twit« – ein letztlich inhaltsleerer, auf seine bloße Form reduzierter Unsinn also, banal wie eine Twitter-Nachricht.
Die Anmaßung, über jenen bürgerlichen Roman, der das selbstbezogene moderne Individuum in äußerster Nuanciertheit zur Darstellung brachte und gleichzeitig dessen Auflösung demonstrierte, wie über einen beliebigen Kommunikationsakt zu urteilen, sagt über den Stand des objektiven Geistes, die projektive Zurichtung des unverfügbaren Gegenstandes, einiges aus. Zentral jedoch an Coelhos Stellungnahme ist die Verachtung der Form. Die Form wird als Nichts, als nichtssagend, diffamiert und zum reinen Träger von Inhalten degradiert. Diese strikte Trennung von Form und Inhalt, Medium und Aussage, trifft in Wahrheit allerdings erst auf jene Literatur zu, die sich bereits in Kommunikation aufgelöst hat und an der Coelho mit seinen eigenen Werken teilhat – wie er auch freimütig zugesteht: »I’m modern because I make the difficult seem easy, and so I can communicate with the whole world.« Optimale Kommunizierbarkeit ersetzt den ästhetischen Gehalt. Coelhos Bücher – am bekanntesten sind hierzulande vielleicht die Berichte über seine Pilgerreisen auf dem Jakobsweg – dokumentieren die literarische Verwüstung, die einer solchen Auffassung folgt. Zumeist wird in ihnen inhaltlich unbestimmt Übersinnliches in einer brüchigen Rahmenhandlung und in schablonenhaften Charakteren verpackt, um letzten Endes zu offenbaren, dass doch alles seinen Sinn und Zweck habe, Schicksal, Glauben, Yoga, Spiritualität. Die Sehnsüchte des Kleinbürgertums werden durch eine solche Lehre von der Harmonie der Welt offenbar nach wie vor gestillt, weltweit 140 Millionen verkaufte Bücher beweisen die Kommunizierbarkeit von Coelhos Erbauungsliteratur. Erstaunlich jedoch ist, dass Coelho bei seiner Attacke intuitiv zu ahnen scheint, an welchem geschichtlichen Moment Form und Inhalt in der Literatur noch miteinander vermittelt waren und gerade das ästhetische Formgesetz den geschichtlichen Prozess zu reflektieren in der Lage war: in der Epoche von James Joyce nämlich, die auch die Epoche von Marcel Proust und Franz Kafka war, die Zeit der großen Romanciers am Ausgang der bürgerlichen Welt, in deren Werk sich die Autonomie der Kunst in gesteigerter Artifizialität gegen die immer unvernünftigere und gewaltförmigere Wirklichkeit abschloss und dadurch auf der Unversöhnlichkeit beider Sphären beharrte.

Hermann Grab und das Prager Judentum

Gegen das Erfolgskonzept Coelhos, den Menschen ihren unerträglichen Alltag mit unerträglicher Literatur scheinhaft zu versüßen, ganz alltagspraktisch wirksam und kommunizierbar zu sein, steht der l’art pour l’art mit seinem Versuch ein, in der ästhetischen Form die Erfahrung der Wirklichkeit in den Gegensatz und Widerspruch zur Wirklichkeit zu verwandeln. Während das Werk von Joyce, Proust und Kafka inzwischen sowohl weit verbreitet ist wie auch vom literaturwissenschaftlichen Betrieb wohlpor­tioniert absorbiert und anschließend in leicht bekömmlicher Häppchenkost – Hausarbeiten, Dissertationen, Habilitationen über den jeweils einen oder anderen isolierten Aspekt – wieder ausgespien wurde, ist ein anderer Literat jener Epoche, in der der autonomen Kunst ihre Basis entglitt, vollends dem Vergessen anheimgefallen: Hermann Grab. Nicht geschuldet ist dieses Vergessen der Qualität seines Werkes, das Zeitgenossen wie Thomas Mann und Theodor W. Adorno zu schätzen wussten, sondern eher den Unwegsamkeiten seiner Biographie. Da diese kaum bekannt sein dürfte, ist es zunächst notwendig, Grabs Lebensweg kurz zu skizzieren.
