Hat sich mit Boris Mayer in den gefährlichen Görlitzer Park in Berlin getraut und Erstaunliches erlebt

14 Hektar idyllische Vorhölle

Der Görlitzer Park um den ehemaligen Görlitzer Bahnhof im Berliner Bezirk Kreuzberg gilt einigen Boulevardmedien und Politikerinnen und Politikern als Kriminalitätsbrennpunkt. Die ganze Wahrheit über den kleinen Grünstreifen »Görli«, wie er in Berlin verharmlosend genannt wird.

Eine Art Vorhölle mit Bäumen drumherum – so ungefähr wird der mitten in Kreuzberg gelegene Görlitzer Park derzeit von diversen Zeitungen des Springer-Konzerns in immer neuen Artikeln und Kommentaren beschrieben. »Überall im Gebüsch liegen ja die Päckchen mit Rauschgift«, weiß die Boulevardzeitung B.Z., »verwahrlost« sei das Gelände, »grüne Verlogenheit hat die ganze Gegend vergiftet«, und überhaupt: »Niemand geht heute gerne mehr durch den einst beliebten Görli.« Bis auf Drogendealer, die diejenigen Menschen, die sich trotz des dort tobenden »Irrsinns« in den Park verirren, auf Schritt und Tritt belästigen würden.
»In Kreuzberg vergeht kaum noch ein Tag ohne Meldungen der Polizei zu weiteren Gewalttaten im Bereich des Görlitzer Parks«, klagte im Juli die Berliner Morgenpost und schilderte den Fall eines psychisch kranken Mannes, der ebenso regelmäßig wie wahllos Passanten angriff – allerdings nicht im Park, sondern auf den Straßen der Umgebung. Anhand einiger anonymer Aussagen konstatierte die Zeitung, dass unter Anwohnern, Touristen und Gewerbetreibenden »Angst und Unruhe« herrschen würden. Denn der Park ist der Welt zufolge kein Park, vielmehr sei er heute »eine verkommene Wiese, von afrikanischen Drogenhändlern dauerhaft besetzt«. Entsprechend, so die B.Z., sei der »Görli« eine No-Go-Area, denn: »Für die Anwohner sind es 14 Hektar Angst, eine Tabu-Zone mitten in ihrem Kiez.« Und: »Anwohner meiden den Erholungsort zwischen Görlitzer und Wiener Straße schon längst.« Dazu passend zitierte das Blatt die neue grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann, die ebenfalls »dort Angst« habe, mit den Worten: »Ich gehe seit den achtziger Jahren da nachts nicht mehr durch. Viel zu dunkel, auch andere fühlen sich hier nachts nicht wohl.« Dass Herrmann kurz darauf auf Twitter erklärte, nach Anbruch der Dunkelheit prinzipiell durch keinen Park der Stadt allein zu laufen, tat der Begeisterung bei Springer über das Zitat keinen Abbruch: In keinem Bericht fehlt seither der Hinweis darauf, dass sich selbst die Politikerin dort fürchte. Wenig überraschend, wurde die dauernde Kritik an der zentralen Grünanlage schließlich von der NPD übernommen. Ende August verfasste Udo Voigt einen offenen Brief an Herrmann, in dem alle Klischees über den »Görli« noch einmal aufgegriffen wurden.

