Auf den Spuren von »Diana«, der Rächerin der ermordeten Frauen im mexikanischen Ciudad Juárez

Mythen und Morde

Ciudad Juárez erlangte schon in den neunziger Jahren traurige Berühmtheit. Damals war die nicht abreißende Reihe von Morden an Frauen in der mexikanischen Grenzstadt Anlass für die Entstehung des Begriffs »Femizid«. Nach dem scheinbaren Rückgang der Gewalt ist es still um Juárez geworden. Doch Frauen werden weiterhin ermordet – in einer Situation absoluter Straflosigkeit. »Diana, Jägerin der Busfahrer« nennt sich eine Rächerin misogyner Übergriffe.

»Hübsche Mädels fahren gratis – gegen Facebook-Kontakt oder Telefonnummer«, ist in Schnörkelschrift auf das Fenster neben der Fahrertür geschrieben. Die Wartenden erklimmen die hohen Stufen des Linienbusses und drücken dem Fahrer ihr Kleingeld in die Hand. Obwohl die weitläufige Wüstenstadt Ciudad Juárez an der Nordgrenze Mexikos für den Autoverkehr geschaffen ist, können sich nicht alle ein privates Fahrzeug leisten. Ein Großteil der armen Bevölkerung ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, um in zwei Stunden Fahrt von den staubigen Wohnvierteln im Westen zu den klimatisierten Weltmarktfabriken im Süden und Osten zu gelangen. Dort bilden Frauen immer noch die Mehrheit der Arbeitskräfte.
»Immer wieder wurden Vergewaltigungen durch Fahrer angezeigt, von Frauen, die spätabends nach dem Schichtwechsel nach Hause fahren«, sagt Leobardo Alvarado, der als Herausgeber der alternativen Internetplattform »Ciudad Juárez Dialoga« die Geschehnisse verfolgt. »In einer Stadt, in der in den letzten zwei Jahrzehnten Frauen systematisch verschwunden und zu Tode gequält wurden, ist das jedoch keine große Meldung.«
So war es, bis Ende August dieses Jahres zwei Fahrer der gelb-weiß gestrichenen Busse der Route 4 entlang des Grenzverlaufes an aufeinander folgenden Tagen erschossen wurden. Nach Zeugenaussagen von derselben Frau. Ein vermeintliches Bekennerschreiben von »Diana, Jägerin der Busfahrer«, das das Internetmagazin La Polaka veröffentlichte, schlug wie eine Bombe ein. »Ich selbst und andere Frauen haben still gelitten, aber wir können nicht mehr schweigen«, schreibt »Diana, die Jagdgöttin«, wie sich die Verfasserin nennt. »Ich bin ein Instrument der Rache für so viele Frauen«, proklamiert sie.

»Diana« habe einen Sturm von Kommentaren im Netz ausgelöst, berichtet Alvarado. »Eines ist klar, die Menschen hier haben die Straflosigkeit satt, die Verstrickung der Behörden in Narcogewalt, Erpressungen, Verschwindenlassen, Frauenmorde.« In jeder Familie, in jedem Freundeskreis gebe es Tote und Verschwundene, berichtet der umtriebige juarensische Journalist, Schauspieler und Aktivist. Rund 6 000 Tote zählte die Stadt im Drogenkrieg. Die 300 Frauenmorde allein im Jahr 2010 gingen darin unter. »Viele Internet-User begrüßem deshalb Dianas Selbstjustiz, ziehen begeistert Vergleiche mit ›Kill Bill‹, beschimpfen Zeugen, mit deren Hilfe ein Phantombild erstellt wird, und wettern gegen die plötzliche Umtriebigkeit der Polizei.«
Alvarado, der selbst aussieht, als wäre er einem Film von Quentin Tarantino entsprungen, zweifelt am tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Morden und dem Bekennerschreiben. »La Polaka ist ein sehr umstrittenes Medium, das sich durch eine drastische Berichterstattung auszeichnet.« Trotzdem liest, wer informiert sein will, das Internetportal, denn Meldungen erscheinen hier stets zuallererst. Dessen Direktor, Jorge Luis Aguirre, wurde mittlerweile von mehreren Seiten unterstellt, »Dianas« E-Mail selbst verfasst zu haben. Es sei ihm zuzutrauen, so Alvarado knapp, und steigt in den weinrot-weißen Bus, der zur imposanten US-Botschaft, den neugebauten Hotels und Shoppingmalls fährt.
