20 Jahre antirassistische Bewegung

Kirchen, Camps und Zellen

Antirassistische Politik ist in der deutschen Linken seit mehr als 20 Jahren ein wichtiges Thema.

»Rechte Freude«, sagte der Norderstedter Pastor Matthias Neumann, könne »angesichts der Verwüstungen« nicht aufkommen. Am 20. Februar 1992 endete die bis dahin längste Kirchenbesetzung der deutschen Geschichte. 106 Tage hatten zunächst 75 Asylbewerber in der Shalom-Kirche Zuflucht gesucht. Ihr Wohnheim in Greifswald war zuvor von Nazis überfallen worden. Autonome Linke hatten ihr Kirchenasyl unterstützt. Die Kirche und die Medien nicht. Die Gemeinde stellte ihnen ein Ultimatum, das Hamburger Abendblatt giftete gegen die »selbsternannten Beschützer« der Asylsuchenden. Sie »hinterließen ein Chaos, sprühten ›Rassistenpack‹ an die Wände und verklebten die Türschlösser«. Die Angestellten der Gemeinde seien »psychisch und physisch am Ende« gewesen.
Die Norderstedter Kirchenbesetzung gilt vielen als die Geburtsstunde der antirassistischen Bewegung in Deutschland – die damals noch auf größte Distanz zu liberalen und kirchlichen Kreisen bedacht war. In der Zeit der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda ging nicht nur die Zahl der Abschiebungen in die Höhe, sondern auch antirassistische Gruppen schossen »wie Pilze aus dem Boden«, schreibt der Blogger »Che 2001«. Während im Wendejahr 1989 rund 3 300 Menschen abgeschoben wurden, waren es 1993 zwölfmal so viele. Die Zahl der Asylanträge war zuvor von 121 000 im Jahr 1989 auf über 400 000 im Jahr 1992 gestiegen.

Doch schon vor der Wende hatten autonome Linke das Thema entdeckt. 1986 riefen sie eine »Flüchtlingskampagne« ins Leben. Dabei kamen sie ohne jene aus, um die es gehen sollte: »Niemand hatte ein Problem damit, eine Flüchtlingskampagne ohne Flüchtlinge zu starten«, schrieben die Revolutionären Zellen (RZ) später. Dafür schossen die RZ 1986 dem Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, und 1987 dem mit Asylsachen befassten Richter Günter Korbmacher in die Beine. Doch dann setzte sich die Auffassung durch, dass antirassistische Politik nicht ohne die Betroffenen möglich ist: »Für die zu dieser Zeit neu entstandenen autonomen Antirassismus-Gruppen stellte sich das Verhältnis zu den Flüchtlingen radikal anders dar«, schreibt »Che 2001« weiter. Statt als Opfer galten die Flüchtlinge nun als »revolutionäres Potential«, die Autonomen hielten es für ihre Aufgabe, ihre Revolten zu unterstützen. Ziel der neuen Bewegung war der Kampf gegen Abschiebungen, Lager, Asylbewerberleistungsgesetz, Arbeitsverbot, Duldungen und Residenzpflicht.
1994 gründeten im Lager Jena-Forst afrikanische Asylbewerber das bis heute aktive »The Voice Refugee Forum«. Die Asylpolitik des deutschen Staates nannten sie »Apartheidsregime« und verglichen es mit der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika. Vor der Bundestagswahl 1998 zogen Voice-Aktivisten in einer Protesttour durch 44 deutsche Städte. Das Netzwerk »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen« war geboren. Es ist als Schwesterorganisation von »The Voice« bis heute in elf Städten aktiv. Keiner anderen Organisation gelang es über einen so langen Zeitraum, Flüchtlinge aus den Lagern heraus bundesweit zu organisieren. Politische Priorität hatte stets der Kampf gegen die Residenzpflicht und Abschiebungen. Zu den Fluchtursachen sagen sie bis heute: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.«
Ebenfalls 1998 trat Kanak Attak auf den Plan. Poplinks und mit viel Selbstbewusstsein argumentierte das überwiegend von »Gastarbeiter«-Kindern getragene Netzwerk gegen »zugeschriebene, quasi mit in die Wiege gelegte ›Identitäten‹«. Der »Tag des ausländischen Mitbürgers« und auf Toleranz gründender Multikulturalismus waren ihnen ein Graus. Kanak Attak »wendet sich gegen die Frage nach dem Pass und der Herkunft«, heißt es im Manifest der Gruppe, die sich 2002 auflöste – nicht ohne eine lange nachwirkende Debatte mit der Karawane und »The Voice« initiiert zu haben. Deren Blick auf Migration als aufgezwungene Fluchterfahrung stellten sie die These der »Autonomie der Migration« entgegen. Mobilität ist in dieser Lesart Folge von Wunsch und Willen des selbstermächtigten, wandernden Subjekts.
Ob erzwungen oder selbstgewählt – für ein von weißen Linken getragenes Netzwerk war eines klar: »Migration kann kein Verbrechen sein, denn kein Mensch ist illegal.« Die Organisation mit dem zum Schlagwort geworden Namen gründete sich 1997, in der Zeit der Offensive der sans papiers, papierlose Einwanderer in Frankreich. Auf der Documenta X in Kassel veröffentlichten Antirassisten 1997 einen Appell, überschrieben mit einem Zitat des Shoa-Überlebenden Eli Wiesel, das mit den Worten beginnt: »Ihr sollt wissen, dass kein Mensch illegal ist.« Tausende Gruppen und Einzelpersonen unterschrieben. »Es bildeten sich Bündnisse von kirchlichen und antirassistischen Gruppen, die bisher ein distanziertes Verhältnis zueinander hatten«, schrieb der Verfassungsschutz.
Als der Sudanese Aamir Ageeb im Mai 1999 an Bord einer Lufthansa-Maschine während seiner Abschiebung von zwei BGS-Beamten erstickt wurde, begann »Kein Mensch ist Illegal« (KMII) die Kampagne »deportation.class«: Während der Lufthansa-Aktionärsversammlung 2001 legten rund 13 000 Internetnutzer die Airline-Homepage mit einer Protest-Software lahm. Es war die erste Online-Demo in Deutschland. Die Lufthansa stellte Strafantrag, doch einige Fluggesellschaften entschieden, künftig keine Passagiere mehr gegen ihren Willen zu befördern.

