Der Kongress »Refugee Struggle« in München

Aufstand der Nichtbürger

Vor einem Jahr begannen in Bayern die später bundesweiten Flüchtlingsproteste. Beim Kongress »Refugee Struggle« soll nun in München eine europäische Flüchtlingsbewegung initiiert werden.

Bewegungspolitisch war es ein schneller Erfolg. Ob bei Twitter, in den Mainstream-Medien oder in der linken Szene: Der »Refugee Strike«, auch bekannt als »Refugee Tent Action«, war 2012 schon kurz nach seiner Entstehung allgegenwärtig. Dann kam der Winter, natürlicher Feind ausdauernder Proteste, und so stagnierten die völlig überraschend ausgebrochenen, radikalen Flüchtlingskämpfe zuletzt. Doch jetzt lässt die Kälte langsam nach und die protestierenden Flüchtlinge haben Großes vor: Am kommenden Wochenende laden sie zu einem Kongress nach München. Mit Hunderten Teilnehmern aus verschiedenen Ländern rechnen die Organisatoren – und fassen ihren zentralen Kampfbegriff neu. Wo bislang von »Refugees« – die umstrittene deutsche Übersetzung lautet »Flüchtlinge« oder »Geflüchtete« – die Rede war, wird nun von der Figur des »Non-Citizen«, des »Nichtbürgers« gesprochen.

»In den elf Monaten unseres Kampfes haben wir eine Theorie entwickelt«, sagt Houmer Hedayatzadeh, ein Asylsuchender aus dem Iran, der von Anfang an beim Flüchtlingsstreik dabei war. Ihr Kampf habe sich immer gegen einzelne Aspekte der deutschen Asylpolitik gerichtet: Residenzpflicht, Lagerpflicht, Verweigerung von Deutschkursen, Gutscheine. »Wir glauben aber, dass es etwas gibt, was alle diese Dinge verbindet: Es ist die Art des Lebens, das wir führen müssen.« Im Gegensatz zum Bürger seien Asylsuchende und Geduldete kein Teil der Gesellschaft: »Wir werden ignoriert, wir zählen nicht.«
Weil ihnen, den Nicht-Bürgern, entscheidende Rechte verweigert würden, sei jede Regung »mit Kosten verbunden«, sagt Hedayatzadeh. »Die Leute von uns, die mit dem Marsch die Residenzpflicht verletzt haben oder die an dem Camp vor dem Brandenburger Tor teilgenommen haben, kriegen jetzt Post von der Ausländerbehörde, der Polizei und der Staatsanwaltschaft.« Noch sind es Vorladungen, doch dabei muss es nicht bleiben. »Sie können zu bis zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt werden«, sagt Hedayatzadeh, Freunde von ihm seien auf bayerischen Polizeiwachen darauf hingewiesen worden, dass die Gerichte sie auch in Abwesenheit verurteilen würden, wenn sie den Vorladungen weiter nicht Folge leisteten. »Das macht einen Teil unseres Lebens aus.«
Nun wird ziviler Ungehorsam stets vom Staat sanktioniert, es liegt geradezu in der Natur der Sache, die kalkulierte Regelverletzung zum Zweck des Protests zielt genau darauf ab. Doch Hedayatzadeh will die Aktionen der Flüchtlinge nicht mit denen von Castor-Demonstranten verglichen sehen. »Wenn Asylbewerber morgens aufwachen, müssen sie Angst haben, abgeschoben zu werden. Wenn sie Freunde treffen wollen, hindert sie die Residenzpflicht daran. Überall in ihrem Leben gibt es Hürden, die der Staat errichtet hat, weil wir nicht dazugehören sollen. Das ist der Unterschied zwischen uns und den Bürgern.«

