Das Festival zum 20jährigen Bestehen der Werkleitz-Gesellschaft

Besser als du denkst

Die Werkleitz-Gesellschaft beschäftigt sich aus Anlass ihres 20jährigen Jubliäums mit dem Thema Utopien.

Industrieromantik in Halle an der Saale, wo die barocke Altstadt auf die Hochhäuser der Neustadt trifft: Die Technikhalle am Holzplatz, einstmals Anbau des inzwischen dichtgemachten Kar­stadt-Kaufhauses, stand leer. Jetzt werden hier noch bis zum 27. Oktober Kunstwerke gezeigt. Das Festival zum 20jährigen Bestehen der Werkleitz-Gesellschaft trägt den Titel »Utopien vermeiden« und erinnert damit an eine Neonleuchtschrift von Martin Conrath aus der ersten Werkleitz-Ausstellung 1993.
Es ist ungewöhnlich, dass sich das Werkleitz-Festival auf nur einen Ort konzentriert. In die Technikhalle musste man auf Grund des Hochwassers auf der Peißnitzinsel ausweichen. Da­zu wird der Gasometer Teil des Festivals, ein nahegelegener, wuchtiger Rundbau, aus dem die blaue Neonschrift des türkischen Künstlers Egemen Demirci leuchtet: »Die Dinge sind immer besser als du denkst/und schlimmer als sie sein könnten.« Für Hochwasseropfer gilt das wohl nur dann, wenn sie solche Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung gestellt bekommen. Der Halle gegenüber eine fensterblinde Klinkerfassade, daneben eine Arbeit der jemenitischen Künstlerin Salwa Aleryani mit dem Titel »In the Radius of a Rim«. Es handelt sich um einen Erdhaufen, der auf einer kleinen weißen Holztreppe zu beklettern ist und eine Licht- und Klanginstallation enthält. Im Foyer der Halle stehen Baumstämme, die den Beton zu tragen scheinen, die »Säulen des Atriums« nennt sie Festivalleiter Daniel Herrmann. Es gehe darum, Natur zu integrieren »in dieses krasse Beton-Moment«.
Es geht um Form und Material, um Anspruch und Wirklichkeit. Der Utopiebegriff lebt von solchen Spannungen. Utopien sind Orte, deren Sein mit dem gesellschaftlichen Zustand und der Möglichkeit seiner Veränderung zusammenhängt. Thomas Morus beschreibt Utopia als den Nicht-Ort und Eutopia als den schönen Ort. Alltagssprachlich meint man mit »utopisch« meist »unmöglich«, oder man misstraut der Utopie als Ausdruck von Gewalt und Ideologie, als Reise in die frohe Zukunft um jeden Preis. Dies ist die postsozialistische Situation, in der das Festival stattfindet.
Filmstudenten mit langen Haaren aus dem Westen hätten die alte Ziegelei gekauft, hieß es Anfang der neunziger Jahre in Werkleitz, einem kleinen Ort im damaligen Landkreis Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Anfangs vermutete man, es gehe um das Drehen von Pornos. Was sonst sollten Studenten aus Baden-Württemberg an einem so abgeschiedenen Ort wohl tun? Später sonnten sich alle im Ruhm der »Documenta des Ostens« (Ulrich Wickert), die aus der Kolonialisierung leerer Räume hervorging. »Wir wollten alles daransetzen, Hierarchien zu vermeiden«, erinnert sich Peter Zorn, einer der Gründer und heute im Vorstand der Gesellschaft, »wahrscheinlich deswegen, weil jeder der Chef sein wollte.« Das Individuum, im Kapitalismus zur Selbstverwirklichung gezwungen, versucht sich in ein System zu integrieren, das diese Selbstverwirklichung einschränkt. Utopien haben den Anspruch, Individuum und Gesellschaft zu versöhnen, einen Ort für das gute Leben zu ersinnen. Beschreibt die Aufforderung, Utopien zu vermeiden, die Uneinlösbarkeit dieses Anspruchs? Ist das Kritik oder Resignation? Mit diesen Fragen im Kopf wird der Besuch der Ausstellungseröffnung zur Suche nach etwas Verbindendem, das zeigen soll, um welche Utopiekonzepte es hier geht.
Nichts erklärt sich hier von selbst. Die Ausstellung wird von Künstlergesprächen begleitet, doch am Eröffnungsabend gilt es erst einmal sich alleine mit den Werken vertraut zu machen, eingestimmt durch eine Materialsammlung im Foyer, sorry, im Atrium. Dort liegt die Standardlektüre zum Thema ausgebreitet: Die Philosophen Platon und Campanella, die Satiriker Butler und Swift, der Reformer Morus und der Sozialist Bloch. Etwas Rabelais hätte noch gutgetan. Es gibt hier viel blaues Licht, viel Projektion, aber wenig Sinnlichkeit.