»Biographie skandalös uninteressant«, schreibt Hermann Grab 1947 im New Yorker Exil über sich selbst. »Geboren am 6. Mai 1903 in Prag, studierte Philosophie und Musik in Prag, Wien, Berlin, Heidelberg, Dr. phil. in Heidelberg. (…) Dann einige Jahre Journalist (Musikkritiker) und Musiklehrer in Prag. ›Stadtpark‹, geschrieben 1932, publiziert Neujahr 1935. Daneben viel unpublizierte Lyrik, Roman und Novellen. (…) Ging 1939 nach Paris, entkam Juni 40 nach Lissabon, Ende 40 in New York eingewandert. In New York als Musiklehrer tätig, Lehrstelle für Klavier an einem Konservatorium. In der Emigration nur ein paar kleine musikalische Dinge veröffentlicht, einige Novellen geschrieben und Arbeit an einem Roman.«
Abgesehen von der Frage, ob das Leben Grabs tatsächlich uninteressant war, verraten diese Zeilen etwas über die Unmöglichkeit, in Zeiten des politischen Ausnahmezustands und des tödlichen Drucks der Objektivität noch emphatisch von einer Biographie zu sprechen. Zerrissen ist die individuelle Lebensgeschichte, die gesellschaftlichen Mächte treiben den Einzelnen vor sich her bis zur Vernichtung. Grab spottete über die Vorstellungen seines Vaters, Repräsentant der vorherigen Generation, der eine gesicherte Zukunft für den Sohn als Jurist vor Augen hatte, als dieser die zerstörerische Entwicklung, die alle Pläne einer sicheren bürgerlichen Existenz zur Farce werden ließ, längst erkannt hatte.
Hermann Grab stammt aus dem deutsch-jüdischen Bürgertum Prags. Warum gerade die deutschsprachige Literatur in Prag zum Anfang des 20. Jahrhunderts mit Rainer Maria Rilke, Kafka, Max Brod und anderen die Avantgarde der europäischen Literatur bildete, ist durch einen Verweis auf die Besonderheit der historisch-gesellschaftlichen Situation der bürgerlichen Klasse in Prag nicht hinreichend zu erklären, aber doch besser zu verstehen. Prag war Teil der Monarchie der Habsburger, die vor dem Ersten Weltkrieg kaum die einzelnen nationalen Bestrebungen innerhalb des Reiches einzudämmen wusste und deren monströs riesige Bürokratie ebenso wie der ewige Kaiser Franz Joseph unzeitgemäßen Charakters war. Das Prager Bürgertum nahm die Erschütterungen der bürgerlichen Welt, das Ende der liberalen Epoche des Kapitalismus, besonders früh wahr. Seine spezifische gesellschaftliche Stellung, seine vielfache Isolation – von den Tschechen getrennt, weil es deutsch war, von den Deutschen getrennt, weil es jüdisch war, von den Juden getrennt, weil es assimiliert war –, bedingte eine seismographische Sensibilität für die durch die Weltwirtschaftskrise beförderte Auflösung des Bürgertums und für die existentielle Bedrohung der Juden, jenen »hunderttausendfältigen Dreyfusprozess«, als den Grab in einem Vortrag über Marcel Proust den modernen Antisemitismus bezeichnete.
