Einige Stimmen aus der Erzählung »Mary«

Unter Freunden

Eva Strasser erzählt von einer stillen Frau, die es unter lauter lockere Leute verschlägt.

Isa

Das mit David ist wirklich gut. Alles dabei, Sex, Vertrauen, Zusammenhalt, der erste Mann, mit dem ich zusammenwohne und der mich nicht nervt. Der erste, mit dem ich überhaupt zusammenwohne, seit ich von zu Hause ausgezogen bin. Er kocht, macht morgens Klimmzüge und sieht mich manchmal so an, und dann lächelt er. Und ich dann eben auch. Wenn er lächelt, ziehen sich seine Ohren nach hinten, das fällt kaum auf, aber ich sehe es immer. Und wie sich die Haare um seine Ohren herum kringeln, wie die Dornenhecke bei Dornröschen, nur in weich und dunkelbraun.
Und er findet gut, was ich mache. Wegen mir, nicht wegen meiner Mutter oder dem Drumrum. Er kannte meine Mutter auch gar nicht, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Da war er sicher der Einzige, und das habe ich mir auch sofort gemerkt. Ich erzähle ihm auch fast alles, jetzt nicht die düstersten Momente, da ist er nicht der Typ für, aber den ganzen Rest. Und er versteht es und interessiert sich dafür und unterstützt mich. Jetzt auch nicht auf so ne nervige Art, dass er mit flackernden Pupillen vor mir sitzt und versucht, mich glücklich zu machen oder Rosenblätter oder sowas, wie man das aus Frauenzeitschriften kennt.
Er ist einfach auf seine Art da und strahlt Ruhe aus, obwohl ich genau weiß, dass er innerlich auch getrieben ist, von seinem Leben und dem, was er noch so erreichen will. Er macht fast alles richtig und wahrscheinlich ist er auch der Richtige, und deshalb verstehe ich nicht, wie das alles passieren konnte, dass ich ihn nicht mehr liebe. Und dass es so schnell ging.
David

Ich komme ja vom Dorf. Kein Minidorf jetzt, aber schon eher klein, 900 Einwohner, keine Post, wobei das heutzutage ja nichts mehr heißt. Und alle kennen sich, wenn da einer seit 20 Jahren wohnt, dann ist er immer noch ­der Neue. Alle wissen auch immer alles, da geht man nicht einfach nur einkaufen, da bleibt man an der Käsetheke stehen und dann wird getauscht: Schmutzige News über neue Nachbarn, alte Gerüchte, wer heiratet, wer hat was mit wem, natürlich gibt es so Highlights nicht jeden Tag, das meiste ist dann doch eher belanglos oder normal, schlechtes Wetter, neuer Zebrastreifen, Postbrunnenfest. Aber wenn mal was passiert, dann drehen alle durch.
So wie meine Mutter. Immer dienstags ist Kirchenchor, mittwochs ruft sie mich an, aber nur, wenn es spannend ist. Weil sie denkt, dass es mich noch interessiert, was die Leute von früher machen. Weil für mich sind das eben die Leute von früher, auch wenn die da im Heute leben. Die sind alle da geblieben, haben Häuser gebaut im Vorgarten ihrer Eltern und basteln mit ihren Kindern Laternen und haben samstags Sex.
Isa und ich haben oft Sex. Draußen, drin, zwischendurch, im Auto, im Wald. Wenn ich mir dann die Hose wieder hochziehe, denke ich an die anderen, mit ihren Einbauküchen, ihren dick gewordenen Frauen, dem Reihenhaus mit 3,75 Prozent Kredittilgung, und dann denke ich an mich. Riesenwohnung, Fernreisen, mein Supermarkt heißt La Fayette. Alles Isas Geld, noch. Meine Karriere geht gerade erst los.
Und wenn sie dann losgegangen ist, dann komme ich vielleicht mal wieder zurück, parke den Porsche unauffällig hinter dem Haus, weil ich will ja nicht angeben, gehe durch die Garage rein, rufe so hallo, melde mich vorher nicht an, das soll ne Überraschung sein, und wenn meine Eltern dann aufspringen, vom Abendbrottisch, dann sage ich so, bitte, bitte, bleibt doch sitzen, und was mitgebracht habe ich ihnen auch: einen Gartenzwerg in grün, tarnfarben.
Den kann man sich in den Vorgarten stellen, ohne dass er von den Nachbarn oder sonst wem gesehen wird. Für diejenigen, die immer schon mal einen Gartenzwerg haben wollten, es aber nicht mit sich vereinbaren konnten, bisher, auch wirklich einen aufzustellen.
Käthe