Den Begriff des Bürgers verwenden die Asylsuchenden und Geduldeten vor allem als Gegenbegriff zu ihrem eigenen Status: »Natürlich machen wir einen Unterschied zwischen uns und anerkannten Asylbewerbern«, sagt Hedayatzadeh, »auch wenn die Anerkannten mit uns kämpfen«. Die Anerkannten könnten nach dem Protest nach Hause gehen, »wir können das nicht, denn wir haben kein Zuhause. Stattdessen können wir abgeschoben werden.« In der Vergangenheit hatte diese Unterscheidung unter anderem zur Folge, dass anerkannte Asylbewerber bei den Protest­plena teils nicht stimmberechtigt waren. An dieser Praxis wolle man aber nicht festhalten: »Das war einer der Fehler, die wir gemacht haben, aber wir haben aus diesen Fehlern gelernt«, sagt Hedayatzadeh.
Vor knapp einem Jahr hatten die Proteste ihren Anfang in Bayern genommen. In der Nacht zum 29. Januar hatte sich der Asylbewerber Mohammed Rahsepar in der Gemeinschaftsunterkunft Würzburg, in der ehemaligen »Adolf Hitler«-Kaserne, erhängt. Rahsepar hatte seinen Suizid angekündigt, sein Würzburger Arzt sagte damals, die »labile psychische Konstitution« des Mannes sei seit Monaten bekannt gewesen. Bereits im Dezember habe er Selbstmordabsichten geäußert und sei deshalb in der Würzburger Uniklinik für Psychiatrie untersucht worden. Man habe empfohlen, »an der Art der Unterbringung etwas zu verändern«. Die Ausländerbehörde sah keinen Handlungsbedarf. Der Tod Rahsepars war der Auslöser für eine ganze Reihe von bundesweiten Flüchtlingsprotesten. Im fränkischen Aub, in Bamberg, Düsseldorf, Hesepe und Regensburg traten Flüchtlinge in den Hungerstreik. Ähnlich der »Occupy«-Bewegung errichteten sie Zelte auf öffentlichen Plätzen. Sie nähten sich die Münder zu und schnitten sie wochenlang nicht wieder auf; über Monate verweigerten sie die Nahrungsaufnahme, Hunderte Kilometer marschierten sie durchs Land nach Berlin, wochenlang hockten sie in der Kälte vor dem Brandenburger Tor. Sie errichteten ein dauerhaftes Camp auf dem Kreuzberger Oranienplatz und besetzen eine nahegelegene Schule.

Nun organisieren die Flüchtlinge den Kongress in München, sie kehren nach Bayern zurück, wo die Proteste begannen. »Wir wollen nicht zulassen, dass etwas zentralisiert wird«, sagt Hedayatzadeh. Gleichwohl dürfte eine Rolle gespielt haben, dass es zwischen den verschiedenen Flügeln der Flüchtlingsbewegung nicht immer gut lief. Die Entscheidung einer Gruppe iranischer Flüchtlinge, sich Anfang November vom Oranienplatz zu lösen und allein einen Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor zu beginnen, war der deutlichste Ausdruck der Differenzen, die sich auch entlang ethnischer Linien festmachen.
»Die existierenden Flüchtlings-Selbstorganisationen sind teils von Leuten getragen, die mittlerweile Papiere haben«, sagt Hedayatzadeh, »das ist etwas grundlegend anderes als unser Kampf.« Deswegen haben sich die meist iranischen Flüchtlinge aus Bayern gegen die Möglichkeit gesperrt, sich in bestehende Organisationen zu integrieren – was zu Auseinandersetzungen führte. »Es gab Schwierigkeiten und wir werden darüber sprechen«, sagt Hedayatzadeh. Man habe deshalb sämtliche Fraktionen der Flüchtlingsbewegung zu dem Kongress eingeladen. »Wir erwarten, dass sie kommen.«
Außerdem hoffen Hedayatzadeh und die anderen Organisatoren auf das Kommen von Protestierenden aus anderen EU-Ländern. Denn als der »Refugee Strike« in Deutschland immer weiter anwuchs, kam es auch in Ungarn, Österreich, den Niederlanden, Frankreich und sogar Tunesien zu ähnlichen Aktionen. Hedayatzadeh will die Patenschaft dafür nicht annehmen: »Die Hauptmotivation ist ihre eigene Situation, was mit ihnen gemacht wird. Aber natürlich haben sie wahrgenommen, was wir getan haben.«

In München soll nun eine europäische Bewegung der »Non-Citizens« ins Leben gerufen werden. Denn während der Refugee Strike des vergangenen Jahres vor allem auf die jeweiligen nationalen Regierungen zielte, wollen die Flüchtlinge jetzt »nach Brüssel gehen«, sagt Hedayatzadeh. »Es gibt Asylgesetze, die in ganz Europa gelten, wie Dublin II, und es gibt Frontex. Vor allem aber teilen wir etwas mit allen ›Non-Citizens‹ in ganz Europa: Wir können uns die Art unseres Lebens nicht aussuchen, wir zählen nicht, wir sind nicht wichtig. Das ist unsere Gemeinsamkeit und deswegen müssen wir uns verbünden.«
Eine Strategie dafür gibt es auch schon: »Unser Hauptziel ist die Bildung von unabhängigen Räten von Flüchtlingen«, heißt es im Aufruf für München. »Die sollen vollständig von protestierenden Flüchtlingen selbst organisiert« sein und »an jedem geographischen Fleck als solidarisches Kollektiv gemeinsam Strategien ihres Widerstands ausarbeiten«. Der Weg dahin ist mühselig: »Wir müssen die Non-Citizens dort abholen, wo sie sind«, sagt Hedayatzadeh. »In jedem Lager, in jedem Zimmer«. Das meint er wörtlich: Im Februar begannen die Flüchtlinge eine Bustour durch die bayerischen Flüchtlingslager, nach dem Kongress wollen sie in den anderen Bundesländern weitermachen. Dass gleichzeitig eine Bustour mit genau der gleichen Absicht von den Flüchtlingen aus Berlin startet, sieht er nicht als Konkurrenz: »Die Bewegung muss in Bewegung bleiben.«