Die Familie Grab, die durch die Wachstuchfabrikation zu erheblichem Wohlstand gekommen war, wurde im Jahre 1915 von Kaiser Franz Joseph in den Ritterstand erhoben. Der jüdische Adel, in den sie damit aufstieg, stellte einen Versuch der Emanzipation der Juden unter den Bedingungen der Habsburger Monarchie dar, die Nobilitierung war nicht zwangsläufig an die Konversion gebunden. Hermann Grab war katholisch getauft worden. Seine Auseinandersetzung mit dem Judentum als Form der Zugehörigkeit zu einem Volk gewann erst aufgrund der wachsenden Aggressivität des Antisemitismus, des Scheiterns der gesamtgesellschaftlichen und der jüdischen Emanzipation, an Intensität und Aktualität. Nach Auskunft von Zeitgenossen fehlte Grab jeder religiöse Zugang zum Judentum. Sein Freund H. G. Adler gibt in einem Brief Auskunft über Grabs spezifisches Verständnis vom Judentum: »Jüdisch hingegen möchte ich den Humanismus Hermann Grabs nennen, gerade sein (…) starkes soziales Gewissen, sein Mitleid mit der unterdrückten und gejagten Kreatur.«
Diese kurze biographische Skizze ermöglicht es, sich die materiellen und sozialen Bedingungen zumindest teilweise vorzustellen, unter denen sich die autonome Kunst in der Zeit zwischen dem Ende des sogenannten langen 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Zeitalters der Extreme entwickelte. Literatur unter kapitalistischen Bedingungen wohnt stets die Tendenz inne, reine Kommunikation zu werden, sich in der Absenz eigenen Gehalts einzupassen in den Strom der gleichgültig gegeneinander produzierten Kulturwaren. Kommunikation ist der Zustand, in dem der Warencharakter der Kulturwaren sich zu jener Stufe entfaltet hat, an der die Möglichkeit jeder anderen Gestalt tendenziell getilgt ist. Der geschichtliche Zeitpunkt und Ort, an dem der immanente Widerspruch zwischen Eigenlogik und Warencharakter noch nicht zur Gänze neutralisiert war und diese Spannung noch ästhetisch ausgetragen wurde, fällt in die Zeit der ästhetischen Moderne und damit auch des literarischen Schaffens von Hermann Grab. Diese Spannung, selbst historisches Produkt und historischer Prozess, prägt sowohl sein Werk wie seine Auffassung von Kunst.
Aufschlussreich für die Kunstauffassung von Hermann Grab ist sein 1933 im Rahmen der Reihe »Juden in der Literatur« gehaltener Vortrag über den französischen Romancier Marcel Proust. Dieser Vortrag dokumentiert die Aus­einandersetzung Grabs mit der Theorie der Literatur. Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt an seinem Roman »Der Stadtpark«. Tendenzliteratur zu schreiben lehnte er ab. Grab verteidigt in seinem Vortrag die Kunst Prousts – und damit ebenso sein an Proust orientiertes Werk »Der Stadtpark« – gegen den in sozialkritischer Absicht erhobenen Vorwurf, dass in dessen Lite­ratur nur die Leidenschaften und Sorgen wohlhabender Menschen, der oberen Schichten, geschildert würden, dass der soziale Ausschnitt von Großbürgertum und Adel die gesellschaft­lichen Verhältnisse verschleiere. Grab führt dagegen aus: »(A)bgesehen davon, dass unter dem Lichte der Kunst Allgemein-Menschliches in jeder noch so dünnen sozialen Schicht in Erscheinung tritt, ist eines mit Nachdruck zu betonen: Bei kaum einem modernen Autor sehen wir die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Sein so problematisch wie bei Proust, bei kaum einem ist ein so starker, wahrhaft sozialrevolutionärer Effekt spürbar. Und eben von der Betrachtung der oberen Schicht her ergibt sich dieser Effekt. Nicht allerdings durch irgendeine Art von Tendenz-Literatur. Die Menschen, die uns vorgeführt werden, sind zum größten Teil durchaus harmlos und anständig, aber, was erdrückend wirkt, ist die immense innere Fragwürdigkeit der von Proust gesehenen Welt, die innere Fragwürdigkeit der Menschen, der Beziehungen, der Gesellschaft im Ganzen.«

Tendenz und ästhetische Form

