Selbstoptimierung und Marktwert

Flagellanten im Zen-Zustand

Viele Menschen haben das Streben nach Erhöhung des eigenen Marktwerts so weit verinnerlicht, dass sie sich mit den wunderlichsten Methoden optimieren wollen.

»Ich bin heute morgen um 6 Uhr 10 aufgestanden, nachdem ich um 12 Uhr 45 zu Bett ging. Ich bin in der Nacht einmal ausgewacht. Meine Herzfrequenz betrug 61 Schläge pro Minute, mein Blutdruck 127 zu 74. Ich habe gestern nicht trainiert, deshalb wurde meine maximale Herzfrequenz nicht gemessen. Ich nahm etwa 600 Milligramm Coffein und keinen Alkohol zu mir. Und mein Wert auf dem Narcissism Personality Index oder NPI-16 beträgt beruhigende 0,31.«
Wollten Sie jemals so viel über die Körperfunktionen des Journalisten Gary Wolf wissen? Immerhin erspart er uns die Daten zu seinem Stuhlgang, vermutlich weil es dafür noch keine passende App gibt und er sein Smartphone nicht ins Klo stecken möchte. Für Anhänger der Bewegung »Quantified Self«, zu deren Gründern Wolf gehört, ist es jedoch naheliegend, auch die eigenen Ausscheidungen zu analysieren und zu optimieren. Wer will im globalen Wettbewerb schon riskieren, einfach nur so zu verdauen?
Innerhalb weniger Jahre ist »Quantified Self« vom skurrilen Hobby einiger Nerds zu einer Massenbewegung geworden, auch wenn nur eine Minderheit sich in entsprechenden Gruppen organisiert. Umfragen des Pew Research Center zufolge beschäftigen sich 27 Prozent der Internet-Nutzer online mit ihren gesundheitsrelevanten Daten, elf Prozent der Handy-Besitzer haben bereits eine App zum Gesundheitsmanagement heruntergeladen.
Für viele ist die Selbstquantifizierung weiterhin ein Hobby, und zweifellos gibt es nützlich Anwendungen etwa für chronisch Kranke. Doch der Satz »Ich habe gestern nicht trainiert« kommt heutzutage einem Sündenbekenntnis gleich, vor allem für Manager und Unternehmer, die den harten Kern der Selbstquantifizierer bilden. »Ich habe Jahre damit verbracht, Hunderten Leuten beizubringen, wie sie bessere Unternehmer und Manager sein können«, rühmt sich Dave Asprey, der als »The Bulletproof Executive« auch ein Upgrade für das Hirn anbietet. Er behauptet, seinen Intelligenzquotienten gesteigert und in einer Woche den »fortgeschrittenen Zen-Zustand« erreicht zu haben, für den Schlafmützen wie Buddha jahrzehntelang meditieren mussten.
Nun möchte vielleicht gar nicht jeder wie Asprey mit fünf Stunden Schlaf auskommen und dabei jederzeit so leistungsfähig sein, dass er sich mit dem Fuß hinter dem Ohr kratzen und gleichzeitig mit Finanzderivaten jonglieren kann. Doch hat die Bourgeoisie unserer Zeit die unangenehme Eigenschaft, die gesamte Gesellschaft nach ihrem Bilde formen zu wollen. So hat der Internet-Unternehmer Michael Galpert einen Diät- und Fitnesswettbewerb für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgerufen, natürlich mit Apps, damit keiner schummeln kann. Galpert bekennt offen, dass es um Leistungssteigerung geht: »Man kann sagen: ›Das Projekt, an dem ich arbeite, ist fertig‹, oder man kann sagen, dass man etwas mehr Zeit darauf verwendet, es besser zu machen.«