Konfektionsgröße 38. Ich könnte heulen. Ich verstehe überhaupt nicht, überhaupt nicht, woher das jetzt plötzlich kommt. Aus dem Nichts. Wassereinlagerungen? Weil Sommer ist? Zuviel Seitan? Es stimmt wohl, ich bin kohlehydrateabhängig. Ich habe erst kürzlich wieder so einen Test gemacht, in einer Zeitschrift, da schrieb eine über ihre letzte Diät, keine Kohlehydrate, vier Wochen lang, und wie glücklich sie danach war. Dabei versuche ich wirklich, wirklich, mehr Salat und generell frische Produkte, und gehe nur noch auf dem Markt einkaufen, aber dann hauts mich wieder um. Vollkorn inzwischen, immerhin, aber eben Kohlehydrate. Wie sieht das denn aus, da studiert man Mode und alles dreht sich um das Aussehen, und dann quillt man plötzlich auf wie der Vollmond, das macht doch überhaupt keinen Sinn.
Wobei man natürlich auch sagen könnte, ist doch gerade cool, die studiert Mode und sieht aber gar nicht aus wie ein Model, mal kein size zero, sondern eine Frau, an der auch was dran ist, das ist dann ja immer gleich ein Vorbild, die traut sich aber was, dabei hat die dann einfach nur Normalgewicht, aber das ist ja heutzutage nicht mehr normal.
Wenn die anderen da neben mir sitzen an der Maschine, mit ihren langen spitzen Fingern, ich steche mich in letzter Zeit auch dauernd mit der Nadel, blute meine neue Kollektion voll. Überall so kleine Blutflecken, als würde meine Haut immer dünner. Und die Finger werden immer dicker. Stress vielleicht. Häkelstress. Und die anderen rauchen mittags einfach nur, ich auch, aber abends dann eben wieder Nudeln. Egal wie spät es ist. So ein Mist.
Hans

Mein Studium kotzt mich so was von an. Gar nicht mal unbedingt fachlich, eher systembedingt. Diese Leute. Professoren, Mitstudenten, Bürokratieleichen. Wie ein großer Zirkus, alle springen da durch die Gänge und träumen von einer Promotion und Stipendien und machen Auslandssemester in stinkenden südeuropä­ischen Metropolen und posten viermal am Tag Fotos von sich am Meer, und ihre Pennerfreunde, die zu blöd waren, sich rechtzeitig zu bewerben oder lieber ein Praktikum bei irgendeiner einheimischen Traditionsfirma machen, liken das dann, und irgendwelche neuen Freunde schreiben dann was auf Spanisch oder Portugiesisch drunter und das ist die gleiche nichtssagende Scheiße, die alle anderen auch schreiben, nur eben in einer anderen Sprache.
Und auf den Fluren unterhalten sie sich dann über ihre Posts und lachen über ihre kleinen Insidergeschichten und besetzen eine ganze Reihe im Hörsaal, und eine geht dann immer noch mal los und holt für die ganze Truppe Frappuccino oder so nen Scheiß, und einer ist immer dabei, so mit Schal, geringelt, Haare hinters Ohr, der spielt so gedankenverloren an seinem iPad rum, dabei scannt er ununterbrochen alles, den Raum, die Leute, seine Wirkung und ist natürlich zufrieden mit dem, was dabei rauskommt, denn da alle ihn für cool halten, wollen alle mit ihm befreundet sein, und natürlich ist er auch mit allen befreundet, ist ja klar. Und schwul ist er, natürlich, so Typen sind ja immer schwul.
Ich hab noch nie ein Foto vom Meer gepostet, ich poste eher so was wie die Mülleimer bei mir im Hinterhof oder mal einen abgerissenen Taubenkopf. Das liked natürlich niemand und die, die das liken, meinen das dann wieder ironisch, also »Daumen hoch«, »zwinker«, und spätestens da muss ich dann kotzen und lösche das alles wieder.
Und die Profs, die alle selbst noch jung sind und hey und locker und wir sind alle vernetzt und easy. Ein Scheißsystem ist das, so harmonisch und ohne Konflikte, alle sind einer Meinung und falls nicht, ist Heidegger schuld oder jemand anderes, der nicht mehr lebt, egal.
David

