das Buch »Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert«

Absolute Feindschaft

Eine Studie untersucht antisemitische Zuschriften an jüdische Gemeinden und israelische Botschaften seit Beginn des 21. Jahrhunderts.

Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz haben jahrelang Unmengen an Briefen und E-Mails ausgewertet, die zwischen 2002 und 2012 an jüdische Gemeinden und israelische Botschaften in mehreren europäischen Ländern geschickt wurden. Die Sprachwissenschaftlerin von der TU Berlin und der Historiker von der Brandeis-Universität in Massachusetts haben sich durch über 10 000 Dokumente des Judenhasses gekämpft und stellen in ihrem Vorwort zu Recht heraus, es sei »keine Analyse bekannt, die auf einem quantitativ so umfangreichen und qualitativ so authentischen sowie für den antisemitischen Diskurs repräsentativen Korpus basiert«. Als Ergebnis ihrer Auswertungen konstatieren sie, dass »die meisten konzeptuellen Muster der zweitausend Jahre alten Judenfeindschaft« am Beginn des 21. Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Gesellschaften ungebrochen auftreten. Da eine »selbstkritische Reflexion und eine alle Gesellschaftsstrukturen umfassende Vergangenheitsbewältigung nach 1945 nicht so stattfand, wie der Zivilisationsbruch es erfordert hätte«, habe selbst die Shoa in Deutschland keineswegs zu jener oft behaupteten grundlegenden Zäsur hinsichtlich judenfeindlicher Äußerungen geführt; die gegenwärtige Sprache des Judenhasses reproduziere unablässig Begriffe, Phrasen und Metaphern aus der nationalsozialistischen Propaganda. Im Hinblick auf Deutschland weisen sie anhand ausführlich zitierter und zum Teil komplett dokumentierter Zuschriften an den Zentralrat der Juden und an die israelische Botschaft in Berlin auf das Motiv der Schuldabwehr als Spezifikum des Antisemitismus in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus hin. Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche 1998, als der Schriftsteller sich über die »Dauerrepräsentation unserer Schande« beklagte, von Auschwitz als »Moralkeule« schwadronierte und dafür stehende Ovationen vom versammelten deutschen Establishment bekam, stellen sie als wichtigen Einschnitt heraus, der bis heute nachwirkt und eine aggressive, wenn auch im Vergleich zu den fünfziger Jahren modernisierte Schuldabwehr in der Mitte der Gesellschaft fest verankert hat.
Schwarz-Friesel und Reinharz betonen, dass Antisemitismus kein »Vorurteilssystem unter vielen« ist, sondern ein »Weltdeutungssystem«, und halten fest, dass sich die Kritik des Antisemitismus nicht mit den Objekten der Judenfeindschaft, sondern mit ihren Subjekten, also den Antisemiten beschäftigen muss – allein schon deswegen, weil sich die antisemitischen Ressentiments in aller Regel nicht auf reale Juden und Jüdinnen oder das tatsächliche Agieren des jüdischen Staates beziehen: »Das antisemitische Ressentiment ist auf kein bestimmtes, konkretes Referenzobjekt in der realen Welt ausgerichtet, sondern bezieht sich auf das im Kopf der Sprachproduzenten gespeicherte Konzept JUDE, das keine empirische Fundierung hat.«
Einleitend skizzieren sie die Entstehung des rassistischen modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert und betonen sehr zu Recht im Widerspruch zu Autoren wie Götz Aly, dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten nicht »ökonomisch, sozial oder politisch motiviert« war, sondern ideologisch. Sie spüren der Entstehung der christlichen Judenfeindschaft nach, die durch Martin Luther nochmals radikalisiert wurde, und zeigen, wie bereits in der christlichen Tradition ganz wie im modernen Antisemitismus Juden nicht als »ein Feind«, sondern als »der Feind« gesehen werden, als das »ultimativ Böse, die menschliche Verkörperung des Schlechten«. Anhand ihrer Auswertungen weisen sie nach, dass frühe, religiös motivierte antisemitische Vorstellungen von den Juden als Teufelskindern und »dem Juden« als Antichrist selbst noch in heutigen Attacken auf jüdische Institutionen eine Rolle spielen und sich in Hasstiraden gegen Israel wiederfinden.
Das große Verdienst der akribischen Untersuchung besteht darin, die Bedeutung der Aversionen gegen den jüdischen Staat für den heutigen Judenhass in aller Deutlichkeit herauszuarbeiten: »Israel steht als Hassobjekt im Mittelpunkt des aktuellen Antisemitismus.« Als eines der zentralen Ergebnisse ihrer Studie warnen sie eindringlich davor, die heutigen Äußerungsformen des Antisemitismus ausschließlich bei Rechtsradikalen zu verorten. Die »Sprache der Judenfeindschaft« finde sich am Beginn des neuen Jahrtausends vielmehr in der Mitte der Gesellschaft, in fast allen gesellschaftlichen Gruppen und bei allen politischen Orientierungen. Schwarz-Friesel und Reinharz betonen, dass das für den Antisemitismus charakteristische Prinzip der Dämonisierung, das sich heute insbesondere gegen den jüdischen Staat richtet, wie man zuletzt wieder in der Debatte über die israelfeindlichen Aussagen Jakob Augsteins beobachten konnte, weit über eine »Sündenbockfunktion« hinausgeht. Es ziele vielmehr auf »absolute Feindschaft«, die im Nationalsozialismus das Fundament jenes Erlösungsantisemitismus bildete, den man heute unter gänzlich anderen Bedingungen etwa bei Protagonisten des iranischen Regimes der Holocaust-Leugner antreffen kann.
In der Untersuchung, die leider von einer unnötig hölzernen Wissenschaftssprache geprägt ist, findet sich bisweilen ein unkritischer Umgang mit Forschungsergebnissen (etwa jenen fragwürdigen Untersuchungen der vergangenen Jahre, wonach nur 20 Prozent der Deutschen »latent antisemitisch« seien), und einige sprachliche Merkwürdigkeiten, beispielsweise wenn behauptet wird, Heinrich von Treitschke, der Schöpfer der Parole »Die Juden sind unser Unglück«, sei durch den nationalsozialistischen Stürmer »instrumentalisiert«, also zu Unrecht vereinnahmt worden. Das größte Problem besteht jedoch darin, dass Schwarz-Friesel und Reinharz offensichtlich glauben, eine lupenreine Trennung zwischen einer von ihnen als legitim erachteten »Israelkritik« und einer antisemitischen Israelfeindschaft vornehmen zu können. Ihre Darstellung droht dadurch mitunter und vermutlich ungewollt in eine Anleitung zu »korrekter Israel-Kritik« abzugleiten.
Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen allein schon aufgrund seines Materialreichtums hilfreichen Band. Dessen Ergebnisse hätte man zwar auch ohne das aufgearbeitete Material aus ideologiekritischen Dechiffrierungen des antisemitischen Bewusstseins kennen können. Ideologiekritische Einsichten hinsichtlich aktueller Äußerungsformen des Antisemitismus werden hier allerdings mit einer Fülle an Belegen, die nicht nur für ein akademisches Fachpublikum von Interesse sind, nochmals untermauert.

Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, Bd. 7, De-Gruyter-Verlag, Berlin/Boston 2013, 445 Seiten, 80 Euro