Shimon Shetreet im Gespräch über die Lage in Ägypten, die Rolle der Justiz und die Haltung Israels zu den jüngsten Entwicklungen

»Es handelt sich nicht um einen Putsch«

Der israelische Jurist Shimon Shetreet war von 1992 bis 1996 Mitglied der Knesset, er amtierte mehrfach als Minister. Derzeit ist der 67jährige Vorsitzender der International Association of Judicial Independence and World Peace (JIWP), die in den vergangenen Jahren auch ägyptische Juristen betreute. Die Jungle World sprach mit ihm über die Lage in Ägypten und die Konflikte zwischen der Justiz und der vor kurzem gestürzten Regierung der Muslimbrüder.

Welche Ziele verfolgt die JIWP, deren Vorsitzender Sie sind?
Unsere Organisation bemüht sich um eine Kultur juridischer Unabhängigkeit, dies ist eine Grundvoraussetzung für Frieden und Demokratie auf der Welt. Juridische Unabhängigkeit beinhaltet die individuelle, also materielle und persönliche Unabhängigkeit von Richtern sowie die kollektive und institutionelle Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Richter sollten von ihren Kollegen und Vorgesetzten unabhängig sein und die Freiheit besitzen, gesellschaftliche Bedingungen zu reflektieren, in denen Rechtsprechung stattfindet. Zwischen der Judikative und anderen Regierungszweigen sollte man sehr klare Grenzen ziehen.
Was tun Sie für die Verwirklichung dieser Ziele?
Wir sind ein internationales Team von Juristen, die Standards juridischer Unabhängigkeit erarbeiten. Diese werden regelmäßig angepasst und
korrigiert. Wir organisieren internationale Konferenzen, initiieren Bildungsprogramme und gehen den Hindernissen und Bedrohungen für unsere Vision nach. Von außen werden wir als Organisation wahrgenommen, an die Richter sich wenden können, wenn sie Beistand suchen. In solchen Fällen liefern wir die nötigen Dokumente. Wir haben unser Augenmerk im Moment etwa auf Argentinien gerichtet, wo der Kongress im Frühjahr Änderungen genehmigt hat, die der Koalitionsregierung mehr Kontrolle über das Rechtssystem verleihen – wohlgemerkt nur ein paar Tage, nachdem Tausende Argentinier gegen diese Maßnahmen protestiert hatten. Auch für Pakistan haben wir einschlägige Berichte verfasst. Da ist das Vorgehen des ehemaligen Präsidenten Pervez Mu­sharraf gegen die Richter des Obersten Gerichtshof dokumentiert sowie Fälle, in denen wir die Justiz unterstützt haben.
Ist die JIWP eine politische Organisation?
Ich würde uns als professionelle Organisation bezeichnen, nicht als politische. Die JIWP ist eine Art moralische Vertretung. Wir haben die erforderlichen Mittel und Möglichkeiten, wissenschaftlich fundierte Hilfe anzubieten. Aber wir arbeiten auch öffentlich, nicht nur innerinstitutionell.
Wie hat Ihre Organisation in den vergangenen Jahren auf die Situation in Ägypten eingewirkt?
Vielfältig. Kürzlich erreichte uns eine Nachricht von einem ägyptischen Richter – den Namen möchte ich ungern nennen –, der diverse Erfahrungen schilderte. Daraufhin setzten wir uns mit Behörden in Verbindung, die dem Thema »Verletzung juridischer Unabhängigkeit« Aufmerksamkeit verleihen sollten. Mitglieder unserer Organisation übten in schriftlicher Form Druck auf die ägyptische Regierung und die Botschaften in anderen Ländern aus. Wir forderten, dass Präsident Mohammed Mursi die juridische Unabhängigkeit unangetastet lässt.
Was war passiert?
Alle möglichen Dinge. Vor allem aber Selektionen von Richtern durch die Regierung. Im Rückblick waren die Konflikte mit der ägyptischen Justiz Mursis größter Fehler. Gegenüber dem Volk bevorzugte er die Muslimbruderschaft.
Können Sie etwas zu dem kürzlich publik gewordenen Fall des Gesetzesentwurfs zur
Senkung des Rentenalters für ägyptische
Richter sagen?
Den Gesetzentwurf haben wir natürlich untersucht, er steht exemplarisch für Mursis Verhältnis zur Judikative. Das Rentenalter ägyptischer Richter wollte man von 70 auf 60 Jahre herabsetzen. An die 8 000 amtierende Richter wären
dadurch außer Dienst gesetzt worden. Die Muslimbrüder unterstützen den Vorstoß. Es ging offenbar um den Machtzuwachs der Bruderschaft, man bereitete ihre juridische Vertretung vor, sorgte dafür, dass neu eingesetzte Richter aus deren Reihen stammen oder ihnen loyal gegenüberstehen. Im Grunde ist das ein einfacher Trick: Du senkst das Rentenalter, schmeißt die Alten aus dem Amt und ernennst politische Verbündete. Das gleiche versuchte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán 2011 in Ungarn – das wurde in letzter Instanz vom EU-Gerichtshof verhindert.
Hamdeen Sabahi, ein Vertreter der Opposition unter Mursi, nannte den Gesetzesentwurf damals ein »Massaker«. Ist bei solchen Aussagen Druck aus westlichen Staaten oder von Organisation wie der JIWP überhaupt notwendig?