Dabei kann man selbst an unterdurchschnittlich warmen Tagen kein Indiz dafür finden, dass Anwohner und Touristen den Park meiden würden. Selbst die etwas abgelegeneren Stellen sind notorisch von Leuten besetzt, die in Ruhe lesen, am Notebook arbeiten oder auch nur Enten füttern wollen. »Ich mag es, dass man alles auf einmal hat: Menschengewimmel und Abgeschiedenheit. Angst habe ich hier noch nie gehabt«, sagt eine Anwohnerin namens Gitta, die mit Kinderwagen und Picknickkorb unterwegs ist. »Es gibt immer was zu Gucken«, meint ein alter Mann, der seinen ebenfalls schon erkennbar betagten Hund ausführt. Wenn es nicht gerade heftig regnet, steht in den wärmeren Monaten bereits ab Mittag eine dicke Rauchsäule über diesem auf dem ehemaligen Gelände des 1866 eingeweihten Görlitzer Bahnhofs geschaffenen Naherholungsgebiet. Denn dann wird gegrillt: Familien, Freundeskreise und Pärchen sitzen auf mitgebrachten Stühlen oder Decken und bereiten Essen zu.
Damit sind wir auch schon beim eigentlichen Skandal des Görlitzer Parks – dem nicht immer erfreulichen Musikmachen. Menschen trommeln beharrlich neben dem Takt auf Bongos herum, Gitarristen treffen in Pidgin-Englisch nicht immer den richtigen Ton, singen dafür aber lauter als erforderlich. »A Whiter Shade of Pale« und andere Klassiker werden da zum Besten geben. Die nicht gerade erfolgreichsten Teilnehmer vom VHS-Kurs »Trompetespielen für Anfänger ohne jegliche Vorkenntnisse« zeigen ihr Können – und das alles auf grob 20 Quadratmetern. Das macht es im Görlitzer Park mitunter sehr schwierig, Erholung zu finden.

Ja, es gibt dort Dealer, die aber immerhin weder Grillrauch noch musikalisch untermaltes, scheußliches Selbstgedichtetes produzieren, was die kurzen aufgedrängten Verkaufsversuchsgespräche, die meist nur aus einem »Hello, how are you?« bestehen, sehr gut erträglich macht. Und überhaupt, was sind das eigentlich für Leute, die extra in einen Park gehen müssen, um Marihuana zu kaufen, statt kurz bei ihrem Stammdealer vorbeigehen? Genau: Touristinnen und Touristen, also genau die Menschen, die von der Hauptstadtpresse notorisch bejubelt werden, weil sie Geld in die Stadt bringen. Und deswegen irgendwie alles dürfen, inklusive rotzbesoffen auf sogenannten Bierbikes durch Kreuzberg fahren und dabei einschlägiges Naziliedgut grölen, wie bereits öfter an Gruppen von ostzonalen Jungmännern beobachtet. Was der geheiligte Berlin-Tourist braucht, gehört umgehend bereitgestellt, von in Ferienappartments umgewandelten Mietwohnungen bis hin zu Schnellfraß-Restaurants. Dass die Gras-Dealer vom Görlitzer Park diesen ehernen Grundsatz des Hauptstadttourismus schon sehr früh begriffen haben, ist eigentlich nichts, woraus man ihnen einen Vorwurf machen kann.
Was wäre überhaupt die Alternative zu Lärm und Geruch, also zu dem, was Menschen eben so machen? Die B.Z. hat da so ihre Vorstellungen: »Dabei ist nichts einfacher, als einen Park zu sichern. Da zieht man einen schönen Zaun drumherum, mit Toren, die bei Nacht geschlossen werden. An den Eingängen steht der Wachschutz, drinnen patrouilliert die Polizei mit Spürhunden.« Wie eine ordentliche Spießeridylle aussieht, kann man übrigens in sogenannten Kurparks bestaunen. Diese sind mit allem ausgestattet, was Ordnungsfanatikern Spaß macht: mit von weiß gestrichenen Metallketten umrandeten, weitläufigen Rasenflächen, mit farblich dazu passend angeordneten Blumenbeeten und mit Sitzbänken, neben denen stündlich geleerte Mülleimer stehen. Die Wege werden außerdem von morgens bis abends von Personal in naturfarbenen Over­alls geharkt. Am Ende einer solchen Anlage steht überdurchschnittlich oft ein muschelförmiger Bau, in dem eine Kurkapelle jeden Nachmittag zum Tanztee aufspielt, wobei die dahinplätschernden Walzermelodien sehr schön zu den Geräuschen der Springbrunnen passen (»Becken betreten verboten«), die abends in sechs verschiedenen Farben angestrahlt werden. Vielleicht strahlt ja jemand einmal die Springbrunnen im Görlitzer Park abends in rot, blau und gelb an, damit sich B.Z. & Co. nicht mehr dauernd so aufregen müssen.