Alltagsrassimus und die »Go home«-Kampagne in Ostlondon

»Geh’ heim oder ins Gefängnis«

Mit einer Kampagne wollte das britische Innenministerium in einigen Londoner Stadtvierteln gegen »illegale« Einwanderer mobil machen. Doch die Plakate an Bussen, auf denen papierlosen Menschen offen mit der Verhaftung gedroht wurde, sorgten für Empörung. Sogar den britischen Rechtspopulisten ging das zu weit. In Barking-Dagen­ham waren viele dieser Busse unterwegs.

Der Mann antwortet, ohne zu zögern. Ob es in London zu viele illegale Immigranten gebe? »Ja, klar. Ich weiß gar nicht, wie die alle hierherkommen. Viele von ihnen haben ein Visum, und dann bleiben sie einfach länger hier. Sie tauchen ab und arbeiten schwarz.« In Barking and Dagenham erstaunen solche Äußerungen nicht. Ausländerfeindlichkeit gilt im Ostlondoner Bezirk als verbreitet, Vorurteile gegen Einwanderer – unabhängig von ihrem Rechtsstatus – werden hier von rechten Politikern geschürt. Berüchtigt wurde der Stadtteil vor sieben Jahren, als die faschistische British National Party (BNP) fast einen Viertel der Sitze im Gemeindeparlament erhielt.
Mohammed ist kein BNP-Wähler. Der etwa 60jährige Somalier kam vor 28 Jahren nach London und lebt seither in einer Gemeindewohnung in Barking. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner eigenen Migrationserfahrung nimmt er gegenüber Einwanderern, die ohne gültige Papiere hier leben, eine harte Haltung ein. Gegen die »Go home«-Busse, die vor einem Monat für Aufregung sorgten, hat er nichts einzuwenden.
Das Innenministerium ließ in einem Pilotversuch Busse durch sechs Londoner Stadtviertel kurven, darunter Barking, auf denen große Plakate »illegale« Einwanderer zur Rückkehr in ihre Heimat aufforderten: »In the UK illegally? Go home or face arrest«, stand darauf geschrieben. Darunter eine Telefonnummer. Wer sich angesprochen fühlte, sollte einfach das Wort »home« per SMS schicken, »for free advice and help with travel documents«. »106 arrests last week in your area«, lautete die nicht gerade subtile Drohung auf den Plakaten. Mohammed findet es richtig, dass die Regierung solche Zeichen gegen illegale Migration setzt. Dass in Barking viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen zusammenleben, findet er aber nicht schlimm. »Solange die Leute nicht kriminell werden, Drogen verkaufen und so weiter, leben wir hier alle in Harmonie. Wir respektieren einander.«
Selbstverständlich trifft man auf den Straßen von Barking auch auf Leute, die nichts von Respekt wissen wollen und die multikulturelle Gesellschaft zutiefst verachten. »Ich bin ziemlich rassistisch«, sagt ein etwa 50jähriger weißer Anwohner geradeheraus. »Ich mag all diese schwarzen und braunen Leute nicht. Ich finde, wir sollten lieber unter uns bleiben. So, und jetzt geh ich in den Pub.« Ähnlich spricht ein alter Mann mit weißem Haar und leichtem Buckel, der gerade vom Einkauf zurückkommt. In seiner Jugend hätten hier alle Englisch gesprochen, »nicht Bulgarisch oder verdammtes Russisch« wie heute. Sie seien überall, die Ausländer.
Und dann leben hier auch Menschen, denen Ausländerfeindlichkeit auf die Nerven geht. So sagt ein Mann mittleren Alters, der im Gesundheitssektor arbeitet: »Wir brauchen Einwanderer. Ich mag mit dieser Haltung hier in der Minderheit sein, aber ich bin für Immigration. Menschen aus anderen Ländern kommen hierher, und nach einer gewissen Zeit werden sie Teil der Gesellschaft. So läuft das. Dieses Land gründet auf Einwanderung.«