Im Fall des Rentengesetzes: ja. Immerhin wurden wir von Richtern um Hilfe gebeten. Generell denke ich mit Blick auf aktuelle Ereignisse, dass westliche Organisationen Abstand davon nehmen sollten, paternalistisch zu sein. Der jüngste UN-Bericht zu Ägypten wurde in weiten Teilen von ägyptischen Wissenschaftlern verfasst. Zu denken, internationale Akteure wären qualifizierter,
die Situation zu bewerten, halte ich für Unfug. Wir sollten generell sehr sensibel sein, was die Kultur und den Ort betrifft, über den wir sprechen. Natürlich muss, was jetzt folgt, gewissen universellen Standards entsprechen. Aber Partizipation und Gewaltenteilung muss die ägyptische Gesellschaft aus sich heraus entwickeln.
Handelt es sich beim Sturz Mursis in ihren Augen um einen Militärputsch oder um eine Revolution?
Es handelt sich keineswegs um einen Putsch. Ein Putsch folgt nicht auf eine Woche der Massen­demonstrationen und die Sammlung von 22 Millionen Unterschriften für den Sturz der Regierung. Das war eine Revolution. Die Amtsenthebung des Präsidenten und was danach folgte wurde zwar von der Armee ausgeführt, die Grundlage für die Intervention aber schuf die Koalition, die ­Demonstrationen organisierte und Unterschriften sammelte. Da sind sogenannte liberale Kräfte, moderate Muslime und Unterstützer ehemaliger Wahlkandidaten. Die Armee war sich über die Unterstützung durch die Bevölkerung im Klaren.
Wie sähe ein nicht paternalistischer Weg aus, die Situation in Ägypten im Sinne der juridischen Unabhängigkeit zu beeinflussen?
Der richtige Weg wäre, unsere Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, dass beide Lager, die sich heute in Ägypten gebildet haben, in Koexistenz miteinander auskommen. Die ägyptische Gesellschaft muss eine Lösung finden – eine einvernehmliche Formel, durch die sich politische, soziale, juristische und alle anderen Kräfte gemeinsam verwalten lassen. Keiner darf ausgegrenzt werden.
Ist das nicht eine utopische Forderung?
Ich denke nicht. Wir beobachten eine zweite beziehungsweise eine fortgesetzte Revolution – die Antwort der Bevölkerung auf den Versuch, die Macht zu monopolisieren. Klar, wer weiß, vielleicht wird es noch immer nicht möglich sein, die Forderungen von 2011 zu verwirklichen. Dann sollten die Ägypter eine vergleichbare Lösung finden. Das kann alles viel Geduld erfordern. Wichtig ist, dass wir Ägypten nichts aufdrängen. Die EU sollte sich schleunigst von der Definition der Geschehnisse als militärischer Machtübernahme distanzieren. Obama sagte kürzlich, Ägypten befinde sich in einem Umwertungsprozess. Er geht mit gutem Beispiel voran.
Stehen Sie momentan in Kontakt mit ägyptischen Richtern?
Nein. Dafür ist die Situation noch zu unübersichtlich. Ich bin aber überzeugt, dass wir den Kontakt halten werden.
Können Sie abschätzen, was mit der ehemaligen Verfassung passiert?
Hierauf gibt es noch keine Antwort. Durch die 22 Millionen Unterschriften wurde die Verfassung ja suspendiert, zumindest ist das die normative Erklärung. Klar ist, dass die Armee aus ihren Fehlern gelernt hat. Anstatt sich wie letztes Mal selbst zu ernennen, beriet sie sich mit allen
politischen und religiösen Führungspersonen. Dass der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Adli Mansur, als Interimspräsident eingesetzt wurde, ist das Ergebnis dieser Beratungen.
Sie waren Mitglied der israelischen Knesset. Welche Folgen hat der Wandel in Ägypten für Israel?
Israel folgt einer Strategie der Nichteinmischung. In Israel definiert man die Vorfälle in Ägypten bislang als interne Angelegenheit. Von offizieller Seite hält man es noch für verfrüht, eine klare Position zu beziehen. Wir überlassen die Entscheidung den Ägyptern.
Lassen sich die jüngsten Geschehnisse in Ägypten in den Zusammenhang der Entwicklung in den arabischen Staaten stellen?
Ich denke, die Entwicklungen vom Januar 2011 und vom Juni 2013 sind Teil desselben Prozesses. Was wir heute beobachten, ist eine Umgestaltung des Umgestalteten, eben weil die Erwartung, es werde eine partizipative Demokratie entstehen, enttäuscht wurde. Die Regierung Mursis ver­teilte die Macht von Beginn an parteiisch – an Muslimbrüder. Wir sehen, dass soziale Basis­bewegungen in vielen arabischen Ländern wachsen. Das halte ich für sehr begrüßenswert. Es ist wichtig, dass Ägypten nicht dem iranischen Modell folgt. Das Ziel sollte ein Modell sein, das nicht nur einem gesellschaftlichen Sektor
dient, sondern alle gleichwertig teilhaben lässt. Durch den Einsatz von Gewalt schafft man kein Recht und keine Ordnung.