Sieben Thesen über Aufstand und Gesellschaft

Geschichte und Revolte

Sieben Thesen über Aufstand und Gesellschaft.

Zu Beginn: Die Aufstände machen keinen Fehler im System sichtbar. Wer das sagt, argumentiert mit der scheinbar realistischen Hypothese, dass die Verhältnisse der kapitalistisch organisierten gesellschaftlichen Reproduktion fehlerfrei gestaltet werden könnten, und zwar im Interesse der Aufständischen. Die Idee eines widerspruchsfreien Kapitalismus, der sich zudem noch um die Befriedigung der Massenbedürfnisse bemüht, ist reinste Ideologie. Sie suggeriert, dass das Wohl der Menschen eine Sache der richtigen Systemtechnik sei. Die Idee der Gesellschaft als technische Veranstaltung artikuliert einen Bewusstseinsstand, den es zu überwinden gilt.

II. Der Begriff einer »ökonomischen Krise« ist verrückt. Ökonomie ist nichts eigenständiges, und selbst die besten Ökonomen vermögen nicht zu erklären, was die Ökonomie im Unterschied zur Gesellschaft sein soll. Proudhons Einsicht, dass sich zwei Ökonomen nicht in die Augen sehen können, ohne zu lachen, hat nichts von ihrer Wahrheit verloren. Marx schrieb daher eine Kritik der politischen Ökonomie. Kapitalistische Ökonomie ist der Inbegriff der falsch organisierten gesellschaftlichen Reproduktion – wir arbeiten zum Zweck unserer Ernährung, Bekleidung, Häuslichkeit, Behaglichkeit und Wärme, und diese Arbeit manifestiert sich als Bewegung ganz und gar verrückter ökonomischer Kategorien – Preis, Zins, Profit, ökonomisches Wachstum zum Zwecke des Wachstums. Die ökonomische Krise stellt sich nicht als Krise der unbefriedigten menschlichen Bedürfnisse dar. Sie stellt sich als Profitkrise dar, und zum Zweck der Krisenbewältigung verlangt sie die Rückkehr des Profits. Was keinen Profit erzielt, wird verbrannt, und blitzartig erscheint eine Masse von Menschen als überflüssig. Sie werden auf die Straße geworfen und ihrer Subsistenz beraubt. In dem waltenden System der gesellschaftlichen Reproduktion ist die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse nichts anderes als eine Nebensache. Darin manifestiert sich die Freiheit der bürgerlichen Bedürfnisse als eine Freiheit zu hungern.

III. Die Zeit der Empörung ist die Zeit der Revolte. Sie besagt, dass sich die Versammelten nicht mit der verrückten Notwendigkeit dieser zum ökonomischen System verselbständigten Gesellschaft identifizieren. Sie identifizieren sich nicht als menschliches Material für die Profitabilität und hungern nicht freiwillig zum Zwecke der ökonomischen Gesundheit. Sie verlangen die Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse. Ob sich dieser Kampf für die Modernisierung der kapitalistischen Verhältnisse in Dienst nehmen lässt oder ob er sich gegen den weiteren Fortschritt kapitalistisch verfasster Gesellschaftlichkeit wendet, ist nicht vorab zu entscheiden. Der Kampf gegen den kapitalistischen Fortschritt kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Seine Erfolglosigkeit ist der Erfolg des Fortschritts, der sich als Triumph der Zivilisation darstellt. Die Sieger der Geschichte beklatschen den Börsenerfolg und bekunden mit grenzenlosem Eifer, dass, wer essen will, auch arbeiten soll, in selbstverantwortlicher Freiheit.

IV. Die Verrücktheit der kapitalistisch verfassten sozialen Reproduktion kann nicht in einer direkten und unmittelbaren Weise bekämpft werden – was sollte es bedeuten, gegen den ökonomischen Wert zu kämpfen, Zinssätzen zu widerstehen, den Profit anzugreifen, sich gegen die Kurs­bewegungen der Aktien zu stellen? Zugleich hängt das Leben der abhängigen Massen von diesen verrückten, ganz und gar unantastbaren und unkontrollierbaren Faktoren ab. Die Rede vom ökonomischen Schicksal ist daher nicht falsch. Unsere Subsistenz, unser Leben, hängt davon ab, ­einen Arbeitsplatz zu ergattern, und da muss man sich eben an die Marktbewegung anpassen. Reinste Verrückheit. Anstatt seine menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, ist man gezwungen, den scheinbar naturhaften ökonomischen Sachzwängen zu dienen, damit die Freiheit zu hungern nicht zum eigenen Schicksal wird. Es ist daher keine Überraschung, dass ein wichtiger Gegenstand der Proteste Fragen der Beschäftigung, des Lohneinkommens und des Zugangs zu Lebensmitteln sind. Die breite Masse der Bevölkerung hat keinen direkten Zugang zu den Lebensmitteln, und um an sie heranzukommen, muss man sich verdingen. Die gegenwärtigen Proteste stellen in diesem Sinne überhaupt nichts Neues dar. Die Rede von der Neuheit der heutigen Zeit entschuldigt das Vergessen, und damit rechtfertigt sie auch, dass vergessen wurde.
Die gegenwärtigen Proteste unterscheiden sich in ihrem Inhalt nicht von der kapitalistischen Geschichte der Klassenkämpfe – es geht um den über den Arbeitsmarkt vermittelten Zugang zu den Lebensmitteln, und sollte man das Glück haben, den Warenhandel auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich abgeschlossen zu haben, geht es auch darum, sich selbst als Individuum zu erhalten. Nach dem Arbeitsmarkt geht es auf den Arbeitsplatz – und hier wird das, was verkauft wurde, als menschliches Material konsumiert. Beim Arbeitskampf geht es tatsächlich um materielle Dinge: Zugang zu Essen und Trinken, Wohnen, Heizung, Strom, Wärme und Lebensfreude gegen ein Dasein als bloßes menschliches Material. Um diesen Kampf zu verstehen, muss man sich an ihm beteiligen. Er hat keine historischen Zwecke zu erfüllen. Sein Zweck ist ihm inhärent, das heißt, es geht um die Lebensmittel.