Auch Diana, die Jagdgöttin, ist dort anzutreffen. Goldschimmernd und mit nacktem Busen spannt sie ihren Bogen, zu ihren Füßen ein Reh. Die Statue vor dem gleichnamigen Edelrestaurant steht genau gegenüber dem Denkmal für Frauenmorde. Dahinter ragt – einem makabren Scherz gleich – das Hotel »Conquistador« gen Wüstenhimmel. Eine Farce, wie das Denkmal selbst, das der mexikanische Staat als Buße für den Schuldspruch vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof im Jahre 2009 errichtete.
»Mit Diana wurde ein neuer Mythos geboren«, erzählt Ricardo Vigueras von der Autonomen Universität von Ciudad Juárez. »Die Jagdgöttin Diana, oder vormals die griechische Artemis, bat Zeus um ewige Jungfräulichkeit für sich und ihren Hofstaat von Nymphen. Werden diese vergewaltigt, nimmt sie grausam Rache.« Als Literaturwissenschaftler kennt sich Vigueras mit Mythen aus. Diana folge einer langen Tradition von Rächern der Armen und Schutzlosen in der Grenzregion, sagt er. Wie Malverde, der Großgrundbesitzer bestahl und heute von Narcos als Heiliger verehrt wird. Oder die Adelitas, Frauen, die im Revolu­tionsheer Pancho Villas für »Land und Freiheit« kämpften, das bei Ciudad Juárez die Regierungstruppen besiegte. »In einer Situation der Ohnmacht tut es gut, sich auf alte Mythen zu besinnen«, erklärt der Spanier mit Stoppelbart, der seit 18 Jahren in der mexikanischen Grenzstadt lebt. Auch während der Eskalation des Drogenkriegs ist er geblieben, als Ciudad Juárez zur »gefährlichsten Stadt der Welt« erklärt wurde. Als vor Grundschulen geschossen wurde. Als Privatpartys von Killern gestürmt wurden, die Studierende hinrichteten. Und als eine junge Studentin vom Universitätscampus verschwand. Vigueras hat viele dieser Geschehnisse in seinem Roman »Das Blut der Jungfrau« verarbeitet.

Die Stadt südlich des Río Grande wandelte sich seit den siebziger Jahren vom beliebten Ausflugsort zur technologischen Boomtown. Im Rahmen des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta siedelten sich noch mehr US-amerikanische Unternehmen an und Hunderttausende Migrantinnen zogen aus Südmexiko zu – oder strandeten an der hochgerüsteten Grenze. »Juárez wurde zum Barometer dafür, wie sich die gesamte Region unter dem Einfluss des Weltmarkts und schließlich der organisierten Kriminalität verändern würde«, so Vigueras. Rapide veränderten sich auch die Geschlechterverhältnisse, weil vor allem junge Frauen ein Einkommen aus den Weltmarktfabriken bezogen und selbstbewusst im öffentlichen Raum verkehrten. Der Machismus ging zum Gegenangriff nach der Spätschicht über. Vigueras zieht seinen weißen Leinenhut in die Stirn: »Auf eine Rächerin wie Diana haben die Menschen angesichts so vieler frauenfeindlicher Attacken und Morde lange gewartet.«
Nun ist der griechische Mythos in Ciudad Juárez angekommen. Dort, wo heute rosa gestrichene Holzkreuze, die Symbole des Femizids, hinter der ellenlangen wellenförmigen Mauer des staat­lichen Denkmals versteckt wurden. Mit keinem Schriftzug wird von außen darauf hingewiesen, welche Bedeutung dieser Ort hat, dass er keine Parkanlage ist. Dass hier einst auf einem Baumwollfeld außerhalb der Stadt acht Frauenkörper gefunden wurden. Ins Visier gerieten damals ebenfalls zwei Busfahrer, die unter Folter gestanden. Einer starb unter mysteriösen Umständen im Gefängnis. Sein Anwalt wurde von der Polizei in angeblicher Notwehr erschossen. Die syste­matischen Frauenmorde gingen weiter. Auch nachdem der mexikanische Staat wegen offensicht­licher Verstrickung seiner Behörden international verurteilt worden war.
