Luiz Ruffato im Gespräch über sozialen Ausschluss und Literatur in Brasilien

»Das Bild war nicht vollständig«

Luiz Ruffato war Leiter der brasilianischen Delegation auf der Frankfurter Buchmesse und erhielt für seine Eröffnungsrede viel Beifall. Der 52jährige Schriftsteller schildert in seinen Romanen den Alltag der Arbeiter, Favelados und Migranten und kritisiert den Ausschluss der Armen aus der Gesellschaft und der Kultur Brasiliens.

Ein schwarzer brasilianischer Soziologe machte einmal folgendes Experiment: Er zog sich den Overall eines Straßenkehrers über und postierte sich mit einem Besen vor dem Haupteingang seiner Universität. Sein Rektor ging an ihm vorbei und seine Kollegen, mit denen er gut bekannt war – aber niemand erkannte ihn. Welche historischen Gründe hat diese Unsichtbarkeit?
In Brasilien wirst du wahrgenommen, wenn du Geld hast. Das betrifft die Weißen, die schon lange reich sind. Der größere Teil der Brasilianer hat diese Sichtbarkeit nicht. All diejenigen, die als Straßenfeger, Pförtner oder Hausangestellte arbeiten, all die Menschen, die morgens das Haus verlassen, zwei, drei Stunden mit dem Bus und der U-Bahn zur Arbeit fahren und am Ende des Tages wieder drei Stunden nach Hause fahren, sind nicht sichtbar. Ebenso wenig die Indios, die in Favelas leben oder am Straßenrand campieren. Da ist es nicht überraschend, wenn ein Soziologe diesen Vorgang in einem praktischen Versuch nachstellen konnte. Brasilianer sehen nur ihresgleichen, und ihresgleichen bedeutet, weiß und reich.
Für mich, der ich acht Jahre in Favelas gearbeitet habe, ist diese Haltung, die auch Menschen mit ansonsten progressiven Einstellungen etwa ihren Hausangestellten gegenüber zeigen, doch recht befremdlich und überraschend.
Es geht hier um Macht. Die brasilianische Linke ist Teil der Mittelklasse und hat keinerlei Wurzeln in der einfachen Bevölkerung. Interessanterweise haben Linke oft Verhaltensweisen, die denen der Rechten sehr nahe kommen. Sie haben andere Ideen, aber das Verhalten ist ähnlich.
Es scheint manchmal so, als lebten zwei verschiedene Nationen in Brasilien zufällig auf demselben Territorium nebeneinander. Die Tragödie der Favela ist nicht mal die materielle Armut oder das kulturelle Vakuum, sondern der Umstand, dass es in jeder Favela intelligente, talentierte und zielstrebige Jugendliche gibt, die aus ihrem Leben etwas machen wollen, die aber keine Chance haben, weil es in ihrem Einzugsbereich keine Schule gibt, in der sie einen Mittelstufenabschluss machen könnten, der wiederum eine Voraussetzung für eine Berufsausbildung ist. Sie haben immer wieder auf diese Defizite des öffentlichen Schulsystems hingewiesen.
In Brasilien ist Bildung kein Recht, sondern ein Privileg und ein Herrschaftsinstrument. Daran hat sich in den 28 Jahren der Demokratie nichts geändert. Die reiche Bevölkerung konserviert dieses System, um in den besten Schulen und Universitäten studieren zu können, ohne Studiengebühren zu bezahlen. Es ist für mich absolut unbegreiflich, dass das öffentliche Bildungssystem in Brasilien für die Reichen kostenlos ist. Wer nicht reich ist, aber auf eine Universität gehen will und keine Vorbereitungskurse bezahlen kann, schafft es nur auf eine Privatuniversität und muss dafür bezahlen. Der Reiche hat in Brasilien eine Universität von exzellenter Qualität, der Arme eine Universität von miserabelster Qualität und muss dafür bezahlen. In Brasilien ist das Bildungssystem nach wie vor ein Instrument der Herrschaft.
Verschleudert dieses System damit nicht auch sein großes Entwicklungspotential?
Selbstverständlich. Brasilien ist nach kapitalistischen Kriterien ein Boomland und hat ein starkes wirtschaftliches Wachstum, aber jetzt fehlen zum Beispiel Techniker. Im heutigen Brasilien fehlen zudem Ärzte, Ingenieure. Selbst nach kapitalistischen Kriterien ist es eine Tragödie, es fehlt die Kapazität zur Entwicklung des Landes, der Mineralölkonzern Petrobras etwa benötigt Ingenieure jeder Fachrichtung.