Berlin unter mir, rotgrüne Ampeln, Bremslichter, Riesenrad, ich stehe auf dem Dach und kann es immer noch nicht fassen. War doch ein Witz, die Bewerbung! Hans und ich bekifft, sitzen auf dem Dach, sagt er plötzlich, geh doch in die Politik. Weil wir die Reichstagskuppel sehen konnten, von der Dachterrasse aus. Politik stand nie auf dem Schirm, auf keinem, und dann plötzlich diese Idee. Und die war auch noch am nächsten Morgen da. Gesetze, Sitz­ungen, Abgeordnetenbüros.
Ich so, Kaffeetasse in der Hand, die Morgensonne frickelt sich durch die Kuppel und sieht aus wie ein explodierender Stern, und plötzlich höre ich so hallende Schritte, so leise Stimmen, das Murmeln der Macht, Papierrascheln, Anrufe, Dienstreisen, Chauffeur, und ich hatte Gänsehaut.
Ich bin nicht der Typ, der sich vor dem Spiegel in die Augen sieht und dann so eine Tschakanummer macht. Ich spreche nicht mit mir selbst. Die meisten Entscheidungen treffe ich ihm Fahrstuhl, ich hab Zeit, Isa und ich wohnen ganz oben, das Penthouse mit der 44 Quadratmeter großen Dachterrasse, das sind wir. Zwischen 4. und 5. Stock, da habe ich die Entscheidung getroffen: Ich mach das wirklich. Ich kauf mir einen neuen Anzug. Ich geh in die Politik.
Und jetzt sitze ich im Gesundheitsministerium. Alle waren sehr erstaunt, warum nicht Justiz? Oder Wirtschaft? Aber hey, keine Ahnung, irgendwie hatte ich Bock auf Gesundheit. Vielleicht, weil mein Lebenswandel so ungesund ist.
Isa

Meine Mutter ist ja Künstlerin. Eine bekannte Künstlerin. In der Kunstwelt kennt sie jeder. Alle lieben sie, sagen sie zumindest, schreiben auch die Kritiker. Als ich klein war, hatten wir kein Geld. Die ganze Wohnung war voller Leinwände, Farbeimer, Pinsel. Sogar mein Zimmer. Mein Zimmer war früher nämlich das Malzimmer. Aber als ich dann vier war, meinte mein Vater, das Kind braucht seinen eigenen Raum, wir brauchen unseren. So hat sie ihren Malplatz verloren, ein halbes Jahr später war dann auch mein Vater weg.
Nur noch meine Mutter, die Pinsel und ich. Und irgendwann hörte sie auf zu malen und filmte nur noch die weißen Leinwände. Da wurde sie dann berühmt.
Warum ich male, habe ich mir nie überlegt. David habe ich bei einer Vernissage kennen­gelernt. Er stand plötzlich neben mir, ein Glas Rotwein in der Hand, und konnte mit dem ­Bild überhaupt nichts anfangen. Und mir genau erklären, warum nicht. Er hat mich total verstanden. In seinen Augen schlummert ein kleiner melancholischer Kern. Kein depressiver, das ist ein Unterschied. Typen mit einem depressiven Kern werden irgendwann anstrengend. Bei einem melancholischen Kern, da besteht immer noch die Hoffnung, dass er die Kurve kriegt und dass der Kern die Farbe wechselt.
Meine Mutter und David mögen sich nicht besonders. Ich glaube, sie sind eifersüchtig, weil sie beide die wichtigsten Menschen in meinem Leben sind. Auch deshalb bin ich vor der Ausstellung nervös, denn da werden sie sich das nächste Mal sehen. Sie kennt ihn ja kaum, kommt ja nicht einfach so vorbei, dabei wohnt sie nicht weit weg von uns. Sie ruft an, das ja, aber dass man sich trifft, in echt, das ist ihr glaube ich zu persönlich.
Privatsphäre ist ihr sehr wichtig, die eigene vor allem. Und die hat sie ja nicht mehr, wenn da plötzlich andere Leute sind. Sie hat immer gesagt, dass sie niemanden braucht, in ihrer Umlaufbahn, und David wäre so anhänglich mir gegenüber und ich wäre ganz klar die Sonne in unserer Beziehung. Und wie wichtig es ist, dass man immer die Sonne ist, nicht einfach nur so irgendein Planet.
Käthe