In einem multiethnischen Viertel wie Barking haben alle etwas zur Einwanderung zu sagen. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Yougov ist Immigration das Problem, das die britischen Bürgerinnen und Bürger nach der Wirtschaftslage am meisten beschäftigt. Allerdings beruhen die Bedenken auf einer groben Fehleinschätzung: Meinungsumfragen zufolge überschätzen die Briten den Anteil der im Ausland geborenen Einwohner stark – sie vermuten ihn bei 30 Prozent, während es in Wirklichkeit rund elf Prozent sind, also weniger als in Deutschland oder Spanien. Wenn Wähler gefragt werden, ob Immigranten einen negativen Einfluss auf das Land hätten hinsichtlich Arbeitsmarkt, Kriminalität und Sozialleistungen, sagen bis zu 70 Prozent Ja. Wenn sie aber gefragt werden, ob dieser negative Einfluss dort zu spüren sei, wo sie wohnen, bejahen nur noch zehn bis 20 Prozent.
Mehdi Hasan von der Huffington Post folgert, die Meinung der Wählerinnen und Wähler über Immigration solle ignoriert werden: »Tatsache ist, dass die britische Öffentlichkeit in Bezug auf die Immigration keinen Schimmer hat«, schreibt er.
Der Erfolg von rechten Parteien wie der United Kingdom Independent Party (UKIP), deren wichtigste Ziele der Austritt Großbritanniens aus der EU und die Beschränkung der Einwanderung sind, scheint den etablierten Parteien Angst einzujagen. Labour wie Konservative versuchen, sich bei ihren Wählern zumindest symbolisch und rhetorisch gegen Immigration zu profilieren. Aber die Bus-Kampagne schoss über das Ziel hinaus. Sogar der Parteivorsitzende der UKIP, Nigel Farage, bezeichnete sie als »böse« und »unangenehm«, und nachdem die Werbeaufsichtsbehörde mit Beschwerden überschwemmt worden war, kündigte sie an, zu prüfen, ob die Kampagne beleidigend und unverantwortlich sei.
Zudem hätten die Busse überhaupt nicht den Zweck, illegale Migration zu reduzieren, sagt Rita Chadha vom Refugee and Migrant Forum of East London, einem Beratungsservice für Flüchtlinge und Migranten. »Die Regierung will den Anschein erwecken, sie unternehme etwas gegen die Einwanderung«, sagt sie, »weil das Immigrationssystem aber überhaupt nicht funktioniert, stürzte sie sich auf ein leichtes Ziel: illegale Migration.« Denn hier könne niemand überprüfen, ob die Regierung erfolgreich ist – genaue Zahlen gebe es nicht. »Wieso beginnt sie eine solche Kampagne und unternimmt nichts für die Flüchtlinge, die tatsächlich hier leben?«

