Die Debatte um Gentrifizierungskritik in Leipzig

Die Moderne ist ambivalent

Auch wenn es mühsam ist und die Gentrifizierungskritik oft oberflächlich und verkürzt, sollte Stadtteilarbeit wieder auf die politische Tagesordnung der radikalen Linken gesetzt werden.

In Leipzig scheint sich die Gentrifizierungskritik darauf zu reduzieren, Farbbeutel auf Häuser zu werfen. »Der Kiez soll dreckig bleiben«, so einer der derzeit hipsten Slogans in den potentiell betroffenen Stadtteilen. Ihm wohnt die Hoffnung inne, dass mögliche Investorinnen und Investorren abgeschreckt, vielleicht sogar vertrieben werden könnten. Gentrifizierungsproteste wie diese zeichnen sich durch eine ungenügende inhaltliche Auseinandersetzung mit der Stadtentwicklung im Kapitalismus aus, vielfach reduziert sich die Kritik auf eine Skandalisierung der Verdrängung alteingesessener Bewohnerinnen und Bewohner. Dahinter steht vor allem der Wunsch, den Zustand und die Struktur des Viertels unverändert zu erhalten, wobei der Kiez als idyllischer Ort verklärt wird. Doch solch eine Gentrifizierungskritik geht fehl, missachtet sie doch die Ambivalenzen gesellschaftlicher Modernisierung sowie die Bedeutung subkultureller und alternativer Strukturen.
Anstatt über den Begriff und dessen Anwendung zu diskutieren, muss es vielmehr darum gehen, Gentrifizierung in den kapitalistischen Gesamtzusammenhang einzuordnen, denn sie lässt sich nicht monokausal erklären. Die Preissteigerung im Wohnungsmarkt ist Teil einer kapitalistischen Normalität, nicht Folge des Wirkens einzelner Immobilienmaklerinnen- und -makler, und hinter ihr steht ein komplexes Gefüge von mittelbaren und unmittelbaren Ursachen. Gentrifizierung stellt die sozialräumliche Folge einer Durchkapitalisierung der Stadt dar, also einer Zunahme an persönlichen und gesellschaftlichen Bereichen, die nach kapitalistischer Verwertungslogik ausgerichtet werden. Dies betrifft die Stadt als Ganzes und ihre einzelnen Institutionen, das städtische Leben und eben die in der Stadt lebenden Menschen. Der Prozess ist jedoch Teil einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung und kann daher nicht per se negativ bewertet werden.

Sicherlich ist es richtig, dass die Menschen in den subkulturellen und kreativen Milieus wenig bis gar nicht beeinflussen können, inwieweit sie auf einer gesellschaftlichen Ebene die Gentrifizierung vorantreiben. Aber indem nur Immobilienfirmen, Stadtverwaltungen und Besitzerinnen und Besitzer von Wohneigentum als Übeltäter gebrandmarkt werden, ignoriert man die komplexen und vielfältigen Transformationskräfte eines ökonomischen Systems wie des Kapitalismus.
Im Zuge der Individualisierung der Gesellschaft findet eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Wohnformen statt, die mit Sicherheit Errungenschaften gesellschaftlicher Modernisierung darstellen, die aber gleichzeitig auch mehr Raum benötigen und tendenziell auch mehr Geld. Auch viele Bewohnerinnen und Bewohner der von Gentrifizierung betroffenen Gebiete, die ein subkulturelles, politisch linkes oder alternatives Selbstverständnis pflegen, machen es sich oft zu einfach, indem sie ihre eigene Bezugsgruppe außerhalb des ökonomischen Systems verorten. Doch selbst wenn ihre Lebensstile vermeintlich dem Mainstream entgegenstehen, sind sie Ausdruck einer gesellschaftlichen Pluralisierung im Kapitalismus und diesem immanent. Die Adaption subkultureller und alternativer Ideen und Produkte dient einer gesellschaftlichen und ökonomischen Erneuerung des Kapitalismus. In Leipzig sind auch klassisch alternative DIY-Läden wie das Zoro und die Liwi Teil dieser Entwicklung, die allesamt zur Steigerung des kulturellen Werts des Stadtteils beitragen.