Jetzt bin ich gerade an so einer Strampler-Kollektion dran, Stichwort zwanziger Jahre für Kinder. Also mache ich so Strandanzüge, geringelt, mit Seepferdchen drauf, alles gehäkelt, alles von Hand, ich werde noch verrückt. Habe das Gefühl, meine Hände werden immer dicker, und wenn ich die Nadel durch die Wolle ziehe, verknoten sich meine Finger und nichts geht mehr und dann renne ich auf die Toilette und heule. Da riecht es immer nach Zigaretten und so beißendem Reinigungszeug, sicher noch aus DDR-Beständen, irgendwas, womit man auch Ratten vergiften und Wälder entlauben kann, ein sozialistisches Wundermittel gegen alle Übel.
Treffe mich nachher mit Isa und wir tragen zusammen ihre neue Skulptur in die Galerie. Ich hab die Skulptur gestern zum ersten Mal gesehen, vorher wollte Isa das nicht, und ich finde sie ziemlich unheimlich. So eine Frauengestalt, ganz in sich verschlungen, die Arme um den Körper, so als ob sie friert, hat was total Einsames und Verstörendes und ist so groß wie ich, also als ich in das Wohnzimmer kam, wurde es draußen schon dunkel und da steht diese regungslose Gestalt und ich bin zusammengezuckt und hab gerufen, Isa? Und als die dann neben mir aus dem Bad kam, bin ich echt erschrocken. Weil ich ja erst dachte, sie stände da am Fenster, so komisch zusammengekauert.
Hans

Mein Prof wollte mich sprechen. Hab ich mir erstmal was zur Beruhigung eingeworfen. Dreimal darf man fehlen, zweimal war ich schon nicht da, ein Paper hab ich auch nicht abgegeben, habs allerdings auch nicht geschrieben, das war einfach der falsche Termin, an dem Wochenende hatte ich anderes zu tun, ich kann ja auch nicht nur studieren und sonst gar nichts mehr.
Ich also rein in sein Zimmer, außerhalb der Sprechstunde, dachte noch so, fuck, das wars jetzt für mich, sagt er mir aber, dass er meine Arbeiten echt gut findet, und wenn ich mal was sage im Seminar, dabei grinst er so, was ja nicht oft vorkommt, dann findet er das auch gut. Und er wollte mich fragen, ob ich mich nicht auf so ein Stipendium bewerben wollte, er könnte mir da auch ein Empfehlungsschreiben schreiben und ich so, oh. Ja super. Stipendium. Bekommt man ein Jahr lang 1 000 Euro im Monat und kann forschen woran man will. Jetzt studier ich ja leider nicht Chemie, sonst wüsste ich schon, woran ich forschen könnte, auch praktisch, aber so?
Hab ich halt gesagt, klar, cool, er hatte die Unterlagen sogar schon ausgedruckt und gibt die mir mit und klopft mir noch so auf den Arm, dass er sich freut und dass das ne Riesenchance wäre und wie wichtig es ist, talentierten Nachwuchs zu fördern und wer weiß, vielleicht ja sogar ans Institut zu binden, und ich denk mir so, ich werde hier sicher nicht Privatdozent für Ethik im Digitalen Zeitalter oder was, aber war trotzdem so tiefenentspannt die ganze Zeit, sicher, mach ich. Krass. Am Ende dann, wir stehen beide so an der Tür, legt er mir die Hand nochmal auf den Arm und sagt, dass ich jederzeit zu ihm kommen könne. Jederzeit. Dann gibt er mir seine Karte. Mit Handynummer drauf, von Hand.
Isa

