Das Heitere bei Imre Kertész

Niemandes Zeuge

Über die skandalöse Heiterkeit des Imre Kertész.

Die Annahme, den Antisemitismus zeichneten Hartherzigkeit und Kälte gegenüber den als Juden Verfolgten aus, ist ein deutscher Mythos. Mit nichts haben sich die Antisemiten so liebevoll und obsessiv beschäftigt wie mit den Opfern ihres Vernichtungswahns. Adolf Eichmann, der Jiddisch und Hebräisch sprach, war keine obskure Ausnahme; Hanna Schmitz, die Protagonistin von Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« – eine ehemalige KZ-Wächterin, die während der Haft mit Primo Levi Lesen lernt –, war keine bloße Fiktion. Zahllose Nationalsozialisten hegten ein ebenso emphatisches Interesse an allem, was »jüdisch« ist, wie viele Schergen zu den ihnen Ausgelieferten eine intensive emotionale Beziehung entwickelten. Die Objekte von Qual und Sadismus waren für sie nicht austauschbar, die Folter zielte nicht allein auf das Exemplar, zu dem sie das Opfer erniedrigte, sondern auf die Brechung und Vernichtung des jeweils besonderen Menschen. Der Nationalsozialismus vernichtete in der Zerstörung der Individuen auch das Individuum als Kategorie; doch die Einzelnen wurden von den Antisemiten immer auch als je Einzelne ermordet. Darin besteht der Kern des modernen Antisemitismus, dem »das Jüdische« als abstraktes Prinzip zersetzender Individualität gilt, das durch die konkret gewordene abstrakte und totale Gewalt zu exorzieren sei.
Weil die Vernichtung der Juden, anders als das Stereotyp vom totalen NS-Staat nahelegt, von den Deutschen nie einfach als ein zu absolvierender Dienst oder als bloßer bürokratischer Akt angesehen wurde, sondern als libidinös hochgradig besetzte Herzensangelegenheit, mussten sie sich nach 1945 nicht verstellen, um zu Philosemiten zu werden. Sich mit Begeisterung der »jüdischen Kultur« zuzuwenden, war ein ihrem Sozialcharakter, der sich für alles Volkhafte, Ethnische und Echte stets begeisterte, naturwüchsig entsprechender Impuls. Deshalb konnte zur gleichen Zeit, als die alten nationalsozialistischen Kader sich in den Verwaltungen wieder etablierten, Martin Buber, der Philosoph des »Kulturzionismus«, mit höchsten Preisen ausgezeichnet werden. Deshalb betrieben dieselben, die in den Sechzigern gegen Finanzkapital und amerikanische Oberflächlichkeit hetzten, »jüdische Studien« oder lasen in Eso-Zirkeln die Kabbala. Deshalb bekennen sich heute überzeugte Feindinnen Israels wie Judith Butler zu ihrem Judentum, und Christina von Braun, Expertin für islamischen Flurschutz an der Berliner Humboldt-Universität, macht in Antisemitismustheorie.
Nicht die Liebe zur jüdischen Kultur, sondern die freundlich-liberale Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Menschen, die als Individuen ernst zu nehmen und nicht zu Vertretern ihres Stammes zu degradieren seien, ist hierzulande verpönt. Daher ist es konsequent, wenn Antizionisten die Beschneidung als Kulturgut verteidigen und im Holocaust-Seminar neben Schlink auch Jean Améry auf dem Stundenplan steht, dessen »Tortur« grüne Lehramtsstudentinnen mit rasendem Herzen lesen wie einst in der Oberstufe vulgärexistentialistische Dramen. Einer aber wird fast nie gelesen, obwohl er zum Kanon zählt: Imre Kertész. Kertész nämlich ist kein Literat der Shoa, sondern zuvorderst Literat; sein Werk »handelt« nicht von der Vernichtung der Juden wie die Bücher Levis oder Amérys (gegen die damit nichts gesagt ist). Er schreibt nur eben nicht »vom Holocaust her«, wie die akademische Rubrizierung lautet, sondern aus der Tradition der sprachkritischen ungarisch-österreichischen Moderne heraus. Mit Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Joseph Roth, die er übersetzt hat, verbindet ihn mehr als mit sogenannten Holocaust-Schriftstellern.