V. Die Zeit der Revolte ist die Zeit der Unsicherheit. Statt den täglichen Lebensvollzug zu wiederholen  – Kneipe, Küche, Arbeitsamt/Arbeitsplatz –, versammelt sich der Protest, die Demokratie tagt auf den Straßen und Plätzen der Welt, diesen Orten der gesellschaftlichen Unruhe und erfahrenen Unbotmäßigkeit. Statt der Zeit der Arbeit manifestiert sich die Zeit der direkten Demokratie. Diese Zeitnahme ist eine Kampfansage an die existierende Ordnung, die weiß, dass die Demokratisierung der Gesellschaft die größte Gefahr für die verfasste Gesellschaftsordnung darstellt. Ob die Revolte es weiß oder nicht – die Demokratisierung der Gesellschaft bedeutet, die Trennung der Gesellschaft von sich selbst in der Form des politischen Staats aufzukündigen; anstatt entpolitisiert zu bleiben, politisiert sich die Gesellschaft und konstituiert sich damit als ihre eigene politische Kraft. Die Zeit der Revolte ist eine Zeit der gesellschaftlichen Erfahrung. Doch die Sieger der Geschichte wissen, dass das laissez- faire keine Antwort auf die politisierte und damit selbsttätige Gesellschaft ist. Der Zweck des Kapitals ist die profitable Akkumulation des gesellschaftlichen Reichtums zum Zweck der weiteren Akkumulation. Der Staat ist die politische Form dieses Zwecks. Er ist mit der Entpolitisierung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse beauftragt; es geht also um die Wiederherstellung des staatlichen Monopols der politischen Gewalt als Grundlage für den freien Warentausch auf dem Arbeitsmarkt – für diesen Zweck sind alle Mitteln billig, vom herkömmlichen Verfahren des Wahlaufrufs, der den Protest in den Wahlkampf transformiert, bis zum Militärputsch.

VI. Ernst Lohoff fragt: Empörung – und dann? Dann ist entweder die Zeit der zurückkehrenden Routine und der hungrigen Parteien, die sich mit steriler Aufregung um die Wählerstimmen bemühen, oder der Polizei. Adam Smith dachte über dieses »Dann« wie folgt: Die abhängigen Massen haben keine Subsistenzreserven und können daher gar nicht lange ihre Arbeit verweigern. Im Gegensatz dazu, sagt er, können die Besitzer der Subsistenzmittel es viel länger aushalten. Diejenigen, die vermittels des Verkaufs ihrer Arbeitskraft leben, können daher durch den Hunger diszipliniert werden. Lohoffs Frage nach dem, was nach der Empörung kommt, fragt nach der gesellschaftlichen Alternative zum existierenden Zustand der erfahrenen Freiheit als Freiheit zu hungern – für die Heinrich Brüning den Spitznamen »Hungerkanzler« erhielt.

VII. Der Protest gegen die Sparmaßnahmen, die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und die Freiheit zu hungern ist nicht notwendigerweise eine Sache der Multituden, denen nachgesagt wird, sie seien das neue revolutionäre Subjekt. Denn die paradigmatisch faschistische Bewegung eines antikapitalistischen Kapitalismus ist ebenfalls eine Bewegung gegen die Sparmaßnahmen, wie beispielsweise Chrysi Avgi in Griechenland. Die Linke, was immer dies nun auch sein mag, hat kein Monopol auf den Protest. Die Mittel und Ziele der Protestbewegung ergeben sich aus dem Protest selbst, und was sich ergeben wird, fällt nicht vom Himmel. Es hat mit der erfahrenen Geschichte zu tun, und damit auch mit der Kampf­erfahrung als der ungeschriebenen Geschichte von Fabrikbesetzungen, Häuserbesetzungen, Platzbesetzungen, Straßenkämpfen und der Stadtbesetzung der Pariser Kommuarden.
Die Erfahrung dieser Kämpfe steckt gleichsam in der Gesellschaft, die durch Terror und Gewalt zu fürchten gelernt hat, sich selbstbewusst gegen den Fortschritt der schlechten Welt zu stellen. Es ist einfacher, mit den Schlägern zu schlagen, als sich gegen sie zu stellen. Die Alternative zur Gesellschaft des menschlichen Materials ist nur in dieser Gesellschaft selbst zu finden. Sklaven können sich nur dann von der Sklaverei befreien, wenn sie keine Sklaven mehr sind – nicht morgen, sondern heute. Ob sich diese Möglichkeit der Gesellschaft der Freien und Gleichen zu verwirklichen vermag, ist ganz und gar unsicher. Sicher ist, dass wir keinen guten Zeiten entgegengehen. Lohoffs Frage nach dem »Dann« ist demnach falsch gestellt. Sie sucht nach einer leitenden Idee, um den Übergang vom schlechten Heute zum schönen Morgen denkend vorwegzunehmen. Diesen Übergang gibt es nur in schlechten Geschichtsbüchern. Dem Kampf gegen die existierende Schlechtigkeit geht es ja gerade darum, der sicheren Zukunft zu entgehen.