Mit Käthe und der Skulptur in die Galerie. Heinz war total begeistert, ist fast ausgerastet, was er darin sehen könnte an Verletzlichkeit und aber auch Angst und ob das unsere Zivilgesellschaft wäre, die Skulptur, das verhuschte Abendland, und ich dachte mir nur so, nein mann, das bin doch ich, das ist doch mein Innerstes, und deswegen sieht sie ja auch aus dem Fenster, weil hinter dem Glas, da ist eine andere Welt und dahin will sie, und meinte aber, klar könne er das so in den Katalog ­schreiben, die Infragestellung unserer Werte und der Verfall der Gesellschaft und die soziale Kälte. Weil die friert ja offensichtlich, sagte er noch und ich musste mich schnell umdrehen.
Er hat einen neuen Assistenten, Teddy heißt der und sieht total unecht aus, ist einfach zu krass geschminkt, und ich bin mir sicher, er benutzt farbige Kontaktlinsen. Er spricht mit französischem Akzent und rennt die ganze Zeit hinter Heinz her, wie ein kleines Hündchen.
Käthe hatte schon wieder alle Finger voller Pflaster, ich verstehe nicht, was sie da immer macht an ihrer Schule oder warum die ihnen das Nähen nicht von Anfang an richtig bei­bringen, ich meine mit so dick verbundenen Fingern kann man doch keine Babysachen häkeln. Wobei ich nicht genau weiß, wie sie eigentlich auf die Idee kommt mit den Babys. Weil eigentlich wollte sie ja immer so mondänes Partyzeug machen, mehr so urban. So mit viel Glitter und abgefahrenen Mustern und wenig Stoff und jetzt eben Seepferdchen.
Die Skulptur ist ganz schön schwer, eigentlich hätte mir David tragen helfen sollen, aber der hatte heute seinen ersten Arbeitstag im Ministerium. Wie ein kleiner Junge, völlig überdreht, die Stadt spiegelt sich in seinen Schuhen.
Im Treppenhaus sind wir dem Nachbarn begegnet, mittelalt, überlegt sich jedes Mal was Neues, wenn er mich sieht, heute wars der Satz, na, tragt ihr da eine Leiche? Weil die Skulptur ja eingewickelt war. Genau, habe ich gesagt, die hat so genervt. Da war er ruhig.

David

Wahnsinn. Noch ne Dachterrasse. Blick über Mitte, bis nach Kreuzberg, eigenes Büro, Glasfassade und, total krass, eigene Praktikantin. Noch von meiner Vorgängerin, die hat nach nur zwei Monaten wieder aufgehört, und jetzt habe ich also Verena, 23, blond, weiße Zähne, sie zeigt mir alles, verkehrte Welt. Mein Chef ist nie da, Geschäftsreise, Vorträge, Meetings, und ich habe den ganzen Flur für mich. Unten ist die Kantine, ein Hammerteil, alle möglichen Leute aus anderen Firmen kommen da mittags hin, weil die so hell ist und modern und das Essen im Gesundheitsministerium besonders gut ­und ausgewogen, sollte man meinen.
Aber hey, auch hier gibt es verkochten Reis und so Paprika-Schaschlik, das aussieht wie frisch Erbrochenes. Verena ist Vegetarierin und studiert Gesundheitsmanagement und lächelt die ganze Zeit, und der Koch kennt sie schon und weiß, dass sie nie Knoblauch isst und auf Weizen allergisch ist. Natürlich überall Rauchverbot, deswegen bin ich ja ständig auf der Dachterrasse, Verena raucht nicht, die hat auch ihre Sportsachen dabei und geht nach der ­Arbeit ins Fitness-Studio.
In vier Wochen muss der Bericht stehen, mein erstes eigenes Projekt im Namen der Bundes­regierung, noch habe ich niemanden gesehen, den man aus dem Fernsehen kennen könnte, ich hab das Gefühl, noch nie irgendwo mehr Raucher gesehen zu haben als hier morgens vor dem Eingang. Vor Krankenhäusern wahrscheinlich noch, da sammeln sie sich ja auch immer. Jedenfalls gehen wir heute Abend aus, feiern. Unsere Erfolge. Hans und Käthe kommen auch mit.
Draußen erstmal einen durchziehen. In meiner Tasche die Stipendienunterlagen, da freut sich mein Vater. Oder Käthe, dachte ich zumindest, aber die liegt schon wieder auf dem Bett und heult. Früher war sie auch nicht so drauf, keine Ahnung, warum sie plötzlich alles so furchtbar findet, auf dem Bett, dem Boden überall Stoffe, Schnittmuster, Wolle, Häkelnadeln, ich frage mich wirklich, wofür sie ein Atelier hat, wenn sie den ganzen Scheiß bei mir im Schlafzimmer verteilt.
Ich also erstmal trösten und Rücken streicheln und mach ihr dann nen Tee, nur warmes Wasser, mit Beruhigungstablette drin, das hilft immer. Dann kann ich ihr auch endlich von dem Stipendium erzählen, das ist ja auch für sie gut, ich verdiene ja gerade überhaupt nichts, und 1 000 Euro, das ist schon ne Menge Geld. Hört sie aber kaum zu, so verheult ist sie, auch innerlich.
Mein Prof meinte ja noch so, er schickt mir dann die Flugtickets, je nachdem, wie lange das noch alles dauern wird. Und wie und wann die Kollegen vor Ort sich entscheiden. Ich hab das ja erst nicht gecheckt, ich so, wie, was, was für Flugtickets, und er dann so, na für das Stipendium, ach, habe ich gesagt, das ist ein Auslandsstipendium, genau, sagt er, wo denn, frage ich, grinst er so, Überraschung.
Das hab ich dann Käthe nochmal gesagt, dass da ja eine Reise mit verbunden ist, ich sehe mich schon da am Strand vor irgendwelchen Schirmchen, das Meer, stinkende Ausflugsboote und Fischköpfe. Ich könnte sie da ja fotogra­fieren, meint sie dann, klar, stimmt, könnte ich. Wenn sie nicht wieder einen selbstgehäkelten Bikini trägt.
Käthe

Hans ist so süß, wie er sich um mich kümmert und mir Tee ans Bett bringt und wie er zuhört, und jetzt hat er auch noch dieses Superstipendium, ich bin so stolz auf ihn. Und das mit der Modenschau, das wird schon auch noch, ich muss einfach nur mal paar Tage Pause machen und warten, bis die Finger verheilt sind, und dann weiter häkeln. Isa war heute Nachmittag irgendwie komisch drauf, dabei hat sie doch alles, bald ist die Ausstellung, die ganze Stadt wird davon erfahren, da kümmert sich ihre Mutter schon drum, und dann gehts rund.
Heute Abend feiern wir, Isas Erfolg, Davids neuen Job, jetzt auch noch Hans’ Stipendium. Wenn ich meine Modenschau habe, dann aber auch, dann gebe ich eine Runde aus, für alle, dann kann ich wieder besser denken und alles, das geht zur Zeit ja nicht.
Ich kann den rechten Zeigefinger aber wieder knicken, immerhin, das ist doch auch schon mal was. Und ich habe die Familienpackung Toastbrot weggeworfen, ganz unten in den Müll. Weil manchmal, da bin ich nachts aufgewacht und hatte so Hunger, dabei weiß ich nicht mal, ob es Hunger war oder was anderes, und dann habe ich immer dieses Toastbrot gegessen, ungetoastet. In England heißt Toastbrot ja erst dann Toast, wenn es getoastet ist, also fertig. Hier heißt es Toastbrot, weil man es toasten kann, der Sinn des Brots liegt also in der Zukunft. Wie bei mir.
David und Hans wollen sich um die Drogen kümmern, die brauche ich heute aber unbedingt, ich mach mir gleich schon mal nen Drink, oder Hans soll mir einen machen, Gin Tonic und Zigaretten und dann auf den Balkon und die Verbände abnehmen und die Hände in die Sonne halten. Wenn wir heute Abend weggehen, da ist ja überall so dunkel, da sieht man meine Finger vielleicht gar nicht.
Isa

