Das neue Abrechnungssystem in der Psychiatrie

Kommt eine Fallpauschale zum Arzt

Auch in psychiatrischen Kliniken soll die Abrechnung mit Fallpauschalen eingeführt werden. Das Bundesgesundheitsministerium hat ab Anfang des Jahres eine Testphase angeordnet. Alle relevanten Fachverbände lehnen das Vorhaben jedoch ab, der Widerstand wird lauter.

Das System »Fallpauschale« im Gesundheitswesen wirkt schön einfach und ökonomisch. Für jede Krankheit und die nötige Behandlung wird eine eigene Pauschale berechnet. Überall in Deutschland bringt der entzündete Blinddarm dieselbe Summe, ebenso das kaputte Kniegelenk und alle anderen erdenklichen Krankheiten und Beschwerden. Die Diagnosis Related Groups (DRG) wurden an deutschen Kliniken bereits 2004 eingeführt. Sie sollten der häufig beschworenen »Kostenexplosion« entgegenwirken und zum Abbau vermeintlicher Überkapazitäten beitragen.
Tatsächlich haben sie den Krankenhausbetrieb grundlegend verändert. Selbst die OECD kritisierte in einem Bericht im April, dass Deutschland mittlerweile die größte Zahl stationärer Behandlungsfälle vorzuweisen hat. Der Bereich der Knie- und Hüftgelenkoperationen zeigt exemplarisch, wie die DRG die medizinische Versorgung in Deutschland verändert haben. Die Zahl der Hüftoperationen ist seit 2003 um 18 Prozent gestiegen. Die Zahl der Knieoperationen hat um etwa 52 Prozent zugenommen. Seit 2003 wurden in der gesetzlichen Krankenversicherung jährlich 1,4 bis 1,6 Milliarden Euro für künstliche Hüftgelenke aufgewendet, für künstliche Kniegelenke weitere 1 bis 1,3 Milliarden Euro.

Gleichzeitig reduzierte sich die durchschnittliche Dauer der Krankenhausaufenthalte drastisch. Denn nicht die tatsächlich medizinisch notwendige Verweildauer wird bezahlt, sondern die Klinik erhält nur den pauschalierten Betrag. »Wir sprechen in diesem Zusammenhang sarkastisch von ›blutigen Entlassungen‹, die der Pauschalisierung geschuldet sind. Nicht eine ausgeheilte Blinddarm-OP führt zur Entlassung, sondern die Vorgabe der Pauschale. Alles andere wäre für die Kliniken defizitär«, sagt Margret Osterfeld vom erweiterten Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP). So sank die durchschnittliche Dauer des Aufenthalts bei Hüftimplantationen seit 2003 um 3,3 Tage auf 16,2 Tage, bei Knieimplantationen um vier auf 14,1 Tage.
»Krankenhäuser können heute nur überleben, wenn sie die Fallzahl, also die Zahl behandelter Patienten, steigern. Nur über steigende Patientenzahlen und Steigerung der Invasivität der Behandlung – zum Beispiel mehr Operationen oder andere Interventionen – können die Kostensteigerungen im stationären Bereich aufgefangen werden«, beschreibt Wulf Dietrich, Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ), die Lage in einer Presseerklärung. Ein weiterer Aspekt ist die mit dem Ökonomisierungsschub einhergehende Verringerung des Personalbestands. Im Zeitraum von 1995 bis 2007 verloren die deutschen Kliniken über 50 000 Pflegestellen. Der gewünschte Abbau von »Überkapazitäten« führte zu einer immer schlechteren Krankenhausversorgung.
Dennoch soll das System der Fallpauschalen nach dem Willen des Bundesgesundheitsministeriums nun auch im Bereich der Psychiatrie übernommen werden. Durch das Pauschalierende Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) soll »perspektivisch die Möglichkeit geschaffen werden, Versorgungsstrukturen zu analysieren und zu optimieren. Mit dem neuen Entgeltsystem wird der Weg hin zu mehr Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen eröffnet«, schreibt das Ministerium in einer knappen Presseerklärung.

»Mit der Einführung von Fallpauschalen wird das Gegenteil erreicht. Psychische Erkrankungen lassen sich nicht pauschalieren wie eine Blinddarmentzündung«, warnt Nadja Rakowitz vom VDÄÄ. Der VDÄÄ ist einer von vielen Ärzte- und Sozialverbänden, Selbsthilfegruppen und Gewerkschaften, die sich unter dem Motto »Weg mit PEPP!« zusammengeschlossen haben und Unterschriften gegen die Einführung des Entgeltsystems sammeln. Sie fordern die sofortige Beendigung des Experiments PEPP, das bislang in einer Testphase läuft. Das Bündnis ist der Ansicht, dass sich psychische Erkrankungen beim Menschen eben nicht mit Pauschalen für bestimmte Krankheitsbilder erfassen lassen. So verläuft beispielsweise jede Depression unterschiedlich. »Die Pauschalen werden ähnlich wie in somatischen Kliniken den Ökonomisierungsdruck erhöhen. In der Psychiatrie wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer erhöhten Gabe von Psychopharmaka führen«, sagt Osterfeld. Verbände für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Psychiatrieerfahrung sind aus ähnlichen Gründen besorgt. »Im PEPP werden Zwangsbehandlungen durch Sondervergütungen extra honoriert. Das schafft Anreize für eine Ausweitung derselbigen«, beschreibt Ruth Fricke, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Bundesverbands Psychiatrieerfahrener (BPE), die Gefahren. Sie verweist zudem darauf, dass Deutschland weltweit das einzige Land ist, das Fallpauschalen im Bereich der Psychiatrie einführen will.
Die im PEPP geplante Verringerung der Tagesentgelte bei zunehmender Behandlungsdauer – auch Degression genannt – werde die Situation für die Patienten noch weiter verschärfen, befürchten die Initiatoren des Bündnisses. Je länger der Patient bleibt, desto weniger Geld erhält die Psychiatrie – gleich für welche Krankheit und unabhängig vom Heilungsverlauf. »Die Degression wird, analog zu den somatischen Kliniken, auch in den Psychiatrien zu verkürzten Verweildauern führen«, kritisiert Osterfeld. So sei eine schnelle Wiedereinweisung geradezu vorprogrammiert. Zudem fehlt in Deutschland eine flächendeckende ambulante Betreuung. »Eine effektive Nachsorge ist in Deutschland deutlich unterentwickelt«, konstatiert Fricke.

Sollte das PEPP wirklich dauerhaft eingeführt werden, droht überdies auch noch ein Personalabbau in der Psychiatrie. Denn die in den neunziger Jahren erstrittene Personalverordnung Psychiatrie (Psych-PV) soll nach dem Willen der politisch Verantwortlichen bis 2016 abgeschafft werden. »Diese Verordnung legte den Betreuungsschlüssel fest. Wenn die Verordnung abgeschafft wird, wird sich der Betreuungsschlüssel mit Sicherheit verschlechtern«, meint Nadja Rakowitz.
Ab 2015 soll das PEPP verbindlich für alle Krankenhäuser gelten. In diesem Herbst wird nach Gesprächen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den Gesetzlichen Krankenversicherungen entschieden, ob das PEPP weiter getestet und allmählich flächendeckend eingeführt wird. Wenn ja, soll es bis 2016 eine »erlösneutrale Einführungsphase« geben, von 2017 bis 2021 dann die »Scharfstellung« des neuen Entgeltsystems.