Eine Mitarbeiterin des Jobcenters kritisiert das Hartz-System

Aus dem Herzen der Hartz-Bestie

Eine Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters hat ihre Arbeitserfahrungen in ­einem Blog öffentlich gemacht. Mittlerweile wurde sie beurlaubt.

»Wir haben eine extreme Angst. Einmal bei den Erwerbslosen, aber auch auf der Seite der Jobcenter-Mitarbeiter. Denn auch jeder Jobcenter-Mitarbeiter kann von heute auf morgen erwerbslos werden und auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzen.« Das sagte Inge Hannemann, Angestellte des Hamburger Jobcenters, am 15. April in einem Interview, das die Berliner Künstlergruppe »Videoatonale« mit ihr führte. Am 22. April erhielt Hannemann von ihrem Arbeitgeber ihre »Freistellung vom Dienst bis auf Widerruf«.

Unerwartet kam dies nicht, denn Hannemann hat bundesweite Bekanntheit erlangt, seit sie in ihrem 2012 begonnenen Blog »altonabloggt« unverblümt das Hartz-IV-System kritisiert. Von Seite der Empfänger des ALG II mangelt es nicht an Erfahrungsberichten über die ganz alltäglichen Schikanen der Behörde. Hannemann ist hingegen in Deutschland die erste und einzige, die unter eigenem Namen die Zustände aus der Sicht derjenigen schildert, von deren Entscheidungen es abhängt, ob jemand in eine sinnfreie »Maßnahme« gesteckt wird oder wegen Mietrückständen die Wohnung verliert. Neu ist es daher nicht, wenn sie anprangert, dass die »Kunden« von den Jobcentern systematisch in den sozialen Rückzug oder sogar in Depressionen oder den Suizid getrieben werden. Was Hannemanns Engagement so bedeutend macht, sind vor allem die bislang einzigartige Innenansicht aus dem Herzen der Bestie und der Versuch, die eigenen Kollegen aufzurütteln.
Auch sozialpsychologisch sind Hannesmanns Schilderungen eine aufschlussreiche Lektüre, denn es wird deutlich, wie sich der Druck der Lohn­abhängigkeit auch auf diejenigen auswirkt, deren Arbeit darin besteht, andere Menschen unter allen Umständen in Ausbeutungsverhältnisse zu zwingen. »Einzelne Projekte sind mehrheitlich mit befristeten Arbeitsgehilfen besetzt. Ein Umstand, der jedem Befristeten eine eigene Unsicherheit beschert. Und diese trägt er oder sie eben nach außen. Wie soll ein Befristeter mit der ständigen Unsicherheit umgehen, der nächste Tag könnte der letzte sein? So agieren die meisten stets linientreu, kopf- und statistikgesteuert – immer mit der Hoffnung, noch am letzten Tag ihrer Befristung eine begnadete Verlängerung zu erhalten«, schreibt Hannemann in ihrem inzwischen weithin bekannten »Brandbrief« an die Bundesagentur für Arbeit. Dass hinter den befristeten Arbeitsverhältnissen Kalkül stecken könnte, mag sie nicht ausschließen.
Bei den Kollegen stößt Hannemann nicht nur auf Zuspruch, sie berichtet von Anfeindungen und Mobbing. Verwunderlicher – immerhin sprechen wir hier von einer deutschen Behörde – ist allerdings, dass sie auch zahlreiche positive Rückmeldungen erhält und die Hoffnung nicht aufgibt, in den Büros der Jobcenter etwas bewegen zu können. Ihr bei Redaktionsschluss jüngster Blogbeitrag, verfasst nach Antritt ihres »Sonderurlaubs«, ist ein »Offener Brief an die Kolleginnen und Kollegen«, in dem sie einmal mehr zur Solidarität untereinander und mit denen auffordert, die als »Fälle« von Amtsstube zu Amtsstube gereicht werden. Für den 2. Mai ruft sie zu einer Schweigeminute auf, »für alle Erwerbslosen, die wir in Not, in Demütigung und in den Verlust der Menschenwürde getrieben haben«.