Zurück aus der Galerie, noch Koks gefunden, weggezogen, will das Wohnzimmer aufräumen wegen nachher, wenn die alle kommen, und trage gerade eine Leinwand weg, da kriege ich Nasenbluten und alles spritzt drauf, rote ­Flecken überall, stopfe mir Klopapier in die Nase, da ruft meine Mutter an. Sie hätte schon mit Heinz gesprochen, das wäre ja super mit der Skulptur und was ich denn davon ­halten würde, mal ein Selbstporträt zu malen, damit auch mal was von mir in meinen Werken drin ist.
Denke ich mir, bist du blind, seid ihr denn alle blind, aber nicke nur, während mir das Blut jetzt plötzlich auch aus dem anderen Nasenloch läuft, das wäre ja mal ein Superselbstporträt, rot auf weiß, wir sind alle nur kleine Spritzer vor leerem Hintergrund. Ob ich Schnupfen hätte, will sie wissen, nur erkältet, geht bestimmt bald wieder weg, sage ich, pass bloß auf, sagt sie, das ist deine große Chance, die Ausstellung. Mach das nicht kaputt. Mach doch mal ein Selbstporträt.
Dann klingelt mein Handy, ach, und Isa, sagt meine Mutter, da ruft dich vielleicht bald ­mal, Handy klingelt, sage ich, lege auf, das ­Handy klingelt weiter. Es klingelt ganz schön lan­ge und ich kenne die Nummer nicht. Geh ich nicht ran.
David

Fast hatte ich Lust, Verena zu fragen, ob sie heute Abend mitkommt, aber dann lieber doch nicht, weil muss ja nicht jeder wissen, wie und mit was ich meine Freizeit verbringe. Isa hat krass aufgeräumt, ich hab partymäßig alles besorgt, jetzt gehts los.
Hans

Käthe sieht fast nicht mehr verheult aus, ich hab partymäßig alles besorgt, jetzt gehts los.

Käthe

Eigentlich keine Lust, aber nach paar Lines von der Waschmaschine sieht das schon wieder ganz anders aus.
Isa

Und da sitzen sie alle auf dem Sofa und lachen, Käthe besonders laut. Na dann, have fun.
David

Gott ist mir schlecht.
Hans

Wo …
Käthe

Ich liebe meine Hände. Ich liebe sie. Jeden einzelnen kleinen makellosen Finger. Wie bin ich denn ins Bett? Und wann? Und wer klingelt da denn bitte an der Tür? Wie viel UHR ist es denn?
Mary