Leipzig hat als Wirtschaftsstandort nicht viel zu bieten. Die großen Unternehmen kann man an einer Hand abzählen. Es mangelt an Kaufkraft. Nicht zuletzt deshalb sind die Mieten auf relativ niedrigem Niveau, trotzdem bilden sich schon jetzt soziale Ungleichheiten räumlich ab. Leipzig gehört zu den ärmsten Städten in Deutschland, als ALG-II-Empfängerinn oder -Empfänger eine bezahlbare Wohnung in den beliebten Stadtteilen Connewitz oder Südvorstadt zu bekommen, um damit auch in der Nähe von attraktiven Lokalitäten oder Naherholungsgebieten zu wohnen, ist ein Glücksfall. Wie sich die Mietpreise entwickeln werden, hängt zu großen Teilen von der Entwicklung des Arbeitsmarktes ab, denn um andere die Lebensqualität steigernde Bedingungen steht es in Leipzig gut. Da in Leipzig nur wenige große Unternehmen ansässig sind, bemüht sich die Stadt besonders um die Kreativwirtschaft, die sich im Vergleich zur Gesamtwirtschaft durch ein konstantes Wachstum auszeichnet. Wenn Leipzig in der Standortkonkurrenz mithält und damit auch die Zahl derer sinkt, die aufgrund fehlender Arbeitsplätze die Stadt verlassen, wird sich der kapitalistische Drang nach Verwertung in dieser Stadt verschärfen.
Eigentlich gibt es keine günstigere Situation, um strategisch über politische Interventions- und Artikulationsmöglichkeiten zu diskutieren, als derzeit in Leipzig. Die der Gentrifizierung zugrunde liegende kapitalistische Entwicklung ist hier aufgrund der Folgen des Realsozialismus eine nachholende, weshalb die aktuelle Lage mit mehr Wissen und Erfahrung beurteilt und Aktionen mit anderen Städten abgeglichen werden können. Jedoch ist die politische Lage in der Linken eine völlig andere: Die Beschäftigung mit Gentrifizierung beschränkt sich, wie eingangs erwähnt, auf kleine und zugleich inhaltlich wenig fundierte Protestaktionen sowie auf einige Veranstaltungen und wenige Texte.
Während das Gros der Politszene sich von Gentrifizierung bedroht fühlt, wird in antideutsch geprägten Kreisen Gentrifizierungskritik mehr oder weniger mit altbackenen sozialrevolutio­nären Positionen gleichgesetzt. Es besteht kaum Interesse an sozialen Themen oder gar an einer breiteren Bündnispolitik. Es besteht die Ansicht, bei Gentrifizierungsprotesten handele es sich zwangsläufig um verkürzte Kapitalismuskritik oder die Verteidigung der eigenen Heimat in Form von Kiezromantik, bei der immer vergessen werde, welche Freiheiten der Kapitalismus für das Individuum gebracht habe. Eine kritische Auseinandersetzung mit Stadtentwicklung sollte dennoch erfolgen. Alles andere wäre Ignoranz der kapitalistischen Tauschlogik und der daraus entstehenden sozialen Folgen und Ungerechtigkeiten.

Eine Verteidigung der Moderne bedeutet jedoch, die ihr innewohnenden Ambivalenzen wahrzunehmen und dabei anzuerkennen, dass die mit dem Kapitalismus verbundenen positiven und negativen Folgen für den Menschen nicht separat verhandelt werden können. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Unzweifelhaft hat der Kapitalismus in progressiver Art und Weise die Beziehungen und Möglichkeiten der Menschen neu definiert und sie somit von alten Bezugssystemen befreit. Jedoch ermöglicht die Moderne eben nur die Konstitution eines Individuums, das in der Konkurrenz mithalten kann, da der Kapitalismus auf die Ausbeutung von anderen oder der eigenen Person angewiesen ist. Der Wunsch nach dem Persönlichen, Unvermittelten, Bekannten oder vielleicht sogar nach dem Kollektiven wird vorschnell lächerlich gemacht, ohne zu fragen, wie mit diesen möglichen Bedürfnissen umgegangen werden kann.
In der subkulturellen und alternativen Szene scheinen die Zentren oder gar der Kiez das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Unabhängig von den Unterschieden zwischen Zoro, dem Conne Island und einem Hausprojekt, lassen sich diese Orte überspitzt als autonom gewählte Familien beschreiben, von denen man sich aber auch wieder lösen kann. Zudem offerieren sie im Gegensatz zur Ohnmachtsgefühle auslösenden gesellschaftlichen Realität Möglichkeiten kollektiven Handelns und Gestaltens. Auch darf nicht ignoriert werden, dass diese Orte keine ­Inseln des hierarchiefreien und solidarischen Miteinanders sind und dass die Gefahr besteht, dass das politische Verständnis darauf zusammenschrumpft, den Kiez zu verteidigen. Es geht hier nicht darum, einer Volksgemeinschaft im Großen oder im Kleinen das Wort zu reden. Die Suche nach Alternativen des sozialen Zusammenhalts, in denen solidarisches und kollektives Handeln und soziale Empathie erfahrbar werden, in denen die Vergemeinschaftung nicht auf essentialistischen Kategorien, sondern auf bewussten Entscheidungen beruht, darf nicht grundsätzlich abgetan werden.
Die Einordnung der Gentrifizierung in eine kapitalistische Gesamtentwicklung als auch die grundlegende Kritik dieser ist für die Suche nach konkreten Handlungsmöglichkeiten auf den ersten Blick ein Hindernis. Doch da wir glauben, dass politische Transformationsprozesse müh­selig sind, weil sie letztendlich auf den Erkenntniswillen der Menschen basieren, plädieren wir dafür, Stadtteilarbeit wieder auf die politische Agenda der radikalen Linken zu setzen. Genau die Verbindung zwischen dem Versuch einer konkreten Lebensverbesserung auf der einen und Kapitalismuskritik auf der anderen Seite birgt das Potential einer Politisierung sozialer Missstände, da man sich nicht nur über Bündnismöglichkeiten, politische und inhaltliche Mindeststandards sowie mögliche Ziele verständigen muss, sondern mit Sicherheit auch an gesellschaftliche Grenzen stoßen wird.

Die Gruppe »Disneyland des Unperfekten« ist eine Kooperation der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff (Inex) und der AG Gentrifizierung des Conne Islands in Leipzig. Weitere Veröffentlichungen im »CEE IEH«: