Clemens Meyers lesenswerter Roman »Im Stein«

Ekel, Geld und Mundwasser

Clemens Meyer gibt in seinem lesenswerten Roman »Im Stein« Prostituierten eine Stimme.

Prostituierte sind in deutlich höherem Maß von Gewalt betroffen als die weibliche Gesamtbevölkerung Deutschlands. Sie erleiden im Privatleben wie bei der Arbeit nicht nur häufiger Gewalt, sondern erleben, gemessen an den Verletzungsfolgen, auch bedrohlichere Formen der Gewalt. 68 Prozent der Befragten gaben laut einer Umfrage aus dem Jahr 2009 an, lebensbedrohliche Formen der Gewalt erlebt zu haben. Fast die Hälfte der befragten Prostituierten wurde mehrmals vergewaltigt. Neben den (Ex-)Partnern sind die Freier die größte Tätergruppe der sexuellen oder körperlichen Gewalt. Das sind ein paar Fakten zur Prostitution.
Aber nein, Clemens Meyers Roman »Im Stein« ist kein moralisierendes Buch, es gibt keinen erhobenen Zeigefinger. Das hätte wohl auch niemand vermutet, der seine Werke kennt, vor allem seinen grandiosen ersten Roman »Als wir träumten« über eine Jugend im Leipzig der Nachwendezeit. Und dennoch: Er hat ein Buch über Prostitution in Deutschland geschrieben, und das, was er schildert, ist vor allem brutal, bedrückend und berührend. Es geht um Macht, Geld und Konkurrenz, ein fast schon alltäglicher Wahnsinn, und am Ende der Kette stehen die Frauen, die Sex verkaufen, um zu leben.
Mit dem inneren Monolog einer Prostituierten beginnt der Roman. Die Frau ist auf dem Sprung zu einem Kunden in einem Hotel, was ihr eigentlich nicht so gut passt, sie steht kurz am Fenster und hängt ihren Gedanken nach. Sie denkt an ihre Kindheit, ihre Arbeit, die im Winter nicht so gut läuft, an die Kolleginnen, das Fernsehprogramm und an die unappetitlichsten Freier: »Ich hab ja so ’ne Art Skala, dreckige Nägel und fauliger Atem ganz oben, nimmt sich aber alles nichts. Nicht viel. Und beim Atem gibt’s ja auch noch ’ne Unterskala. Wenn sie dich anjapsen, muss man sich so gekonnt wegdrehen, also den Kopf, dass es nicht unhöflich wirkt. Ich habe ’ne Flasche Mundwasser im Bad stehen, aber das ist eher selten, also nie, dass die mal einer benutzt.« Ihre Gedanken fliegen schnell von einem Thema zum nächsten.
Ebenso schnell treten auch die Figuren des Buches auf, manchmal haben sie nur einen kurzen Auftritt in einem Kapitel und verschwinden wieder, oder sie tauchen wie der »Vermieter der Liebe« immer wieder auf.
Arnie Kraushaar, genannt »AK«, der Zimmer an Prostituierte vermietet, liegt angeschossen auf der Straße. Auch seine Gedanken huschen von einem Thema zum nächsten, immer wieder in die Vergangenheit und zurück auf die Straße: Kindheit, die »Mädels«, die Konkurrenz, die Zeit nach der Wende, als die Bosse und Zuhälter aus dem Westen kamen.
Ein ehemaliger Jockey sucht seine minderjärige Tochter, die vor vier Jahren verschwunden ist. Er ist unterwegs in der Rotlichtszene Deutschlands und bekommt das ganze Elend zu sehen. Dann sind da noch Hans Pieszeck, der Bordellbetreiber, und immer wieder Prostituierte mit Namen wie Mandy, Babsi und Sabine. Viele bleiben namenlos.
Ein Polizist besucht immer wieder dieselbe Prostituierte, obwohl er nicht so genau weiß, warum. Mit ihm setzt eine Krimihandlung ein, denn er bearbeitet einen Fall mit drei Leichen, die in einem Sumpf gefunden wurden. Doch bald verliert sich diese Spur im Roman und der kriminalistische rote Faden der Handlung sinkt zurück ins Moor.
