Die Internetgemeinde und die Attentäter von Boston

Allein, braun, schwarzer Rucksack

Auch die Internetgemeinde beteiligte sich an der Tätersuche im Fall des Bostoner ­Anschlags. Wie völlig Unbeteiligte ins Visier selbsternannter Ermittler gerieten.

Eigentlich hatte sich der 17jährige Collegestudent Salah Barhoun nur einen schönen Tag machen wollen. Da der begeisterte Leichtathlet keine der begehrten Startberechtigungen für den Boston-Marathon erhalten hatte, wollte er zusammen mit seinem Coach das Rennen wenigstens live an Ort und Stelle verfolgen. Und so taten die beiden Männer am Montag voriger Woche das, was Zigtausende Bostoner taten: Sie feuerten die Läufer an. Bis zwei Bomben explodierten. Zwei Tage später veröffentlichte die Boulevardzeitung New York Post neben der Schlagzeile »Die Feds (das FBI, Anm. d. Red.) fahnden nach diesen beiden, die beim Marathon fotografiert wurden«, ein Foto von Barhoun und seinem Coach. Wie es dazu kam, ist nicht nur eine Geschichte journalistischen Versagens, sondern auch die einer bislang beispiellosen Hetzjagd im Internet, bei der ausgerechnet User von Foren und Image Boards wie Reddit und 4chan, die ansonsten sehr empfindlich auf staatliche Eingriffe in die Freiheit des Internets reagierten, keinerlei Rücksichten auf die Privatsphäre des Einzelnen nahmen. Dass vergrößerte Bilder von Zuschauern des Marathons, manchmal sogar mitsamt Namen und Links zu deren Social-Media-Accounts, als Fotos mutmaßlicher Bombenleger veröffentlicht wurden, wurde von Reddit sogar aktiv unterstützt. In einem schnell eingerichteten eigenen, mittlerweile gelöschten Unterforum konnten User Fotos sammeln und auswerten. Viele derjenigen, die Stunden damit verbrachten, Fotos zu analysieren und darauf ihrer Meinung nach wichtige Einzelheiten zu markieren, wollten zweifellos nur helfen. Auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Ermittlungsbehörden, die in keinem Land der Welt als besonders internet­affin gelten, mag eine Rolle gespielt haben.
Experten hatten auf CNN und Fox zuvor erklärt, worauf die FBI-Spezialisten bei der Auswertung von Foto- und Filmmaterial mutmaßlich achten würden. Aus diesen eher allgemein gehaltenen Statements strickten sich die selbsternannten Internetdetektive eigene Regeln zusammen; und schnell zeigte sich, wie effizient die viel gerühmte Schwarmintelligenz beispielsweise beim Racial Profiling vorgeht. Die meisten derjenigen, die als Verdächtige vorgeführt wurden, hatten eine etwas dunklere Haar- und Hautfarbe. In einer millionenfach angeklickten Bilderserie namens »4chan-Think tank« wurden gleich im ersten Bild die Kriterien genannt, nach denen man Verdächtige suchte: »1. allein, 2. braun, 3. schwarzer Rucksack und 4. offenkundig nicht dem Rennen zuschauend.« Barhoun und sein Coach erfüllten zweieinhalb der vier Punkte und wurden deswegen zu Hauptverdächtigen. Unter dem Hashtag #4chan bejubelten Twitter-User weltweit die angeblich erfolgreiche Entlarvung der Bombenleger, was vermutlich dazu führte, dass die New York Post deren Bilder veröffentlichte.
Dass Journalisten der großen Fernsehstationen bereits Fotos der tatsächlich Verdächtigen kannten und die Männer ganz anders beschrieben, hatte weder Blattmacher noch Amateurdetektive interessiert. Aber man war sich nicht nur bei 4chan sehr sicher, dass man die Richtigen erwischt hätte. Als bei Reddit ein Freund von Barhoun einen Thread eröffnete, in dem er die Bombenlegergeschichte in Zweifel zog, wurde der User wüst beschimpft und als »Terroristenkumpel« bezeichnet, der nur gezielte Desinformation betreiben wolle, um die Täter zu schützen.