Ich war neu in der Stadt, und ich kannte niemanden, bis auf Isa, die kenne ich noch aus der Schule. Unsere Mütter sind Freundinnen, haben zusammen in einem Chor gesungen. Ich hab früher im Schulorchester gespielt, Geige. Isa nicht. Isa hat sich nach der Schule mit Freundinnen getroffen, mit ihrer Clique. Da durfte nicht jeder dabei sein, bei der Clique. Isa und ich sind eigentlich auch Freundinnen, auch wenn wir jetzt nicht so viel zusammen gemacht haben. Ich hab oft an sie gedacht und sie zum Geburtstag eingeladen. Sie hat viel gelacht mit den anderen Mädchen, sie hatte auch schon total früh nen Freund. Wir waren nicht in einer Klasse, vielleicht hätten wir uns sonst auch öfter gesehen, bestimmt hätten wir das. Aber dann sind Isa und ihre Mutter weggezogen und wir haben uns aus den Augen verloren.
Als ich dann nach Berlin gekommen bin, hab ich gleich angerufen. Meine Mutter hat Isas Handynummer von Isas Mutter. Isa ist aber nicht rangegangen. Erst hab ich gezögert, dann bin ich bei ihr vorbei. Und hab zuerst ihren Freund getroffen, den David. Der war sehr nett. Wirklich sehr. Isa hat mich erst gar nicht erkannt! An dem Tag hatte sie keine Zeit, sie sah aber auch gar nicht gut aus, dann hab ich noch mal angerufen, dann haben wir uns verabredet. Isa trinkt Alkohol und raucht, sie wusste gar nicht warum, als ich sie gefragt hab. Ich glaube, dass sie schon häufiger Party machen.
Früher in der Schule war das ja auch schon so. Ich glaube, sie hätte viel besser sein können, aber sie hatte da eben andere Prioritäten. Für mich war Schule immer total wichtig, oder für meine Mutter, besser gesagt. Aber ich war dann auch immer gut. Ich hätte echt alles studieren können, egal wo. Dass es dann ausgerechnet Lehramt wurde, und da dann auch ausgerechnet Deutsch, das ist wohl eine klassische Entscheidung. Wobei die Entscheidung, nach Berlin zu gehen und jetzt nicht beispielsweise nach Tübingen, die finde ich schon echt gut. Da habe ich mich selbst mit überrascht. Und meine Mutter auch.
Isa malt, und sie hat bald ihre erste Ausstellung, das wird bestimmt super. David macht auch Karriere, im Gesundheitsministerium. Die sind ein ganz süßes Paar, die beiden. Wirklich. Passen super zusammen. Der David hatte ja nur ein Handtuch um, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, das war schon außergewöhnlich. Ich würde so nie die Tür aufmachen. Oder wie Isa, in einem ganz ganz kurzen Bademantel, rosa.
Daran muss ich mich noch gewöhnen, an die lockere Art. Sie haben, glaube ich, auch sehr viele Freunde, also wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind wohl auch andere Leute dabei. Ich bin da ja immer eher schüchtern, aber meine Mutter hat gesagt, es kann nichts schaden, neue Leute kennenzulernen, man weiß nie, welche Kontakte sich bewähren.
Ich hab hier ja noch nicht so neue Leute, an der Uni sind immer total viele im Hörsaal, und die kennen sich alle schon, das ist dann schwer, da reinzukommen in so eine Freundesgruppe. Ich bin jetzt ja auch nicht so der Typ, dass ich mich wo dazustelle und sag, hallo, ich bin die Mary.
Ich kann halt den Mompi, also das ist mein Hund, den kann ich nicht mitnehmen in die Uni. Aber er ist brav, er macht jetzt nichts kaputt in meiner Wohnung, wenn ich nicht da bin. Er freut sich immer total, wenn ich abends nach Hause komme, und mich freut das auch, dass da jemand ist, der sich freut. Weil manchmal, also da fühle ich mich dann schon einsam. Ich hab ja auch keinen Fernseher.

Der 2013 in Berlin gegründete Verlag Das Beben widmet sich der Gattung der Novelle sowie den Genres Fantasy, Horror und Science-Fiction. ­Dort wurden bereits Bücher von Marcus Hammer­schmitt, Georg Kammerer, Tobias Hülswitt und ­anderen herausgebracht. Ab Herbst dieses Jahres soll dort alle zwei Monate ein neuer Titel als E-Book erscheinen. Mehr Informationen unter: verlagdasbeben.de.

Abdruck mit freundlicher Ge­nehmigung des Verlags aus: Eva Strasser: Mary. Verlag Das Beben, Berlin 2013, 206 Seiten, 3,49 Euro. Das Buch ist soeben erschienen und als E-Book und Pdf erhältlich.