Bei meiner Arbeit in den Favelas musste ich auch die frustrierende Erfahrung machen, dass die Vorschläge und das Know-How der Bewohner nicht genutzt werden. Bei den Favela-Befriedungen, wie sie jetzt in Vorbereitung der Fußball-WM durchgesetzt werden, ist die Gemeinde wie ein weißes Blatt, auf das die öffentliche Hand und die Tourismus-Industrie ihre Entwicklungserzählung schreibt. Sie schildern in Ihren Büchern das Leben und den Überlebenskampf der Armen. Warum haben Sie die Armut zu Ihrem großen Thema gemacht?
Es gibt einige Dinge, die mich immer gestört haben. Ich bin in einer sehr armen Familie aufgewachsen, meine Mutter war Analphabetin, mein Vater konnte kaum lesen und schreiben. Dennoch hatte ich Zugang zu Büchern. Das Universum, in dem ich mit 16, 17 Jahren lebte, war das Universum von Arbeitern, Arbeiterfamilien, ich kenne diese Welt sehr gut. Als ich später an an der Uni studierte, stellte ich fest, dass es in der brasilianischen Literatur kaum eine Seite über die Arbeiter gab, deshalb habe ich sozusagen einen Vorschlag zur Reflexion über dieses Universum vorgelegt. Eine Gesellschaft kann nur verstanden werden, wenn alle ihre Bereiche in der Literatur repräsentiert sind. Das Bild war nicht vollständig, deshalb habe ich ein vollständigeres Bild der brasilianischen Gesellschaft vorgelegt. Dabei stand für mich von Anfang an fest, dass ich dieses Universum in die brasilianische Literatur einbringe, ohne die literarische Qualität abzusenken. Wenn in Bra­silien über Arme gesprochen wird, dann wird auch die Sprache und die Psychologie dürftig. Deshalb wollte ich mit Niveau schrei­ben, um komplexere menschliche und sozialen Zusammenhänge darstellen zu können.
Ihr Roman »Es waren viele Pferde« ist eine Collage, in der Sie den Migranten und den Armen eine Stimme leihen.
In der brasilianischen Gesellschaft finden nicht alle sozialen Schichten eine Repräsentation. Zum Beispiel gibt es keine schwarzen Journalisten. Ich habe 13 Jahre als Journalist gearbeitet, ich kann an einer Hand abzählen, wie viele schwarze Kollegen ich hatte. Mein Sohn ging auf eine italienische Schule, schwarze Schüler gab es dort nie. Ich kenne keine schwarzen Ärzte, keine schwarzen Rechtsanwälte, keine schwarzen Ingenieure und Geschäftsführer.
Ist der niedrige Bildungsgrad großer Teile der Bevölkerung ein Hindernis für die Entwicklung der brasilianischen Demokratie?
Das ist zweifellos der Fall. Wir stellen uns immer vor, dass Demokratie vor allem bedeutet, zu wählen. Aber Demokratie bedeutet nicht nur zu wählen, sondern bewusst zu wählen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Nur derjenige wählt wirklich, der die damit verbundenen Absichten versteht. Erst wenn wir ein besseres Bildungssystem haben, werden wir wirkliche Demokratie haben.
Die Frage, die ich im Armenviertel immer wieder gehört habe, lautet: »Wer hat hier das Sagen?« Woher kommt das?
Ich habe vor kurzem eine Anthologie über die brasilianische Politik veröffentlicht, ihr Titel lautet: »Weißt du, mit wem du sprichst?« In Brasilien wird diese Frage zur Einschüchterung benutzt. Die Reichen in Brasilien sind alle untereinander befreundet. Der Rechtsanwalt ist der Freund des Ingenieurs, der Freund des Polizisten und des Präsidenten und des obersten Bundesrichters. Die Frage ist die Botschaft: »Leg’ dich nicht mit mir an.« Die Frage wird ständig zur Einschüchterung benutzt. Mein Traum ist es, dass diese Frage eines Tages in Brasilien nicht mehr gestellt wird. Dann haben wir vielleicht Demokratie.