Eine halbe Million Menschen warten derzeit darauf, dass ihr Aufenthaltsstatus geklärt wird. Beim heutigen Tempo würde es 37 Jahre dauern, bis alle Fälle abgearbeitet sind. »Stattdessen erreicht die Bus-Kampagne lediglich, dass Spannungen innerhalb der Bevölkerung verstärkt werden«, sagt Chadha. »Sie führt zur Annahme, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe ein Problem mit ihrem Immigrationsstatus haben.«
Dass nicht weiße Bürger von den Behörden häufiger belästigt werden, bestätigen auch zwei Studenten aus Pakistan. Sie haben am eigenen Leib erfahren, dass Polizei und Immigrationsbehörde ethnischen Minderheiten als Ganzes ins Visier nehmen: »Ich bin schon mal eine Stunde lang festgehalten worden, weil die Polizei meinen aufenthaltsstatus prüfen wollte. Ich habe ein Studentenvisum, aber wer ausländisch aussieht, wird viel öfter nach seiner ID gefragt.«
Viele Leute, die im Migrant Forum Rat suchen, seien bestürzt gewesen ob der Bus-Kampagne, erzählt Chadha: »Sie konnten nicht verstehen, wie das Innenministerium so etwas überhaupt machen kann. Die meisten Leute mit Migrationshintergrund, die nach Barking ziehen, haben ein Recht, hier zu leben und die staatlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen.« Viele von ihnen wandern gar nicht direkt aus dem Ausland ein, sondern ziehen aus innerstädtischen Gebieten hierher, weil sie sich das Leben dort wegen der exorbitanten Häuserpreise und Mieten nicht mehr leisten können.
Für Ablehnung gegenüber Immigranten sorgt auch der unter weißen Briten verbreitete Eindruck, zu kurz zu kommen. Das hat viel mit der Wohnungspolitik und dem langen Prozess der Deindustrialisierung zu tun, den der Bezirk in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Barking ein prosperierendes Industriezentrum. Die Gaswerke in Beckton beschäftigten einen großen Teil der Männer, andere arbeiteten an den Docks an der Themse oder in der Ford-Motorenfabrik in Dagenham, der größten Fertigungsanlage im südlichen England. Die meisten hatten eine feste Anstellung, Wohnraum wurde vom Staat im großen Stil zur Verfügung gestellt. Der in den frühen dreißiger Jahren fertiggestellte Becontree Estate beherbergte 100 000 Menschen – es war damals das größte öffentliche Wohnbauprojekt der Welt.
Der Songwriter Billy Bragg, der aus diesem Stadtteil kommt, schreibt: »Als ich in den sechziger Jahren in Barking aufwuchs, arbeitete jeder Familienvater entweder in der Autofabrik oder an den Docks. (…) Dann schlossen die Docks eines nach dem anderen, als die Jobs durch die Containerisierung nach Tilbury und Rotterdam verlegt wurden.« Als das Nordseeöl in den siebziger Jahren gefördert wurde, schlossen auch die Gaswerke in Beckton.
Tausende Familien aus der Arbeiterklasse verloren ihr Einkommen, viele zogen aus dem Bezirk weg. In den neunziger Jahren waren die Immobilienpreise hier so niedrig wie nirgendwo sonst in London. Das hatte einen Zuzug von Leuten zur Folge, die im Niedriglohnsektor arbeiteten und eine billige Unterkunft suchten – vor allem Einwanderer. In den zehn Jahren von 1991 bis 2001 stieg der Anteil der Einwohner, die außerhalb der Britischen Inseln geboren wurden, von 3,5 auf über 13 Prozent – der Anstieg war größer als in jedem anderen britischen Bezirk. Dieser Trend ging im neuen Jahrtausend weiter: Bezeichneten sich bei der Volkszählung von 2001 noch 80 Prozent als »weiße Briten«, waren es zehn Jahre später noch knapp die Hälfte (der Durchschnitt für London liegt bei 45 Prozent). Viele der Zugezogenen sind afrokaribischer oder asiatischer Herkunft.
Während jedoch die Bevölkerungszahl wieder anstieg, wurden immer weniger öffentliche Wohnungen gebaut, was am Anfang des neuen Jahrtausends zu einem akuten Mangel an bezahlbaren Unterkünften führte. Dass viele lokale Anwohner aus dem Häusermarkt gedrängt werden und keine Sozialwohnung erhalten, hat also nichts mit Immigration zu tun – wie überall in der britischen Hauptstadt wird hier schlicht zu wenig bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Pro Jahr müssten in der gesamten Stadt 16 000 Wohnungen mehr gebaut werden, um mit der Nachfrage Schritt zu halten.
Doch die British National Party nutzte die Situation schamlos aus. Der Labour-Partei, die den Bezirk jahrzehntelang klar dominierte, warf sie vor, die Schleusen für Immigranten geöffnet zu haben. Parteichef Nick Griffin versprach, Briten den Vorzug zu geben. Die BNP begann eine aggressive Kampagne gegen Immigration und Labour und konnte sich in den Lokalwahlen von 2006 zwölf der 51 Sitze im Bezirksrat sichern. Vier Jahre später nahm sie sich zum Ziel, den gesamten Rat zu kontrollieren und zudem Labour den Parlamentssitz wegzuschnappen.
Doch dank einer großangelegten antifaschistischen Kampagne von Organisationen wie »Unite Against Fascism« und »Hope Not Hate« wurden die Wahlen von 2010 zu einem Debakel für die BNP: Sie verlor alle Sitze im Bezirksrat, und Labour konnte den Parlamentssitz mit einer Mehrheit von über 50 Prozent halten. Bei einer Nachwahl im Frühling dieses Jahres landete die BNP auf dem letzten Platz.
Aber Spannungen zwischen Einwanderern, Einheimischen und Behörden bestehen auch nach der Niederlage der Rechtsextremen fort. Die zwei Studenten aus Pakistan wollen nach Abschluss ihres Studiums in ihr Herkunftsland zurück, nicht nur wegen der Situation auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch wegen der Benachteiligung von Ausländern: »Als Asiate kann ich hier vielleicht in einem Chicken-Shop arbeiten oder in irgendeinem Strassenladen. Für die guten Jobs will man keine Pakistaner einstellen.«