Salah Barhoun hat immerhin Glück gehabt. Auf seiner Facebook-Seite wurde er auf die kursierenden Verdächtigungen sowie die Titelgeschichte aufmerksam gemacht. Der Student reagierte schnell. Er mache sich auf den Weg zur Polizei, um die Sache zu klären, schrieb er. Unterwegs wurde er wohl weder belästigt noch angegriffen, was angesichts der massenhaften Verbreitung seines Fotos durchaus erstaunlich war. Ein anderer dunkelhäutiger junger Mann hatte weniger Glück. Bereits kurz nach dem Anschlag hatte die New York Post gemeldet, dass ein junger Saudi noch am Tatort festgenommen worden sei. In Wirklichkeit war der Student bei der Detonation leicht verletzt worden. Bilder zeigen, dass die meisten Marathonfans, die sich nicht unmittelbar am Ort der Explosion befanden, versucht hatten wegzulaufen. Der saudische Student kam aber nicht weit, denn jemand warf ihn mit einem formvollendeten Tackle wie beim American Football zu Boden. Der »arabisch aussehende Mann« habe verdächtig gewirkt, weil er laut gerufen habe, dass ja vielleicht noch eine zweite Bombe hochgehe, hieß es später. Dass dies bei Anschlägen im Nahen Osten sehr häufig der Fall ist und der Mann die anderen Zuschauer nur warnen wollte, hatte sein übereifriger Angreifer nicht in Betracht gezogen.
Dass die wahre Geschichte des Mannes, dessen Facebook-Account mittlerweile von Forennutzern aufgespürt und veröffentlicht worden war, schließlich in allen großen US-Medien veröffentlicht wurde, war eine Wendung, die irgendjemandem nicht gepasst haben dürfte. Denn einen Tag später wurde die Nachricht, der saudische Student werde aus Sicherheitsgründen abgeschoben, massenhaft verbreitet. Präsident Barack Obama habe sich unplanmäßig mit saudischen Politikern getroffen, um den Fall zu diskutieren, hieß es, der junge Mann stamme nämlich aus einer bekannten Terroristenfamilie. Warum diese angebliche Information offenbar lediglich Teaparty-Bloggern zugänglich gemacht wurde und die großen Nachrichtenmedien kein Wort über die Geschichte verloren, war dem Internetdetektiv-Mob keine Sekunde Recherche wert. Binnen kurzem wurden Bilder aus dem Facebook-Account des Studenten verbreitet, die – obwohl so nichtssagend wie die meisten Fotos, die Leute bei Facebook veröffentlichen – schnell zum Beleg für die angebliche Gefährlichkeit des Mannes wurden. Erst am Donnerstag voriger Woche wurde der Fake entlarvt. Während der Ermittlungsarbeiten war man allerdings gleich auf einen anderen jungen Saudi gestoßen, der mit einem Studentenvisum eingereist war und es versäumt hatte, sich an seiner Uni zu immatrikulieren. Dieser Mann wird nun abgeschoben – aber auch nur vielleicht.
Dass spektakuläre Verbrechen benutzt werden, um rassistische Ressentiments zu schüren, ist nicht neu und müsste eigentlich auch jedem Internet-User, der sich in Foren aufhält, bekannt sein. Ein Fall, bei dem nur durch Zufall niemand attackiert und verletzt wurde, hatte sich im vorigen Sommer in Norwegen ereignet. Im Juli 2012 war mitten in Oslo ein 16jähriges Mädchen namens Sigrid verschwunden. Sie war in einem anderen Stadtteil bei einer Freundin zu Besuch gewesen und nicht zur vereinbarten Zeit nachts um halb eins nach Hause gekommen. Ihre Eltern reagierten besorgt und versuchten sie auf dem Handy zu erreichen. Schließlich nahm jemand ab, aber es war nicht Sigrid, sondern ein junger Mann, der das Telefon klingeln gehört und sich schließlich auf dem Gelände eines Kindergartens ganz in der Nähe von Sigrids Elternhaus gefunden hatte. Kurze Zeit später fand die umgehend alarmierte Polizei die wochenlang einzigen Spuren des Mädchens, nämlich ihre Schuhe und einen Socken.