Dass die Zeit, die man früher Freizeit nannte, dem »Projekt«, also dem Unternehmer gehört, gilt auch außerhalb der IT-Industrie immer häufiger als ebenso selbstverständlich wie die Pflicht, die eigene Leistungsfähigkeit unermüdlich zu steigern. So sind etwa zwei Drittel der Lohnabhängigen in Deutschland nach Dienstschluss für den Unternehmer erreichbar. Immer häufiger werden auch sogenannte Zielvereinbarungen unterschrieben, in denen sich Lohnabhängige zu über das tarifvertraglich Vereinbarte hinausgehenden Leistungen verpflichten. Natürlich ist das alles freiwillig, so freiwillig wie die Suche nach einem neuen Job, nachdem man als low performer entlassen wurde.
Es erstaunt, dass zahllose Amokläufe aus nichtigen Gründen unternommen werden, aber noch niemand einem dieser Selbstoptimierungsterroristen das Smartphone samt Diät-App in den Rachen gestopft hat. Tatsächlich hat wohl nie zuvor eine so große Zahl von Menschen das Streben nach Erhöhung des eigenen Marktwerts als Ideal internalisiert. Die Zumutungen des Kapitalismus werden nicht nur hingenommen, sondern freudig bejaht und ihre erfolgreiche Bewältigung wird zum persönlichen Anliegen.
Dass der immens gestiegene Leistungsdruck psychische Krankheiten verursacht, hat sich zwar herumgesprochen, doch erwartet wird im Berufsleben, dass man die ständig wachsenden Anforderungen fröhlich erfüllt. Zum Glück gibt es jetzt die App »Track Your Happiness«, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Chef beim morgendlichen »Happiness Report« das Bekenntnis verlangt, man sei glücklich und freue sich sehr auf die Mehrarbeit für das Projekt.
Wenigstens die psychische Befindlichkeit betreffend sind noch Betrug und Selbstbetrug möglich. Das mood tracking beruht auf subjetiven Eigenangaben, ebenso wie Wolfs Einschätzung seiner Narzissmusgefährdung. Man muss nicht Psychologie studiert haben, um zu ahnen, welche Wahl die weniger narzisstische ist, wenn man sich im NPI-16 zwischen den Sätzen »Jeder hört meine Geschichten gerne« und »Manchmal erzähle ich gute Geschichten« entscheiden soll. Aber auch die App, die Bewegungsdaten manipuliert und dem Chef nicht erbrachtes Fitnesstraining vortäuscht, wird wohl bald auf den Markt kommen.
Die Selbstoptimierung ist eine moderne Version der Idee der Vervollkommnung, die bereits in der antiken Philosophie präsent war und in der Aufklärung zu einem Leitgedanken wurde. In der Antike stand die Tugendhaftigkeit im Vordergrund, im 18. Jahrhundert die Bildung. Dass der Mensch sich weiterentwickeln sollte, ist ein richtiger Gedanke. Die Auswahl der Tugenden stand jedoch immer im Kontext einer hierarchischen Gesellschaft – die Gerechtigkeit etwa wird erst durch soziale Ungleichheit notwendig –, und meist ging es auch um den Aufstieg. Bereits Konfuzius klagte: »Im Altertum lernte man, um sich selbst zu vervollkommnen; heute dagegen lernt man, um anderen gegenüber etwas zu gelten.«
Dass die Selbstoptimierung die mit Abstand geistloseste der bislang erdachten Vervollkommungsideen darstellt, ist offensichtlich. Nun lautet die Parole »lebenslanges Lernen«, und das klingt ein wenig wie »lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung«. Dass man dem Chef nicht sagen darf, man habe keine Überstunden zur Verbesserung des Projekts machen können, weil man ein interessantes Buch über Konfuzius zu lesen hatte, versteht sich von selbst. Vielmehr sollen die kommenden Erfordernisse der Produktivitätssteigerung erahnt und die benötigten Fähigkeiten vorausschauend erarbeitet werden. Und dann die Erfordernisse der folgenden Produktivitätssteigerung, denn ein Ende ist nicht vorgesehen.
Dass die Propagandisten der Selbstoptimierung diese nicht als schnöde Verbesserung des Marktwerts verstanden wissen wollen, macht die Sache nicht besser. Ein modernes Unternehmen hat eine »Ethik« und eine »Philosophie«, es versteht sich als moralische Instanz. Aus den Mitarbeitern werden so Jünger, die den Unternehmenszielen pausenlos verpflichtet sind und diese mit den Zielen ihrer persönlichen Entwicklung gleichsetzen.