Den Begriff der Tendenzliteratur verwirft Grab zugunsten eines Verständnisses von Literatur, das auf einen universalen Begriff von Kunst zielt, auf eine Kunst, die das »Allgemein-Mensch­liche« in jeder sozialen Schicht aufzeigt, die Leiden der Menschen an ihrer spezifischen Form der Vergesellschaftung zum Ausdruck bringt und die pathogene Vergesellschaftung in ihrer Gänze zum Problem hat. Kunst, die in ihrer eigenen Form Wahrheit über Gesellschaft darzustellen weiß, stellt sich gegen den gewaltförmigen, irrationalen Weltlauf in aller Entschiedenheit – ganz im Gegensatz zur Tendenzliteratur, die einen unmittelbaren, partikularen Zweck in jener Wirklichkeit verfolgt, welche in ihrer Gesamtheit überhaupt in Frage zu stellen wäre. Die Wahl der Protagonisten nach Maßgabe des Identifikationsbedürfnisses des Publikums beschädigt daher das Werk selbst, verrät dessen Gehalt zugunsten der effektiven Kommunikation auf dem Markt. Doch das Publikum und dessen Forderungen sind nicht der Gegenstand des künstlerischen Schaffens Grabs, sondern Gesellschaft selbst, die sich der reibungslosen Kommunikation immer auch entzieht. Zum Begriff der Gesellschaft sagt Grab im gleichen Vortrag: »Die Gesellschaft bei Proust ist ein Haus, das in Brand steht. Das Innere ist schon fast vernichtet, die äußere Mauer noch intakt. Aber aus dem Innern schlagen die Flammen heraus und beleuchten sie. Erst in dieser neuen Beleuchtung übersehen wir die ganze Anlage der Fassade. Wir sehen sie ohne Schattenwirkungen in vorher nicht dagewesener Klarheit, wir sehen Architektur-Details, die wir vorher nicht bemerkten und die uns jetzt erst ihre Schönheit zeigen, im letzten Augenblick, bevor das Haus zusammenstürzt. Wir sehen eben, dass das erste Genie, das Snob sein durfte, offenbar das letzte war, das Snob sein konnte.« Im Moment des Verschwindens werden die Dinge in ihrer geschichtlichen Dynamik, ihrer Gewordenheit und ihrer Vergänglichkeit erkennbar. In der Transformation der bürgerlichen Gesellschaft wird jedes Versprechen eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit fragwürdig angesichts der geschichtlichen Entwicklung, der fortschreitenden Irrationalität.
Der Roman »Der Stadtpark«, der 1935 veröffentlicht wurde, erzählt vom Leben des 13jährigen Knaben Renato Martin aus bürgerlichem Hause zur Zeit des Ersten Weltkrieges in den Jahren von 1915 und 1916 in Prag. Die äußere Handlung ist stark reduziert, kaum vorhanden. Das Leben des Jungen ist von den Spaziergängen im Stadtpark mit seinem englischen Kindermädchen Miss Florence geprägt – der Name weckt in Renato »die Vorstellung von einer breitangelegten Hügelstadt, von schönen Frauen in roten Samtgewändern, von einer schwärmerischen Jugend und von geheimen Waffengängen«, wobei diese Vorstellung im schärfsten Kontrast zur Hässlichkeit und Fahlheit des Kindermädchens steht –, außerdem von einzelnen Fecht- und Klavierstunden, Kindernachmittagen und von der Zuneigung, der nichteingestanden Liebe zu der etwas jüngeren Marianne Gérard, die sich letztlich durch die Vermittlung Renatos mit dessen Freund Felix Bruchhagen, einem jungen Draufgänger, einlässt. Gegenstand des Romans ist aber nicht eine Handlung, im Gegenteil, die äußere Welt ist in Ritualen erstarrt, sie ist nicht erzählenswert, allein in weiter Ferne deutet sich das Grauen an, der Krieg, dessen Existenz nur selten Eingang in die Wirklichkeit der geschilderten Prager Oberschicht findet und doch deren Wirklichkeit beschädigt. Erzählt wird von dem seelischen Erleben des Jungen, es gibt keine Aktion, sondern nur einzelne Erlebnisse, die starken Eindruck auf das Kind machen. Das Erleben hat sich zurückgezogen ins Psychologische und wird, analog zum Lichtstrahl, der durch einen Kristall fällt und vielfach gebrochen wird, in Gedanken, Assoziationen und Bilder aufgespalten. Die Erlebnisse von Renato sind Kristallisationen, ein Verfahren, das Grab als »Impressionismus« bezeichnet.