Der Fall bewegte die norwegische Öffentlichkeit, wahrscheinlich auch wegen eines gruseligen Details: Sigrid hatte ihren Freunden von unterwegs eine ganze Menge SMS geschickt. Die letzte allerdings lautete »chille’n hjemme«, also »zu Hause und am chillen«. Man sei sicher, dass sie diese Mitteilung nicht selbst geschrieben habe, sagte eine Polizeisprecherin, und sofort begannen die Boulevardzeitungen damit, ausgiebig zu spekulieren. Kurz darauf nahmen Hunderte Bürger die Suche nach Sigrid auf, was in Norwegen nicht ungewöhnlich ist. Freiwillige werden von den Beamten täglich genau angewiesen und kurz auf die wichtigsten Verhaltensregeln aufmerksam gemacht. Um die Suche nach Sigrid zu koordinieren, wurde eine Extra-Facebook-Gruppe gegründet. Wo es keine 24 Stunden dauerte, bis in dieser Gruppe ein sehr eigenartiges Posting auftauchte. Er habe eine wichtige Beobachtung gemacht, aber die Polizei interessiere sich nicht dafür, begann der Verfasser und erzählte, dass er in der Nähe des Kindergartens ein rotes Auto gesehen habe, dessen Fahrer sich sehr verdächtig benommen habe. Der Mann, der nicht wie ein Norweger ausgesehen habe, sei nervös und hektisch gewesen, habe die Gegend genau inspiziert und sich dabei mehrmals in einer, so wörtlich, »nichteuropäischen Sprache« am Handy unterhalten.
Für Außenstehende klang diese Geschichte vollkommen unlogisch – was soll zum Beispiel eine nichteuropäische Sprache sein? Die 1 000 Gruppenmitglieder waren jedoch so gefangen davon, Sigrid endlich zu finden, dass niemand sich die Mühe machte, sie in Frage zu stellen. Oder nach dem Wortlaut des Postings zu googlen, wobei man festgestellt hätte, dass es zuerst in einem Neonazi-Forum verbreitet worden war. Und so passierte das, was passieren musste. Nachdem die Geschichte vom Mann im roten Auto alle sechs, sieben Stunden in einem neuen Thread gepostet worden war, begannen die Leute, nach den Merkmalen zu suchen, die in dieser Story genannt wurden: rotes Auto, ausländischer Mann. Schnell konzentrierte man sich auf einen leerstehenden Imbiss, den verschiedene Leute nun auf eigene Faust zu erkunden begannen. Der Besitzer war schließlich ein Ausländer, wie man anhand der öffentlich einsehbaren Register schnell herausgefunden hatte. Nachdem im Laufe eines einzigen Nachmittags gleich mehrere Leute dort aufgetaucht waren und verlangt hatten, die Räume zu inspizieren, baute sich in der Facebook-Gruppe zunächst noch sehr subtile, später immer aggressivere ausländerfeindliche Stimmung auf. Als einige Männer erklärten, sich am nächsten Tag notfalls mit Gewalt Zugang verschaffen zu wollen, griff schließlich die Polizei ein. Der wirkliche Täter wurde übrigens einige Wochen später gefasst, es handelte sich um einen waschechten Norweger.
Bei der Suche nach den Bostoner Bombenlegern ließ man sich allerdings auch durch von den Ermittlungsbehörden verbreiteten Fakten nicht stören. Und auch nicht davon, dass die Internetzeitung das Abfeiern der angeblich erfolgreichen Fahndung persiflierte, indem auf einem Foto, das Hunderte Zuschauer beim Marathon zeigte, jeder einzelne rot eingekreist und gefragt wurde »Ist das der Bombenleger«? Das alles sei »citizen journalism in action«, erklärte man bei Reddit stolz. Zu diesem Journalismus gehört auch das Abhören des Polizeifunks. Nachdem eine Polizeifunk-App für iPhones offenkundig abgeschaltet worden war – über einen Stream hatte man den Schusswechsel mithören können –, übernahmen gleich zwei Besitzer von Police-Scannern die Liveübertragung des Funkverkehrs. Die Einsatzkräfte hatten zuvor bereits unter anderem auf Twitter die Bitte verbreiten lassen, dass die Zuhörer weder Namen von Personen noch Adressen verbreiten sollten, was nur bedingt befolgt wurde; auch die persönlichen Daten von Menschen, die nicht im Zusammenhang mit den Anschlägen angehalten wurden, waren von Laiendetektiven veröffentlicht worden. Wer den Scanner-Stream nicht fand, musste trotzdem nicht auf das Gefühl verzichten, live bei der Attentäterjagd dabei zu sein. Auf Reddit wurde der gesamte Funkverkehr der Bostoner Polizei nahezu in Echtzeit transkribiert. Die Threads wurden in der Zwischenzeit gelöscht, die Bilder der zu Verdächtigen gemachten Männer kursieren dagegen natürlich noch immer. Die Tsarnaev-Brüder waren nicht darauf zu sehen.