Eine Freundin, die in einem Jugendgefängnis als Sozialarbeiterin tätig ist, sagte mir, dass die dort inhaftierten Jugendlichen keinerlei Selbstbewusstsein und auch keine Vorstellung vom Wert des Lebens des Mitmenschen haben. Wie kann man damit umgehen?
Selbstbewusstsein kann einer nur haben, wenn er weiß, wer er innerhalb der Gesellschaft ist. Die Beziehung zwischen mir und dem anderen ist nur in einer Gesellschaft möglich, in der ich und der andere selbstbewusst leben. Selbstbewusstsein hat mit Bildung zu tun, Selbstbewusstsein ist, wenn du dich als menschliches Wesen erkennst. Ein guter Teil der brasilianischen Gesellschaft begreift sich heute noch immer nicht als menschliche Wesen. Diese Menschen sind Teil des ökonomischen und sozialen Räderwerks, sie sind Teil einer Produktionskette, aber sie sind keine Individuen und können den anderen deshalb auch nicht als solche begreifen. In meiner Rede (zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse; d. Red.) habe ich gesagt, dass all das, was in Brasilien kollektiv ist, die Angelegenheit von niemandem ist. Nach dem Motto: Mich kümmert nur meine eigene Familie, das eigene Auto, der Hund, der Fernseher; und wenn das alles stimmt, geht mich das andere nichts mehr an.
Dennoch gibt es gerade in den Favelas auch die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit, etwa beim Aufbau von Kooperativen.
Die Idee der Kollektivität ändert alles, aber in unserer Gesellschaft wird sie ausgebeutet. Am stärksten geschieht dies beim Fußball, die Fans schließen sich zusammen und sind für Brasilien, aber sobald das Spiel vorbei ist, ist auch wieder Schluss mit der Kollektivität.
In Ihrem Roman »Es waren viele Pferde« gibt es einen Mann in einer Favela, der ständig Bücher liest. Glauben Sie, dass jemand wie dieser Typ, der im Buch der »Schädel« heißt, Ihre Romane liest?
(lacht) 2015 werde ich mein fünfbändiges Werk »Vorläufige Hölle« in einem einzigen dicken Band herausgeben. Im Vorwort werde ich das Buch dem »Schädel« widmen, wohl wissend, dass ein Favelado so ein voluminöses Buch nicht liest. Aber das ist nicht mein Problem, meine Sorge ist, dass der »Schädel« bis dahin von der Polizei erschossen wurde.
An den Protesten, die vor ein paar Monaten mit großen Demonstrationen in zahl­reichen Städten begonnen haben, haben Favelados kaum teilgenommen. Was sind die Gründe?
Diese Proteste sind nicht so einfach zu verstehen. Sie hatten einen ganz speziellen Auslöser und begannen als Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen. Es gab eine absurde Polizeigewalt, was dazu geführt hat, dass die Leute sich gegen die polizeiliche Repression zusammengeschlossen haben. Da es aber keine gemeinsame Forderung gab, ebbten die Proteste ab. Jetzt gibt es erneut Proteste, aber mit klaren Forderungen. Ich würde es so formulieren: Heute haben wir in Brasilien eine Reihe drängender Probleme, die viele Menschen vereinen, zum Beispiel die schlechte Qualität des Bildungs- und Gesundheitssystems. Das Fehlen öffentlicher Sicherheit, die Korruption, das alles sind Dinge, die viele Menschen zusammenbringen. Wenn die Menschen an diesen ungelösten Pro­blemen ansetzen, werden wir gigantische Demonstrationen haben.
Auf dem Literaturfestival FLUPP, das im November 2012 im Morro dos Prazeres, einer befriedeten Favela von Rio de Janeiro, stattfand, haben Sie während eines Podiumsgesprächs mit Ihrem Schriftstellerkollegen Paulo Scott gesagt: »Ich bin optimistisch.« Was lässt Sie hoffen?
In Brasilien haben wir alle Voraussetzungen für den Fortschritt, den wir uns wünschen. Wir haben eine starke und diversifizierte Industrie, wir haben eine bedeutende Landwirtschaft, wir haben Bodenschätze, wir haben eine extrem kreative Bevölkerung und einen affektiven Reichtum – was uns fehlt, ist eine Politik, die alles umverteilt für ein besseres Land. Wir müssen uns entschließen, dass wir diese Veränderung wollen.

Lutz Taufer arbeitete von 2003 bis 2011 im Auftrag des Berliner Weltfriedensdienstes in brasilianischen Favelas.