Theodor W. Adorno, den Grab in Wien kennenlernte und der zeitlebens ein guter Freund von ihm war, schreibt über Grab, »dass ihm der österreichische Impressionismus noch selbstverständlich war, als längst die spiegelnd glatte Fläche der Gesellschaft zerbrochen lag. Er hat den poetischen Konflikt des zarten Subjekts mit der befestigten Bürgerlichkeit nachgelebt, während schon Kafka die schwarzen Parabeln schrieb, in denen das Subjekt einzig noch als verendendes erscheint. Aber er hat mit einer Zähigkeit, die seiner Zartheit gleichkam, aus dem Anachronismus ein Mittel der Verfremdung gemacht. Der Schauder vor der kalten erwachsenen Welt ist ihm zum Medium geworden, das Monströse, der humanen Erfahrung Entzogene dieser zuzueignen.« Grabs Roman »Der Stadtpark« erscheint im klassischen Gewand, Renato entspricht dem Typus des empfindsamen Nervenmenschen, der eher in die Literatur der Jahrhundertwende passt. Doch zeigt sich im verwandelnden Blick des Kindes auf die Welt der Erwachsenen die Brüchigkeit der Konventionen, die Fragwürdigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen. Renato überfällt beim Eislaufen kurz vor Neujahr eine ungeahnte Traurigkeit angesichts des neuen Jahres, des dritten Jahres des Krieges, und er beginnt zu weinen, was von den durch ihre Weltgewandtheit verrohten Erwachsenen als Wehleidigkeit einer verweichlichten Jugend abgetan wird, jedoch Ausdruck der Sensibilität für die verletzliche Stellung der Humanität in der Gegenwart ist. Stärker noch zeigt sich dieser Konflikt in einer Szene, in der Renato von seinem Kindermädchen Florence aufgefordert wird, der Frau Zuleger, dessen Sohn an der Front gefallen ist, sein Beileid auszusprechen: »Und auf die Frage, was er da sagen solle, gab sie ihm zur Antwort: ›Dummer Junge, dass du das nicht weißt.‹ Schließlich aber meinte sie: ›Du kannst ja sagen: Es tut mir schrecklich leid, dass der Herr Zuleger im Krieg gefallen ist.‹ Aber sie bemerkte nicht, wie traurig es war, von ›Herrn‹ Zuleger zu reden, dass nämlich Renato, der den Gefallenen nicht gekannt hatte, ihn jetzt nach seinem Tode zum ersten Mal mit ›Herr Zuleger‹ ansprechen sollte. Er sollte den Titel ›Herr‹ gebrauchen, den Titel, den der Friseur seinen Kunden gab und in welchem der Weg, auf dem der Fremde nach Verlassen des Frisiergeschäftes die Straßen durcheilen würde, und auch alle unbekannte Schönheit seines künftigen Lebens mit eingeschlossen war, während beim jungen Zuleger das Wort ›Herr‹ nichts anderes enthalten konnte, als das, was es bezeichnete (den Körper, der auf der braunen Erde lag), so dass sich dieses Wort erst hier in seiner ganzen Trostlosigkeit offenbarte. Aber nachdem Renato dann zu Frau Zu­leger in den Laden gekommen war und gesehen hatte, wie sie hinter dem Pult stand, einem Schüler ein Heft verkaufte und dann ein anderes langsam von seiner alten Stelle holte, da er mit Ausnahme des schwarzen Kleides, das sie trug, in dem kleinen Papiergeschäft nichts Ungewohntes bemerkt hatte, ging er sehr rasch wieder hinaus. Denn er hatte – ohne zu verstehen warum – gerade angesichts dieser geringen Veränderungen gespürt, dass er nahe daran war zu weinen (was vor Frau Zuleger, die selbst nicht weinte, sehr unangenehm gewesen wäre).« Was Grab unter Impressionismus verstand, nämlich die Welt in unmittelbarer, sozusagen naiver und gleichwohl ästhetisch vermittelter Weise anzuschauen, wird zum Modus der Verfremdung. Die Wirklichkeit zerbricht in die Welt des Kindes und der Erwachsenen, keine Harmonie wird durch die Erzählung zwischen diesen Welten gestiftet, kein Sinn oktroyiert, unversöhnlich treffen sie aufeinander. Diese Form der Darstellung ist der entschiedenste Einspruch gegen die konformistische Kommunikation, die in der Welt der Erwachsenen herrscht.

