»Behindert und verrückt feiern« heißt, die Macht der Scham zu brechen

Lass zucken!

Die Pride Parade »Behindert und verrückt feiern« stellt die gesellschaftliche Norm in Frage und will die Macht der Scham brechen.

Auf der Berliner Urbanstraße wird es am kommenden Sonnabend zu Behinderungen kommen. Mit Blockaden durch glitzernde Rollstühle wird zu rechnen sein. Seltsame Vögel und Verrückte werden Anwohnerinnen und Anwohner irritieren. Ungewohnte Körper werden spastisch zucken zum wummernden Bass des Lautsprecherwagens. Aus Gehhilfen werden Tanzhilfen mit Stil.
Wir wollen mit der Pride Parade »Behindert und verrückt feiern« provozieren und verstören. Körperlich und psychisch behinderte Menschen und solche mit Lernschwierigkeiten zeigen sich laut und selbstbewusst. Das ist immer noch ein Novum in einem Land, das sich seit einigen Jahren das Schlagwort Inklusion auf die Fahnen schreibt, aber noch weit davon entfernt ist, sie auch zu leben. Wir nennen uns Krüppel, Verrückte, Lahme und Eigensinnige – und das mit Stolz und Selbstbewusstsein, pride. Wir – das sind die, die durch Diagnosen und Gutachten als »behindert« kategorisiert und bewertet werden – ganz gleich, ob wir schizophren, kleinwüchsig oder langsam im Lernen sind. Das »Wir« schaffen nicht wir selbst, sondern eine Gesellschaft, die Etikettierungen will. Die können wir aber nur gemeinsam in Frage stellen und durcheinanderbringen.

Damit stehen wir in der Tradition vieler Bewegungen, die nicht nur gleiche Rechte einfordern, sondern mit gelebtem pride das weiße, heterosexuelle, männliche und vermeintlich autonome Subjekt in seiner angenommenen Überlegenheit blamieren. Die sich anmaßen, dessen Maßstäbe auf den Kopf zu stellen und damit ihrer entwertenden Kraft den Boden zu entziehen. »Pride arbeitet in direkter Opposition zu internalisierter Unterdrückung«, schreibt der behinderte und transidentitäre Schrifsteller Eli Clare. »Letztere bereitet den fruchtbaren Boden für Scham, Leugnung, Selbsthass und Angst. Selbsthass in Pride zu verwandeln, ist ein fundamentaler Akt des Widerstandes. Zu sagen: Ja, du hast Recht. Ich bin queer. Ich bin ein Krüppel. Na und?‹ – das stellt die Macht derjenigen in Frage, die uns nicht auf der Welt haben wollen.«
Lesben, Schwule und Bisexuelle scheinen es in punkto sexueller Identität in weiten Teilen geschafft zu haben, die Macht der Scham zu brechen. Sobald es aber um den funktionierenden Körper und Geist geht, zeigt sich die Scham hartnäckig. Auch nach Jahrzehnten des Hinterfragens von Geschlechternormen sollen Körper und Geist vor allem fit, funktionstüchtig und kontrolliert sein und Schönheitsnormen entsprechen. Gleiche Rechte, Barrierefreiheit, genug Geld für Unterstützung und Inklusion in allen gesellschaftlichen Bereichen – all das fordern wir mit Vehemenz. Doch das allein richtet nichts aus gegen die fundamentale Angst und Abwehr, die Behinderung und Verrücktheit immer noch evozieren: Diejenigen, die sich als nichtbehindert verstehen, mögen tolerant sein gegenüber »denen«, sich solidarisieren – aber selbst so sein wie »die«? Auf keinen Fall! Mit »denen« hat man nichts gemein, und das soll auch so bleiben.

Dabei ist die Vorstellung von ewiger Nichtbehinderung und seelischer Gesundheit eine Illusion. Menschen werden immer wieder in Krisen geraten – mehr oder weniger schwer. Phasen von körperlichen Beeinträchtigungen und Krankheiten sind normal, aber »behindert« nennen will sich deshalb niemand. Spätestens ab 70 mehren sich die Beeinträchtigungen – trotzdem möchten alte Menschen lieber »Senior« oder »Seniorin« sein statt behindert. »TABs«, »Temporarily Able-Bodied«, die »vorübergehend Nichtbehinderten«, so nennt man in der US-amerikanischen Behindertenbewegung daher auch die »Gesunden«. Behinderung nicht nur endlich als Teil des menschlichen Lebens und der Vielfalt zu akzeptieren, sondern sie sogar ganz unschamhaft als eigene und vielleicht sogar begehrenswerte Lebensform zu würdigen und zu feiern – all das würde Angst und Abwehr der »TABs« mildern.
Vielen Menschen scheint so etwas jedoch vollkommen undenkbar. Denn körperliche Beeinträchtigungen können Schmerzen verursachen, unangenehm und manchmal furchtbar sein. Körperliche Behinderung kann Verlust bedeuten, seelische Krisen können als großes Leid erlebt werden. Doch all das kann nicht auch als Teil des Menschseins angenommen und gelebt werden, wenn eine gesellschaftliche Norm es permanent wegmachen und heilen will. Die meisten von uns sagen, dass sie sich mit ihrer Behinderung arrangieren, sie als wichtigen Teil ihres Lebens annehmen und auch mögen. Was uns das Leben schwer macht, sind Vorurteile und Stereotype, Mitleid, Ausgrenzung und fehlender Zugang. Die Lösung kann nicht Heilung oder Anpassung der Einzelnen sein. Vor allem in einer Gesellschaft, in der die Beeinträchtigungen immer zahlreicher werden, müssen sich die Lebenswelt und das Denken über Behinderung verändern – erst dann werden Menschen ohne Angst verschieden sein können.

Unsere Autorin ist Mitorganisatorin der Mad & Disability Pride Parade in Berlin.