Berliner Zustände. Die rassistischen Proteste in Berlin-Hellersdorf

»Machen Sie mir nicht die Nazis schlecht«

Im Berliner Ostbezirk Hellersdorf eskalierte in der vergangenen Woche die Auseinandersetzung um ein Flüchtlingsheim. Rechtsextreme und Rechtspopulisten versuchen, aus der unter den Anwohnern herrschenden Stimmung Kapital zu schlagen. Die Kameras der gesamten Republik sind derzeit auf sie gerichtet. Doch wer dort nach organisierten Nazis sucht, findet eher ganz normale Alltagsrassisten.

»Ich kenne einen, der kennt einen Polen, der kommt jedes Monatsende hierher, um Geld zu kassieren, und danach fährt er mit der ganzen Sippschaft wieder rüber. Und die Rumänen sind noch viel schlimmer«, erzählt ein älterer Mann den zwei Menschen, die offenbar zufällig neben ihm stehen. Ob er eigens gekommen ist, um sich die Kundgebung von »Pro Deutschland« anzu­hören, die gerade zu Ende geht, oder ob er einfach nur so vor dem Einkaufszentrum »Spree Center« herumsteht, weil es sonst ja nicht viel zu tun gibt in Hellersdorf, am Ostrand von Berlin, lässt sich nicht sagen. Aber wie viele der rund 40 Leute, die dem knappen Dutzend Aktivisten von »Pro Deutschland« lauschen, scheint er für die Parolen der Rechtspopulisten zumindest empfänglich zu sein.
Er dürfte es jedoch schwer gehabt haben, den Beiträgen der Redner der Partei zu folgen, nicht nur weil die mehreren hundert Gegendemonstranten ihr Bestes tun, um sie zu übertönen, sondern auch, weil die teilweise extra aus Nordrhein-Westfalen angereisten Mitglieder der selbsternannten »Bürgerbewegung« doch erhebliche Probleme mit der mitgebrachten Technik haben. Das Wenige, was zu verstehen ist, macht jedoch teilweise sprachlos.
Lars Seidensticker etwa, ehemals Republikaner, dann DVU-Mitglied, heute Generalsekretär von »Pro Deutschland«, spricht von syrischen Flüchtlingen als »Vaterlandsverrätern«, als »Deserteuren« und »Fahnenflüchtigen«. Manfred Rouhs hingegen, Bundesvorsitzender der Partei und früher bei der NPD aktiv, bemüht sich um Mäßigung. Die Debatte dürfe nicht auf dem Rücken von Menschen ausgetragen werden, fordert er. Dabei sind er und die anderen doch aus genau diesem Grund hier. Sie wollen aus dem schon seit Wochen andauernden Streit um die zwei Tage zuvor neu eröffnete Asylbewerberunterkunft hier in Hellersdorf Profit schlagen und hoffen offensichtlich darauf, es wieder einmal in die Schlagzeilen zu schaffen.
Diese Schlagzeilen gab und gibt es reichlich, seit Tagen ist Hellersdorf eines der wichtigsten Themen der lokalen und überregionalen Nachrichten. Auch die Bundespolitik hat das Thema mittlerweile für sich entdeckt. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) zum Beispiel sorgt sich öffentlich um das Ansehen Deutschlands. Es sind Reaktionen, die einem bekannt vorkommen, denn ganz ähnliche Aussagen waren vor rund 20 Jahren von führenden Politikern zu hören, als in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und so vielen anderen Orten der deutsche Mob gegen alles marschierte, was ihm nicht deutsch genug war.
Auch vor der Unterkunft in der Carola-Neher-Straße, etwa einen Kilometer entfernt, geschehen seit Tagen Dinge, die an diese Zeit erinnern. Am Montag voriger Woche, am Rande des Einzugs der ersten Bewohner der Unterkunft, erlangte der Anwohner Ronny S. traurige Berühmtheit, als er erst dem Fernsehen ein Interview gab und gleich darauf den Hitlergruß zeigte und von der Polizei mitgenommen wurde. Das Medienecho war einhellig. Selbst Bild schrieb, man schäme sich »für diesen Deutschen«.
Die Anwohner haben mittlerweile aus dem Fall Ronny S. gelernt. Viele haben keine Lust mehr, mit den Medienvertretern zu sprechen. Denen gehe es ohnehin nur darum, Hellersdorf als rechten Stadtteil und sie alle als Nazis abzustempeln, hört man immer wieder. Ganz von der Hand zu weisen sind diese Befürchtungen nicht. Wirklich falsch ist die Behauptung, Hellersdorf sei ein rechter Stadtteil, allerdings auch nicht.
Es kommt dabei jedoch darauf an, wie man »rechts« definiert, denn fast schon traditionell wählt die Mehrheit im Bezirk Marzahn-Hellersdorf rot bis tiefrot. Regelmäßig erhält Petra Pau von der Partei »Die Linke« hier bei den Bundestagswahlen das Direktmandat, und auch in der Bezirksverordnetenversammlung stellt die Partei die stärkste Fraktion. Allerdings sitzen dort auch zwei Verordnete für die NPD, die hier bei der Wahl auf mehr als vier Prozent der Stimmen kam. Über 4 000 Menschen stimmten damals für die Partei. Hinzu kommen noch einmal fast 3 000, die die rechtspopulistischen Parteien »Pro Deutschland« oder »Die Freiheit« gewählt haben.