Beschädigte Novellen

Die literarische Sprache Grabs ist geprägt von den durchgebildeten Sätze des musikalisch Begabten, Sätze, die zum Überladenen neigen, sich gegen Harmonie und Ausgewogenheit zu sperren scheinen, weil immer wieder Elemente ein- und die Satzenden aufgeschoben sind. Diese Sprache lässt sich auf das kleinste Detail ein, wird auf diese Weise sehr differenziert und exakt, ohne dem Stil der Sachlichkeit zu folgen. Vielmehr zehrt sie von den Möglichkeiten des impressionistischen Verfahrens. Unschwer sind viele der Begebenheiten – Grab selbst hatte ein englisches Kindermädchen, seine Eltern hatten eine Wohnung nahe des Stadtparks – aus dem Roman als autobiographisch zu erkennen. »Der Stadtpark« folgt in der Tat einem autobiographischen Schreibverfahren, das – darin der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« von Walter Benjamin eng verwandt – die Erfahrungen des Kindes aus der geschichtlichen Konstellation heraus begreift, die auf dem Individuum lastet, und sie als geschichtsphilosophisches Rätsel zur Darstellung bringt.
»Der Stadtpark« wurde begeistert aufgenommen, so äußerte sich etwa Thomas Mann sehr anerkennend: »Ich habe Hermann Grabs Erzählung mit einem Vergnügen gelesen, wie sie mir lange kein Manuskript bereitet hat.« Klaus Mann hob in seiner Kritik die Nähe zu Marcel Proust hervor: »Er hat viel bei Proust gelernt (…). Proust hat – so wie ein Wissenschaftler eine neue Methode der chemischen Analyse entdeckt – die Technik erfunden, mittels derer eine neue Sen­sibilität, eine neue Erfahrenheit in den kleinsten und schwierigsten Dingen sich ausdrücken kann.« Heinz Politzer, der vor allem als Kafka-Forscher bekannt wurde, schrieb über Grabs Roman: »Weit mehr als eine Fabel wird in dem Buch erzählt: Über das kleine Parkett dieser Kindheit wechseln die Schatten der Erwachsenen und mit ihnen fällt die Not eines absterbenden Geschlechts und einer neuen Zeit, die sich im Weltkrieg eben erst ankündigt, in das Blickfeld des Knaben.« Doch trotz des frühen Erfolges blieb Grab durch die historische Entwicklung, die Flucht und das Exil, die Anerkennung seines literarischen Werkes verweigert, bis er letztendlich völlig vergessen wurde.