Über den Sinn eines solchen Vorhabens lässt sich streiten. Sollte Hannemanns Appell aber tatsächlich den einen oder die andere dazu bringen, die von ihnen Verwalteten nicht länger als lästige »Vorgänge« und potentielle »Sozialschmarotzer« zu behandeln, wäre das innerhalb einer Behörde, deren Strukturen die bürokratisierte Unmenschlichkeit verkörpern, schon einiges.
Aber doch wäre es viel zu wenig. Denn auch der freundlichste und bemühteste Jobcenter-Angestellte ist an die Bestimmungen des Gesetzbuchs gebunden. So zum Beispiel in dem Fall, von dem die Zeitung Rheinpfalz dieser Tage berichtete: Ein 32jähriger aus Kaiserslautern, der es auch ohne Berufsausbildung zum Abteilungsleiter im Verkauf gebracht, dann aber den Job verloren hat, absolviert nun an der Meisterschule eine Ausbildung zum Goldschmied. Vom Amt bekommt er keinen Cent, denn dazu müsste er Umschüler sein, was er mangels Erstausbildung aber nicht ist. Um Bafög zu erhalten, ist er zwei Jahre zu alt. Bräche er die Ausbildung ab, könnte er Hartz IV beziehen, aber dazu ist er verständlicherweise nicht bereit. Stattdessen lebt er von dem, was Freunde für ihn erübrigen können, ihm droht die Räumung. Der Geschäftsführer des zuständigen Jobcenters zuckt bedauernd mit den Achseln und erklärt, er könne den ablehnenden Bescheid nicht einfach außer Kraft setzen.
Aber »Arbeit« ist ja auch nicht mit »erfüllende Tätigkeit« gleichzusetzen, und den Erwerbslosen tatsächliche Hilfe zukommen zu lassen, ist nicht der Zweck des Sozialgesetzbuchs II. Wem das Mitgefühl des maßgeblichen Autors gilt, wird deutlich, wenn man weiß, dass Peter Hartz in seiner Eigenschaft als VW-Manager zuvor schon den Begriff der »atmenden Fabrik« geprägt hat. In seinem Hauptwerk geht es um nichts anderes, als das Nichtausgebeutetwerden noch unerträglicher zu machen, als es unter kapitalistischen Bedingungen ohnehin schon ist. Das zwingt nicht nur die »Leistungsempfänger« in Billigjobs, sondern führt auch zur Disziplinierung derjenigen, die sonst auf die dumme Idee kommen könnten, für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Eines der übelsten Wortmonster, die den Hartz-Reformen entsprungen sind, ist der »Arbeitsplatzbesitzer«. Der soll gefälligst froh und dankbar sein, das Privileg zu besitzen, täglich acht Stunden lang seine Arbeitskraft verkaufen und über die schlechten Witze des Chefs lachen zu dürfen.
Und so mancher »Arbeitsplatzbesitzer« ist es offenbar auch, denn Kapitalismus macht nun einmal dumm. Dieselben Abwehrreflexe, die das Jobcenter-Prekariat die eigene Kundschaft verachten lassen, sind bekanntlich auch in der gesamten Gesellschaft wirksam. Und wo das urdeutsche »Nach oben buckeln, nach unten treten« nicht ausreicht, hilft das ideologieproduzierende Gewerbe, das Vorurteil von den faulen, ungebildeten Hartzern zu reproduzieren, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als »Unterschichtsfernsehen« zu schauen und Bier in sich hineinzuschütten.
Ohne den Lebensinhalt »Lohnarbeit« sollte man es allerdings auch tunlichst vermeiden, Anzeichen von Lebensfreude zu zeigen. Denn wa­rum sollten die stolzen »Arbeitsplatzbesitzer« anderen etwas gönnen, das sie selbst nicht haben? »Eine Mutter spielt draußen trotz Platzregen mit ihrem Sohn Federball. Der Kleine lacht sehr viel. Man kennt sie im Dorf als ›Hartz-IV-Assis‹«, bringt es ein Tweet von @antiprodukt auf den Punkt.

Ob sich daran etwas ändern wird, wenn auch der letzte Arbeitsplatz im Land nur einen Schritt vom Bettelgang aufs Amt entfernt ist? Wohl kaum, denn je größer die Existenzangst ist, umso stärker ist auch das Bedürfnis, sich von denen abzugrenzen, die einem die eigene Zukunft schon vorleben. Solidarität, das ist etwas für die faulen Südländer, die uneinsichtig gegen die von Berlin verordneten Spardiktate protestieren, statt sich ein Vorbild am Niedriglohnstandort Deutschland zu nehmen.
Inge Hannemanns Beispiel zeigt zwar, dass es auch anders geht – jedoch auch, mit welchen Konsequenzen derjenige zu rechnen hat, der sich den Spielregeln verweigert. Da bleibt wohl nur, den Satz einmal nicht als leere Phrase zu verwenden: Wir wünschen Frau Hannemann viel Erfolg auf ihrem weiteren Lebensweg.