Wirklich offenbar wird das Ausmaß rechter Einstellungen jedoch erst, wenn man mit den ­Menschen an Ort und Stelle spricht. Die antirassistischen Aktivistinnen und Aktivisten von der dauerhaften Mahnwache unter dem Pavillonzelt an der Straßenecke versuchen immer wieder mit Anwohnern ins Gespräch zu kommen, und sie bemühen sich dabei auch, sachlich zu bleiben, was bei dem hanebüchenen Unsinn, den einige von sich geben, sicher nicht ganz einfach ist.
»Machen Sie mir nicht die Nazis schlecht«, sagt eine ältere Frau in einem der vielen Gespräche an diesem Tag, »der Hitler hat für die Frauen gut gesorgt damals.« Es ist nur ein Beispiel von vielen.
Nicht nur die Menschen von der Mahnwache suchen das Gespräch. Rund um die ehemalige Schule, die jetzt als Unterkunft dient, wimmelt es nur so von Kamerateams, Fotografen und Reportern. Ausnahmslos jeder, der sich traut, vorbeizugehen oder auch nur aus dem Fenster zu schauen, wird von ihnen angesprochen. »Wenn sie hundert Mal die gleiche Frage hören, wissen sie auch nicht mehr, was sie antworten sollen«, sagt ein Mann, der gegenüber der Unterkunft wohnt und keine Lust mehr auf Interviews hat. Manche der Journalisten erwecken mit ihrer suggestiven Art, Fragen zu stellen, den Eindruck, als hofften sie förmlich darauf, den nächsten Ronny S. zu finden. Als dann aber tatsächlich ein Jugendlicher auf dem Fahrrad vorbeifährt und den Hitlergruß zeigt, sind alle Kameras gerade irgendwo anders. Wieder eine Sensation verpasst.
Auf der Straße vor der Unterkunft herrscht derweil reger Betrieb. »So viel los war hier noch nie«, sagt eine ältere Frau und scheint das gar nicht unbedingt schlecht zu finden. Wer sich jedoch die Mühe macht und auch nur einen einzigen Block weitergeht, läuft durch menschenleere Straßen. Keine Reporter, keine Kameras, nicht einmal Anwohner sind hier zu sehen. Nur eine einzelne, ziemlich jung wirkende Mutter mit ihrem Kind auf einem erschreckend tristen Spielplatz und ein paar Bauarbeiter, die, wenn sie nicht gerade Mittagspause machen, in einem der vielen Plattenbauten die Bäder sanieren. An den Laternenpfählen hängen Wahlplakate. Fast alle sind sie von der »Linken« oder von der NPD. Was allerdings auffällt, ist die vollkommene Abwesenheit rechter Graffiti oder Aufkleber. Gefühlte tausendmal »Union Berlin«, aber kein einziges Hakenkreuz. So richtig passen zu dem Bild von Hellersdorf als Hort von Neonazis will das nicht.

Tatsächlich sind die Neonazis, die hier auftauchen – zum Beispiel die höchstens 30 von ihnen, die tags zuvor an einer Kundgebung der NPD teilnahmen – überwiegend aus anderen Stadtteilen. Für gefestigte Neonazistrukturen, wie es sie in den Stadtteilen Schöneweide oder Buch gibt, ist Hellersdorf jedenfalls nicht bekannt. Das Problem hier sind auch gar nicht unbedingt Neonazis, sondern der allgegenwärtige Alltagsrassismus. Selbst von denen, die nicht grundsätzlich gegen die Menschen in der Unterkunft sind, scheinen noch immer viele in rassistischen Stereotypen zu denken. »Die haben Angst vor Ausländern«, urteilt ein älterer Mann von einer Kirchengemeinde im nahen Stadtteil Mahlsdorf, der den Geflüchteten Kaffee und Schokolade gebracht hat. »Es kommt hier in der Gegend immer wieder zu Einbrüchen«, fügt er als Erklärung hinzu, als gäbe es zwischen Einbrüchen und Rassismus notwendigerweise einen Zusammenhang. Wenn es etwas gibt, was nahezu allen Aussagen der Anwohner gemeinsam ist, dann ist es der beharrliche Versuch, die Schuld an was auch immer stets bei den anderen zu suchen, nur nicht bei sich selbst.
»Wenn ihr da weggehen würdet, wäre hier Ruhe«, raunt eine Frau den Menschen bei der Mahnwache zu. »Die da oben sind schuld«, findet dagegen ein alter Mann mit Fahrrad, der nach eigener Aussage »bei Honni im Knast« gesessen hat. »Das hab ich auch überlebt«, sagt er. Die Asylsuchenden sollten sich also nicht so anstellen. Deren Probleme ließen sich ohnehin nicht hier, sondern nur an Ort und Stelle lösen. »Alles zubomben« solle man da, sagt er.