Die Frauen von der Angehörigenorganisation »Mütter vereint für unsere Töchter« wollen nicht zum Denkmal hinauskommen. Sie wollen lieber darüber sprechen, welche Auflagen des Gerichtshofs nie vom mexikanischen Staat erfüllt wurden, beispielsweise Großeinsätze in den ersten 24 Stunden nach einem Verschwinden durchzuführen. In den ersten acht Monaten dieses Jahres soll es schon fast 400 solcher Fälle gegeben haben. »Nach wie vor werden junge Frauen in Ciudad Juárez entführt und tauchen nie wieder auf. Sie geben uns Knochen und Körperteile zurück, aber unsere Töchter waren mehr als das«, sagt Norma Laguna. Gemeinsam mit Susana Montes und Olga Esparza sitzt sie aufrecht am Tisch eines heimeligen Wohnzimmers. Sie tragen T-Shirts mit Namen und Antlitz ihrer verschwundenen Töchter Guadalupe, Idali und Monica. Ihre Augen sind verschwollen.
Sie berichten von den verbliebenen Geschwisterkindern, denen sie in ihrem Schmerz kaum Lie­be geben können. Von Ehemännern, die ein neues Leben abseits der Trauer suchen. Von Nachforschungen, die sie selbst anstellen, da Polizei und Staatsanwaltschaft keinen Finger rühren. »Gerade wurde eine Bande von Menschenhändlern im Zentrum festgenommen. Alles auf Hinweise von Müttern hin.« Die Polizei hingegen versuche, Verschwundene zu diskreditieren, bringe sie mit Drogen in Zusammenhang. »Zurückgebracht haben sie noch kein einziges Mädchen.«
Dann müssen Norma und Susana los, die Busse nehmen, die sie auf die Hügel der Stadt im Westen bringen. Vorbei an Werbeanzeigen, Ampeln, Tankstellen, Fastfood-Restaurants. Dorthin, wo die breiten Asphaltstraßen irgendwann zu Staubpisten werden und Second-Hand-Kleidung, gebrauchte Haushaltsgeräte und Kuscheltiere an Zäunen aus Paletten feilgeboten werden. Wie zum Ausgleich für Armut und Entbehrung zeigt der hohe Wüstenhimmel am späten Nachmittag atemberaubende pastellfarbene Wolkenformationen. Früher wurde er in Farbenpracht von der Neonreklame im Zentrum übertroffen, heißt es.
Die Avenida Juárez, vor dem Drogenkrieg eine gut besuchte Ausgehmeile für Tagestouristen aus den USA, ist mit abblätternden Suchanzeigen von Verschwundenen zugeklebt. Junge Frauen und Mädchen, Gesichter, die lächelnd in die Kamera schauen, dunkle lange Haare, große strahlende Augen. Fotos von Geburtstagen und Schulfeiern, die niemals ein letztes Zeugnis sein sollten. Vor der Grenzbrücke, die nach Texas führt, steht ein wei­teres Mahnmal, ein hohes rosa Holzkreuz, übersät mit fingerdicken Nägeln, an denen vergilbte Zettel mit Namen von Verschwundenen hängen.

Marisela Ortiz lebt nicht freiwillig auf der anderen Seite der Grenze, in El Paso, einer Stadt, die an­gesichts der belebten Straßen von Juárez verschlafen wirkt. Seit zweieinhalb Jahren befindet sie sich im Exil. Nach Mexiko zurück kann die Lehrerin nicht, die die renommierte Organisation »Nuestras hijas de regreso a casa« (Unsere Töchter zurück nach Hause, NHRC) gründete, die 2001 die Frauenmorde vor den Interamerikanischen Gerichtshof brachte. Mariselas Schwiegersohn und ihr Bruder wurden in den vergangenen Jahren ermordet, ihre Mitstreiterin Norma Andrade überlebte mit fünf Kugeln im Körper eine Attacke. Denn eine Aufklärung der Femizide ist nicht gewünscht: »Die Regierung vertuscht, dass sie Teil des organisierten Verbrechens ist.« In die Frauenmorde seien beliebte Lokalpolitiker und hochstehende Persönlichkeiten involviert, so Ortiz. »Sie lassen junge Frauen verschwinden, um sie zu quälen und zu töten, und es gibt Zeuginnen dafür.« Doch es seien große Summen an einflussreiche Medien gezahlt worden, damit diese nicht darüber, sondern von angeblichen Ermittlungserfolgen berichten. »Verbrechen werden geleugnet, Zahlen geschönt.« NHRC zählt seit Anfang der Neunziger bis Juli 2013 insgesamt 1 441 Frauenmorde in Juárez.