Die religiösen Bezüge der Selbstoptimierung sind daher nicht zufällig. Eifrige Selbstquantifizierer beichten wie die Frühchristen vor der Gemeinde, allerdings täglich und ohne Aussicht auf Absolution. Während ein Gläubiger alter Schule ein paar der ihm auferlegten Ave Marias weglassen kann, merkt die Gemeinde der Selbstoptimierer anhand der veröffentlichten Daten sofort, ob der Sünder wirklich Buße getan, also den versäumten Lauf nachgeholt hat. Nicht zuletzt das Bedürfnis nach Askese und Selbstzüchtigung macht wohl den Reiz der Optimierung aus. Der Wunsch, sich zu unterwerfen und dafür belohnt zu werden, dürfte ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Doch eine App zur Messung der Stiefelleckfrequenz gibt es leider noch nicht.
Da die Selbstoptimierung weiterhin die Sache einer Minderheit ist, muss man aber auch mit verstärkten Bemühungen rechnen, sie den Unwilligen aufzuzwingen. Die Krankenkassen experimentieren bereits mit Gesundheits-Apps, vorerst auf freiwilliger Basis. Da aber Krankheit, im kapitalistischen Kontext Mangel an Leistungsfähigkeit, nunmehr als individuelles Versagen oder Folge von Willensschwäche gilt, könnte es bald zur Ordnungswidrigkeit werden, müßig auf dem Sofa zu sitzen.
So stattete das Jobcenter Brandenburg/Havel 18 Erwerbslose mit Schrittzählern aus. Wer am meisten läuft, egal wohin, bekommt einen Preis. Bezeichnend ist die Rechtfertigung der bizarren Aktion, die Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, vorbrachte: »Wenn in Managerkursen Schrittzähler getragen werden, ist das eine tolle Idee, wenn es Arbeitslose tun sollen, ist es automatisch Blödsinn.« Wenn die da oben durchdrehen, müssen die da unten mitmachen.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Zeiten der Krise gesellschaftlich hegemoniale Lehren von Übereifrigen zur Wahnidee radikalisiert werden. So kann man die Selbstoptimierungsbewegung als modernen Geißlerzug betrachten, als eine zeitgemäße Form der Selbstzüchtigung, die angesichts einer unberechenbaren Bedrohung das Seelenheil sichern soll. Im Mittelalter bremste die Amtskirche die Flagellanten, da die unkontrollierbaren Fanatiker ihre Autorität in Frage stellten. Kann im Spätkapitalismus mit einer vergleichbaren Reaktion gerechnet werden?

Die logischen Widersprüche sind eigentlich unübersehbar. Ein ganzes Erwerbsleben lang in nur einem Betrieb ausgebeutet zu werden, ist ein seltenes Privileg geworden, dennoch wird nun eine Überidentifikation mit dem jeweiligen Unternehmen verlangt. Überdies müsste selbst einem Manager im fortgeschrittenen Zen-Zustand klar sein, dass sich Leistung nicht beliebig immer weiter steigern lässt. Es ist absehbar, dass die unerfüllbaren Forderungen die Heuchelei und Falschspielerei im Berufsleben derart forcieren, dass es die Produktion stört. Offensichtlich ist auch, dass der Arbeitsmarkt gar nicht alle Optimierten benötigt und eine allgemeine Verbreitung des Optimierungswahns den Bankrott vieler Unternehmen der Konsumgüter- und Unterhaltungsindustrie nach sich ziehen würde.
Die Debatten über Burn-out und work-life-balance können als erstes Anzeichen dafür gewertet werden, dass es der Bourgeoisie – die in ihrer Geschichte ja immer zwischen Puritanismus und dem Streben nach aristokratischem Wohlleben schwankte – zu viel wird. Vermutlich legt Jürgen Fitschen keinen Wert darauf, sich mit dem Fuß hinter dem Ohr kratzen zu können, das Vorbild der Selbstoptimierer konfrontiert aber auch ihn mit neuen Anforderungen. Vielleicht wird bald ein Bündnis von RTL II, McDonald’s und Deutschem Brauer-Bund gegen den Optimierungsterror ins Feld ziehen. Derzeit aber bleiben den meisten Lohnabhängigen angesichts der Schwäche der Gewerkschaften nur individueller Betrug und Widerstand als Mittel der Gegenwehr.