Hermann Grab schrieb in seiner New Yorker Zeit, wie Theodor W. Adorno berichtet, »planvoll beschädigte Novellen« und arbeitete an einem großen Roman, »der den hektischen Aufstieg einer jüdischen Bankierfamilie und ihren Untergang in Polen hätte darstellen sollen und etwas wie den Archetypus der Gesellschaft zwischen den beiden Kriegen geben« sollte, der jedoch unvollendet blieb. Die Novellen stellen den Höhepunkt der erzählerischen Kunst Grabs dar, was in »Der Stadtpark« formal angelegt war, kommt hier zur Entfaltung. Die Erzählungen selbst werden reflektiert als Fragmente des gerade noch Erzählbaren. Weiterhin werden Erlebnisse der eigenen Biographie zum Stoff, wie die Faschisierung des Alltags in »Die Advokatenkanzlei«, die Situation des Wartens in Lissabon auf das rettende Visum in »Ruhe auf der Flucht« und die Erfahrungen der Fremdheit als Exilant in New York, des unglücklichen Entronnenseins, in »Hochzeit in Brooklyn«. Was diese Novellen auszeichnet, ist ihre Form. Der Wirkungskreis des Erzählers und seiner Reflexionen wird zurückgedrängt, die einzelnen Figuren werden mit äußerster erzählerischer Genauigkeit gezeichnet. Die sprachliche Reduktion verdankt sich nicht dem Verzicht auf Gehalt, sondern im Gegenteil dem Versuch, an den Figuren selbst das Problematische ihres gesellschaftlichen Seins zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird keine Figur zum eigentlichen Protagonisten oder zum Helden, allenfalls wird ihrem Blick mehr Raum eingeräumt, bei Beibehaltung der erzählerischen Distanz. So gelingt es, dass nie das Fortkommen und das Glück des Einzelnen absolut erscheinen, sondern nur in ihrer Beschädigung existieren, innerhalb des universalen Schuldzusammenhangs. Die Erzählung »Die Mondnacht«, die ein großartiges Beispiel für Grabs ästhetisches Verfahren ist, beginnt mit der Schilderung von Soldaten in den Schützengräben und den schon Zurückgekehrten – »Soldaten in den Straßen der Stadt, manche mit merkwürdigen Sprüngen und Bewegungen, andere waren erblindet, denn der Gaskrieg machte Fortschritte« –, um sich dann der Idee einer Hofrätin zuzuwenden, die einen Konzertabend für den Hilfsverein im Interesse der Unheilbaren und Kriegsgeschädigten organisiert. Der Erzähler wandelt mit Leichtigkeit zwischen den Figuren und ihrem Erleben, zwischen der Hofrätin, die ihre gesellschaftliche Position behaupten will, und dem Industriellen, dessen Fabriken nun dank des Krieges in zwei Schichten laufen, zwischen dem Kritiker, der an dem Sinn von Musikkritiken angesichts des Krieges zweifelt und dem Oberst, der Musik für die Moral des Hinterlandes für unerlässlich hält und permanent den Endsieg verspricht, um sich zuletzt Nikolas zuzuwenden, der sich an diesem Abend verliebt zu haben glaubt, und gleichzeitig die Nachricht vom Tod seines Bruders von der Front erhält. Das Bild des letzten Absatzes, in dem der schwärmerische Nikolas aus dem Fenster heraus einen Blick auf den Park wirft, wird durch das zweier Soldaten, die zum Bahnhof gehen, gebrochen. Diese ästhetische Form der Gleichzeitigkeit wird von Grab immer weiter ausdifferenziert, und allein dieses erzählerische Verfahren, das kein Glück darstellt, sondern es immer nur in seiner Beschränktheit, in seinem angedeuteten Gehalt aufscheinen lässt, ist der Einspruch gegen eine Wirklichkeit, in der diese Gleichzeitigkeit real besteht, in der Glück daher noch gar nicht sein kann.