Auch Ortiz könnte eine Rachegöttin à la Diana sein: schwarze Haare, schwarzgeschminkte Augen, ein schwarzes langes Kleid. Doch mit ihrer Arbeit gibt sie vor allem eines: Hoffnung. Mit dem Projekt »Esperanza« unterstützt sie die Kinder von ermordeten und verschwundenen Frauen. Diese landen oft in Waisenhäusern oder bleiben bei den von Trauma und Verlust selbst stark gezeichneten Großmüttern zurück. Viele Stunden des Tages verbringt Ortiz damit, Angehörige auf der anderen Seite der Grenze am Telefon zu beraten.
Währenddessen reißen die Morde nicht ab. »In diesem Land ist es ein Geschäft, jemanden umzubringen«, sagt die Menschenrechtsaktivistin. Viele sagen, die Juniors, die junge Generation des Juárez-Kartells, hätten die Frauenmorde als Initi­ationsritual eingeführt: Denn wer alle Werte über Bord wirft und eine Frau, eine Mutter  – eine Heilige in der mexikanischen Kultur – unter Qualen umbringt, werde jeden umbringen, so heißt es. »Die absolute Straflosigkeit jedoch, die von Behördenseite aufrechterhalten und zu Hochzeiten des Drogenkriegs zum Allgemeinzustand wurde, suggeriert auch Männern außerhalb der Kartelle die Möglichkeit, Frauen in ihrem Umfeld ohne Angst vor Strafe umzubringen zu können«, so Ortiz.
Wie die Dichterin und Aktivistin Susana Chávez, die im Januar 2011 von Bekannten in ihrem eigenen Haus vergewaltigt, ermordet und mit einer abgehackten Hand zurückgelassen wurde. Fälle wie dieser lassen junge Frauen in Juárez mit Vorsicht ihr Privatleben angehen. Viele Freundinnen haben ausgeklügelte Meldesysteme entwickelt, um sich beim Ausgehen am Wochenende gegenseitig abzusichern. Die »Batallones Femininos«, eine rein weibliche lokale HipHop-Crew, sind das beste Beispiel dafür, dass sich Mädchen und Frauen in Ciudad Juárez dennoch nicht einschüchtern lassen. Und zum Schweigen bringen erst recht nicht. »Wenn meine Nachbarinnen verschwinden, muss ich erzählen, wie es ist, in einer solchen Stadt als Frau zu leben«, sagt Dilemma und justiert die schwarze Baseballkappe auf den langen Haaren. Ihr Ansatz ist Empowerment. Im Kulturprojekt in ihrem Viertel – und als Vorbild für viele junge Mädchen, die bei Auftritten auf die Bühne springen, um die Namen der Fundorte von toten Frauen mit ihr ins Mikro zu schreien.
Im Sonnenuntergang haben sich die Rapper­innen auf der mexikanischen Seite der Grenze zur Aufnahme eines Videos vor der schwarzen Eisenbahnbrücke eingefunden. Die Lead-Sängerin hat sich Oveja Negra genannt, das schwarze Schaf, und hält rein gar nichts vom Trubel um »Diana, Jägerin der Busfahrer«: »Eine Presseente mit tot­ernstem Hintergrund. Auch die Boulevardzeitung PM hat in den letzten Wochen nicht mehr über Frauen berichtet, die in den Außenvierteln der Stadt verbrannt, erstochen, erwürgt wurden. Alles stürzt sich auf Diana.« Sogar Laura Bozzo, die skandal­trächtigste Fernsehmoderatorin ­Lateinamerikas, reiste an, um sie vor die Kamera zu holen.
»Während Diana durch die Medien spukte, hat der aus dem Amt scheidende Bürgermeister Héctor ›Teto‹ Murguía seine Pfründe gesichert«, so Oveja Negra. Ihm und seinem berüchtigten Sicherheitsbeauftragten Julián Leyzaola sollen Bodyguards aus Steuergeldern bezahlt werden – aus Dank, die Stadt befriedet zu haben. Die Batallones Femininos zweifeln diese Behauptung an. »Diana sollte sich sputen. Als ernstzunehmende Rächerin muss sie schon noch ein paar mehr umbringen!« bemerkt Oveja spitz. Doch Dilemma ist nicht zu Scherzen aufgelegt: »Ist es das, was wir wollen? Selbstjustiz? Wir wollen einfach als junge Frauen auf die Straße gehen können – zu jeder Tages- und Nachtzeit –, ohne Angst davor haben zu müssen, in der Wüste verscharrt zu werden.« Das ­Video ist abgedreht, die HipHop-Künstlerinnen brechen auf. Steigen in Busse, die sie in die verschiedenen Viertel im Westen, Osten und Süden bringen. Vorbei an den flimmernden Lichtern der Grenzstadt.