Meyer lässt seine Figuren sinnieren und ihre Gedanken fliegen; es gibt massenweise Zitate etwa aus Donald-Duck-Comics, Kinderliedern, Romanen; auch Marx’ »Kapital« ist dabei. Ebenso ein paar dürre Auszüge aus Polizeiakten und Justizparagraphen. Es gibt Stichworte, die nicht einfach zuzuordnen sind, sowie immer wieder Abkürzungen von Namen, wie man dies unter langjährigen Kumpels kennt, und Codes für Sexpraktiken, mit denen die Ware Frau beworben wird: »Anna (24) & Babsi (23). Zwei süße Mädels vom Lande. 9.00 – 23.00. Französisch ohne, GV, Kuscheln, KB, Dildospiele, heißer Duschspaß, NS, Mehrfachentspannung.«
Eine verschlüsselte Gesellschaft mit einem System, aus dem auszubrechen schwer ist, eine Gesellschaft mit eigenen Vorschriften und Regeln. »Magda«, heißt es, »überlegt, ob sie AV anbieten soll in ihren Annoncen oder ob das unfair Lilli gegenüber wäre, müssten sie aber sowieso absprechen. Lilli würde das nicht machen, das weiß Magda, sie selbst hat’s paarmal gemacht, aber noch nie mit Gästen, aber wenn sie die Annoncen in den Zeitungen durchblättert, sieht sie, dass das immer öfter angeboten wird.«
Für den Leser ist der Roman teilweise schwer zu entschlüsseln. Nur der Autor ist allwissend.In Interviews betont Meyer, dass er es dem Leser nicht zu einfach machen will und das Lesen eine Herausforderung und Anstrengung darstellen soll. Das hat er geschafft. Er selbst hat nach eigenem Bekunden viele Jahre recherchiert, sich mit dem Thema beschäftigt und mit vielen Prostituierten gesprochen.
Anders war dies noch bei seinem 2006 erschienen Roman »Als wir träumten«, der autobiographisch geprägt ist und keine so intensive Recherche verlangte. Meyer, der 1977 in Halle geboren wurde und in Leipzig aufgewachsen ist, beschreibt darin das Leben einer ostdeutschen Jungenclique in der Zeit nach der Wende, als alles möglich schien und vieles aus dem Ruder lief. Im neuen Roman hat er dagegen seine Rechercheergebnisse literarisch verdichtet; deshalb solle das Buch, so der Autor, auch nicht »überrealistisch« betrachtet werden. Dennoch flicht er immer wieder Fakten wie etwa die zum Prostitutionsgesetz von 2002 ein, von dem man sicherlich mal gehört hat, aber dessen Auswirkungen nur teilweise bekannt sind. Nach diesem Gesetz sind die Frauen selbständige Dienstleiterinnen und das Gewerbe ist nicht mehr »sittenwidrig«. Prostituierte dürfen nun offiziell Geld für ihre Leistungen verlangen und können zudem in die gesetzliche Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung einzahlen, müssen aber auch Umsatz- und Einkommenssteuer abführen. »Umsatz 9,125 Milliarden Euro. Wie Sie sehen, geht es hier um Summen und Zahlen, die wir unter unsere Kontrolle bringen müssen, nichts anderes kann das Ziel sein. (…) Die Syndikate müssen weiter existieren, aber wir müssen abkassieren! (Finanzamt I, Sektion B2, Raum 001)«, heißt es dazu im Roman.
Das Gesetz ist auch bei Frauenorganisationen umstritten, kritisiert wird, dass es nun noch schwerer sei, in der Grauzone von legaler und illegaler Prostitution gegen menschenverachtende Ausbeutungsverhältnisse vorzugehen.
Meyer lässt seine Protagonisten zu Wort kommen, ausufernd, faszinierend; jede Figur hat ihren eigenen Slang und Tonfall. Die Handlung, zeitweilig die eines Krimis, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist der Einblick in eine Welt, die ansonsten verschlossen ist, und die Wahrnehmung einer kapitalistischen Normalität, die ebenso fremd wie bedrückend erscheint.

Clemens Meyer: Im Stein. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2013, 560 Seiten, 22,90 Euro