Faschisierung des Alltags

Grabs Sprache nähert sich mitunter dem Sarkasmus, leise nur und angedeutet, doch aber die gewaltförmige Wirklichkeit treffend. Auf welche Weise er, wie Adorno schreibt, »aufs Anorganische, Brüchige, Unmenschliche zögernd sich eingelassen« hat, tritt an bestimmten Formulierungen hervor. »Man gedachte der Opfer, denen man das Glück verdankte, und eilte, so schnell es ging, zum Konsulat«, kommentiert der Erzähler die Verschiebung der Quoten für bestimmte Nationalitäten bei der Ausreise in Lissabon – geschrieben im Bewusstsein der Schuld, die zum gesellschaftlichen Zusammenhang aller Menschen geworden ist. Wenn der soeben in New York angekommene Exilant fremd und desorientiert sich nachts in den Central Park verirrt und dort erschossen wird, während, nur ein paar Straßen entfernt und die Schüsse hörend, ein ebenfalls emigrierter Professor soeben sein Werk über Beethoven und den Humanitätsgedanken vollendet, das er für ungemein bedeutend hält, werden das Ausgeliefertsein des Einzelnen und das Scheitern des Geistes und der Kultur angesichts der materiellen Gewalt deutlich ins Bewusstsein gehoben.
Zwar war die begriffliche Durchdringung gesellschaftlicher Prozesse dem promovierten Soziologen Hermann Grab nicht fremd, doch zur Anschauung brachte er sie in der literarischen Form. In der Gretel und Theodor W. Adorno gewidmeten Erzählung »Die Advokatenkanzlei« wird vom Aufkommen des Faschismus erzählt, von der Rolle des Kleinbürgertums und des autoritären Charakters bei seiner Durchsetzung, sowie von der Kulturindustrie, es wird, schreibt Adorno treffend, erzählt von einer »Angestellten, die zur gleichen Zeit, da der nationalsozialistische Terror über ihre Heimatstadt sich lagert, eine italienische Reise macht, auf der sie nichts mehr erlebt als den toten Abguss approbierter Kultur«. Auch die Sprache Grabs legt von den geschichtlichen Erfahrungen Zeugnis ab, es dominieren Passiv-Konstruktionen und Substantivierungen, sie lenken den Blick auf den Vorrang des Objektiven, das handelnde Subjekt verschwindet weitgehend, individuelle Unfreiheit findet so ihren sprachlichen Ausdruck.
Hermann Grab starb am 2. August 1949 in New York. »Drei Jahre brachte er im Kampf mit der unheilbaren Krankheit zu, deren Wesen er heroisch sich verschwieg. Sein helles Bewusstsein schien aller rohen Fatalität zu spotten. Dass er starb, ohne zu vollenden was ihm möglich gewesen wäre, bezeugt etwas von der Ohnmacht des Geistes selber«, schreibt Adorno. Es bleiben nicht nur noch zu entdeckende literarische Texte, die nun erst allmählich in Einzelausgaben im Verlag Neue Kritik zugänglich gemacht werden, sondern ebenso das Zeugnis einer Literatur im Widerstreit zwischen Gehalt und Kommunikation, einer geschichtlichen Spannung, die heute zugunsten der verallgemeinerten Kommunikation und einer Modernität, wie sie Coelho für sich reklamiert, aufgelöst zu sein scheint. Grab hat auf dem Gehalt beharrt, nicht die eine Anschauung abstrakt gegen eine andere gesetzt oder Anweisungen zur besseren Bewältigung des alltäglichen Lebens im literarischen Gewand präsentiert, sondern den Blick offen auf die Misere der Gesellschaft in ihrer Totalität gerichtet und diese Erfahrung sich in der literarischen Form sedimentieren lassen. In dieser Hinsicht ähnelt sein Verfahren Adornos Bestimmung: »Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts als ihre Gestalt, dem Weltlauf zu widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.«

Literatur:
Theodor W. Adorno: Hermann Grab, in: ders.: Gesammelte Schriften 20/2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1986
Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 1981
Doortje Cramer: Von Prag nach New York ohne Widerkehr. Frankfurt/Main 1994
Karl Hobi: Hermann Grab. Leben und Werk. Freiburg/Schweiz 1969
Hermann Grab: Der Stadtpark. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1996
Hermann Grab: Hochzeit in Brooklyn. Sieben Erzählungen. Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1995
Ein weiterer Band mit Texten von und über Hermann Grab ist im Verlag Neue Kritik zurzeit in Vorbereitung.