Immer wieder trifft die Wut der Menschen aber auch die Journalisten. »Lass die keen Foto machen, sonst biste gleich ein Nazi«, rät eine Frau einem jungen Mann, der gerade mit einer Repor­terin einer Berliner Tageszeitung gesprochen hat. Er selbst bezeichnet die Asylsuchenden zwar als »Pack«, das seinen Freunden die Arbeitsplätze wegnehme und schuld sei, dass er keine Wohnung habe, aber als »rechts« will er nicht bezeichnet werden. »Ich bin nicht links und nicht rechts. Ick bin einfach icke«, ist seine Meinung dazu. Er macht den Eindruck, als sei seine Einstellung gar nicht rechts oder überhaupt politisch, sondern »gesunder Menschenverstand« und daher schlicht wahr und richtig. In einem Punkt jedoch hat er wohl tatsächlich Recht: »In zwei Monaten ist hier ohnehin Ruhe, weil sich alle damit ab­gefunden haben, dass sie nichts daran ändern können.«
In zwei Monaten werden wahrscheinlich auch nicht mehr die Schwärme von Journalisten vor Ort sein, die jetzt die Straße vor der Unterkunft regelrecht belagern. Als plötzlich einer der Bewohner in der Tür der ehemaligen Schule erscheint, sind sofort fast ein Dutzend Kameras und Fotoapparate auf ihn gerichtet. RTL steht mit ­einem Ü-Wagen direkt an der Straßenecke. Der RBB bereitet für später am Abend eine Live-Schaltung vor. Auch das Schweizer Fernsehen SFR ist da. Langsam erlangt der Stadtteil Hellersdorf eine überregionale Berühmtheit, auf die viele hier wohl gerne verzichtet hätten. Diese Berühmtheit jedoch ist, auch wenn nicht alle hier Rassisten sind und sich einige – zumindest hinter ­vorgehaltener Hand – ausdrücklich für den Verbleib der Asylsuchenden aussprechen, durchaus verdient, denn der Rassismus ist ja nicht erst durch die Anwesenheit der Fernsehkameras, der Aktivistinnen und Aktivisten von der Mahnwache oder der Asylbewerberunterkunft entstanden. Er tritt nur sonst im ethnisch extrem homogenen Hellersdorf kaum in Erscheinung.Viele hier glauben ernsthaft, dass ihnen etwas weggenommen würde, weil anderen geholfen wird. Die Angst vor dem sozialen Abstieg ist groß, auch wenn es für viele von ihnen kaum noch viel weiter nach unten gehen kann. Kaum jemand hier versteht auch nur im Ansatz die politische Lage in Syrien, den Verteilungsschlüssel, nach dem Asylbewerber über das Bundesgebiet verteilt werden, oder die Ursachen der eigenen prekären sozialen Lage. Ein ausreichender Grund dafür, bei der Suche nach Antworten auf Rassismus zurückzugreifen, ist das freilich noch lange nicht.
Wenn die Situation auch etwas Gutes hat, dann ist es wohl die Tatsache, das die Menschen in Hellersdorf endlich dazu gezwungen werden, sich mit ihrem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen. Jedes Gespräch mit den Teilnehmenden der Mahnwache oder auch den Journalisten ­nötigt sie dazu, Position zu beziehen, und jedes Argument, das ihnen entgegengebracht wird, trägt zumindest theoretisch die Möglichkeit des Nach- und vielleicht Umdenkens in sich.
Den Menschen, die von irgendwoher geflüchtet sind und jetzt ausgerechnet in Hellersdorf gestrandet sind, wäre zu wünschen, dass dieser Prozess möglichst schnell und möglichst reibungslos vonstatten geht.

Fotos von Boris Niehaus finden sich auf www.1just.de