Bis heute überdauert haben die von KMII getragenen »No-Border-Camps«: Aktionscamps an Orten des »institutionellen Rassismus«. Hierzu zählte etwa die Oder-Neiße-Grenze, an der in den neunziger Jahren Dutzende Menschen ertranken. 1998 in Görlitz und 1999 in Zittau demonstrierten Antirassisten zum Beispiel mit Transparenten mit der Aufschrift »Keine Schleuserhatz«. 2000 errichteten die Grenzcamper in der Lausitz symbolisch eine »BGS-freie Zone«. 2001 zogen sie zum Frankfurter Flughafen, 2002 nach Straßburg.
»In dieser Zeit wurde uns aber klar, dass wir den Blick weit über die eigenen Grenzen richten müssen«, sagt Hagen Kopp, der KMII mitgegründet hat. Als die EU 2005 Frontex ins Leben rief, war »Kein Mensch ist illegal« zwar als Slogan noch präsent, als Netzwerk aber weitgehend verschwunden. »Wir haben versucht, der Externalisierung des Grenzregimes nach Osten und Süden zu folgen.« Zu den Kontakten in Polen kam die Vernetzung mit Gruppen aus der Ukraine, Ungarn, Italien, Marokko und Griechenland. Aus dem No-Border-Camp auf Lesbos 2009 ging das transnationale Netzwerk »Welcome 2 Europe« hervor. Nach dem sogenannten arabischen Frühling wandten sich deutsche Antirassisten Tunesien zu. Das »Netzwerk Afrique-Europe-Interact« versucht unter dem Motto »Für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung« seit einigen Jahren, antirassistische Kämpfe in Europa mit Basisbewegungen im westafrikanischen Mali zu verknüpfen.
Der EU-Expansion immer weiter hinterherzuziehen – dieses Konzept war in der antirassistischen Bewegung nicht unumstritten. Viele Gruppen, etwa aus Flüchtlingsräten und Kirchenkreisen, befürchteten, dass dies benötigte Ressourcen von den Projekten im Inneren abziehen würde. Und während die einen versuchten, mit dem externalisierten EU-Grenzregime Schritt zu halten, und andere die alten Bemühungen im Innern fortführten, geschah 2012 Spektakuläres: Nach dem Selbstmord des iranischen Asylsuchenden Mohammad Rahsepar in Würzburg entfachten iranische Flüchtlinge einen radikalen, mittlerweile fast 14 Monate währenden Protest, an dem sich Asylsuchende jeglicher Herkunft beteiligten. Als »Refugee-Tent Action«, »Refugee Strike«, »Refugee Revolution Bus Tour« oder, seit kurzem, als »Non-Citizens« erregten sie die Aufmerksamkeit der großen Medien. 20 Jahre nach Solingen und dem »Asylkompromiss« ist der Kampf um die Rechte der Flüchtlinge eines der zentralen Themen linker Politik.