»Roman eines Schicksallosen«, sein 1960 begonnenes, erst 1975 veröffentlichtes Buch über eine ganz andere als die Arendtsche Banalität des Bösen, gilt dem Feuilleton dennoch als Kertész’ genuiner Beitrag zur Literatur der Shoa. Tatsächlich ist es ein Buch über die antizipatorische Phantasie der literarischen Moderne. Bis in idiomatische Nuancen hinein adaptiert es den reflektiert naiven Duktus der Prosa Kafkas, die es aufs Neue an einem Gegenstand entstehen lässt, der nicht der Kafkas und doch, wie man erst beim Lesen von Kertész merkt, schon seiner gewesen ist. Um eine Autobiographie zu sein, ist das Buch zu artifiziell, um als Fiktion durchzugehen, zu autobiographisch; das musste eine Leserschaft verstören, für die »Opferliteratur« entweder eine Lebensbeichte oder pädagogische Prosa zu sein hatte. Dass Kertész darin aber aus der Perspektive eines kleinen Jungen, der unbeteiligt wie bei einem Alltagsgeschehen die Deportation seiner Familie miterlebt und das mit dem Sterben identische Leben im Lager als neue Form des Alltags erfährt, über die Shoa schreibt, als wäre es das Einfachste von der Welt; dass er Schornsteine nicht als Symbole der Vorhölle, sondern als Teil einer Lederfabrik, die Selektion der Schwachen und Alten als effiziente Prozedur und noch den körperlichen Verfall der Lagerinsassen als etwas schildert, womit man halt klarkommen muss, das hat sein Publikum Kertész nie verziehen.
Literatur über die Shoa, darin besteht Einigkeit, hat entweder authentisch-dokumentarisch oder mythisierend-hermetisch zu sein; sie muss nach Anne Frank oder Paul Celan, Peter Weiss oder Nelly Sachs klingen. Nicht jedoch darf sie so klingen: »Ich muss sagen, es gibt nichts, was mühseliger und aufreibender ist als die quälenden Strapazen, die man offensichtlich jedes Mal auf sich nehmen muss, wenn man in ein neues Konzentrationslager kommt (…). Im Übrigen habe ich gleich gesehen, dass ich diesmal nur in so ein kleines, armseliges, abgelegenes, sozusagen in ein Provinz-Konzentrationslager gekommen war.« Und auch nicht so: »Buchenwald liegt in einer hügeligen Gegend, auf dem Rücken einer Anhöhe. Die Luft ist rein, das Auge wird von einer abwechslungsreichen Landschaft erfreut, dem Wald ringsum und den roten Ziegeldächern der Bauernhäuser im Tal.« Und so schon gar nicht: »Sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach den Übeln, den ›Gräueln‹: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.«
Mit letzteren Sätzen endet Kerész’ Buch, sie sind die nachhallende Antwort auf die Fragen eines Journalisten, der den nach der Befreiung nach Ungarn zurückgekehrten Protagonisten über seine Erfahrungen ausfragen will, um »der Welt« von der »Hölle der Lager« zu erzählen. Die Antwort von Kertész’ Jungen, in dem der Autor, zeitlich geringfügig versetzt, seine Vergangenheit spiegelt, ist auch die von Kertész: Das Lager habe man sich nicht als Hölle vorzustellen, denn die Hölle sei ein Ort, »wo man sich nicht langweilen kann«, während man das im Konzentrationslager sehr wohl könne, und überdies: »Über gewisse Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren.« Gesprochen aus der Perspektive eines gewesenen Kindes, das die Orte der Vernichtung nicht durch den Filter historischer Mythologie, sondern als bruchlose Fortsetzung alltäglichen Lebens wahrgenommen hat, wird der Satz zum Urteil über die grausame Naivität einer Erwachsenenwelt, die selbst aus der Selbstaufhebung der Zivilisation etwas lernen und andere damit belehren will.
Kertész erinnert demgegenüber daran, dass die Luft in Buchenwald tatsächlich rein, manches Lager armselig und manches großzügig und all das vermeintlich Unsagbare die tägliche Wirklichkeit aller Menschen war und es als untilgbare Vergangenheit bis heute ist. In diesem Sinne hat er nie über die Shoa geschrieben, sondern die Shoa ist in seinem Werk, das zu großen Teilen von ihr nicht handelt, als ungenannte Voraussetzung präsent; ungenannt, nicht weil sie unnennbar wäre, sondern weil sich über sie nichts sagen lässt, was nicht alle wissen; weil also über sie buchstäblich nichts zu sagen ist. Diesem Bewusstsein entspringt die provokative Heiterkeit, mit der Kertész in Interviews erklärt, er sei »dankbar« für Auschwitz, ohne das er nicht geworden wäre, was er ist; mit der er, gebildeter Großbürger und gewitzter Gigolo, bei öffentlichen Auftritten das genaue Gegenteil des gebeugten jüdischen Opfers verkörpert; und mit der er noch im Greisenalter etwas völlig anderes vorstellt als das, was an Grass und Walser geschulte Deutsche für Altersweisheit halten: keine schmierig-altsäckige Debilität, kein sentimentales Großvatertum, sondern wache Klugheit und unsterbliche Bosheit, deren Kehrseite der festgehaltene Glaube an Freude, Lust und Glück ist.