Ein Motiv der Ausstellung ist die Gewalt der Form. Barbara Cavengs »Heaven Heaven Heaven« ist eine Kalaschnikow aus menschlichen Knochen gebastelt, hier hat sich die Form ihr Material geschaffen, den technischen Entwurf aus den Überbleibseln des Ausgelöschten nachgestellt. Die Form, die sich jegliches Material aneignen kann, nämlich die des Kapitalismus, zeigt Sven Johne in »Some Engels«, einem Casting von Schauspielern für die Rolle des Friedrich Engels. Ein weiteres Motiv ist der gescheiterte Entwurf, der Verlust des Bildes. Eine Fotoserie zeigt die leeren Halterungen der seit 2010 in São Paulo verbotenen Werbetafeln. Der Verlust des Reklamebildes hat ein progressives Moment. Reklame ist der Ausverkauf der Einbildungskraft.
Ein anderes Motiv ist das verlorene und wiedergewonnene Paradies. Hier trifft sich die Romantik mit dem Realsozialismus, die verklärte Vergangenheit mit den Trümmern der Zukunft. Hier wird es auch unterhaltsam mit dem ungarischen Performance-Künstler Bálint Szombathy, der mit »Dancing On My Life« die eigent­liche Ausstellung eröffnet.
Die Vorstellung, auf dem eigenen Leben zu tanzen, vermittelt Leichtigkeit, Überlegenheit, Freiheit. Szombathy tanzt auf den Trümmern seiner ererbten elektronischen Geräte. Die eingespeicherten Projektionen sind die aufgehobene Lebenszeit. Sie zu verlieren, bedeutet auch einen Verlust der Vergangenheit: Begleitend zu seinem Tanz wirft Szombathy eine Projektion seiner selbst an die Wand, wie er denselben Tanz tanzt, dort in einem festlich geschmückten Saal, jetzt in einer leeren Halle. Er spielt die Macht des Gespeicherten gegen die eigene Schönheit und die Aura der Artefakte aus, hält ein altes Grammophon hoch: »Soll ich es zerstören?« Nein, rufen die meisten, dann zunehmende Ja-Rufe, eine gewisse blutlüsterne Zirkusstimmung macht sich breit. Szombathy macht die entsprechende Geste: Daumen hoch? Daumen runter? Das Grammophon hat keine Chance. Kann sinnliche Freude am Zerstören auch befreiend wirken?
Utopien sind nicht nur ein Spiegel der Zukunft, sondern auch ein Umgang mit der Erinnerung. Die Einbildungskraft braucht einen Ausgangspunkt, sie kann nichts aus dem Nichts schaffen. Der ideale Entwurf bleibt leer, setzt man ihn mit Gewalt um, zwingt man dem widerständigen Material eine Form auf, die in ihrer Perfektion grausam wird. Das ist die Gren­ze, die den Raum zurechtschneidet. Die audiovisuelle Performance »Dream Cargoes« zeigt ei­ne apokalyptische Landschaft in fließender Transformation. Träume werden hinübergebracht von einem Ufer zum anderen, die Frage, was sich retten lässt, die Frage, wohin die Flucht gehen kann. Lampedusa und B. Travens »Totenschiff« spielen hier herein: Die Flüchtenden, die »Sans Papiers«, die zwischen den scharf gezogenen Grenzen und den klar entworfenen Formen verloren sind und zugrunde gehen.
Der kritische Anspruch von »Utopien vermeiden« wird in der Konstellation dieser Werke durchaus erfüllt. Aber im Vermeiden als Umgehen und Ausweichen hätte noch ein spielerischer Umgang auftauchen können, der sich in den letzten Jahren in vielen Taschen-Utopien manifestiert hat. Hier scheint ein neues Utopieverständnis aufzukommen, in dem das postkapitalistische Individuum mit all seinen Ansprüchen und Beschädigungen versucht, aus der Vereinzelung und Ausbeutung heraus wieder Orte der Gemeinschaft und Nachhaltigkeit zu schaffen.
Das Interesse daran zeigt sich etwa in der völlig überbuchten Konferenz »Ohnmächtige Sehnsucht. Zum Verlust utopischen Denkens in der Spätmoderne«, die im November an der Freien Universität Berlin stattfindet. Isabelle Fremeaux und John Jordan haben 2012 »Pfade durch Utopia« geschrieben und gefilmt, in dem sie genau die konkreten Orte des Utopischen in Europa besuchen und von ihnen berichten. Paul Poets Film »Empire Me« (2011) handelt von winzigen Territorialstaaten, unabhängigen Königreichen und Kommunen. An diesen Beispielen, die man durchaus kritisch sehen kann, lassen sich Wege von der ohnmächtigen Sehnsucht zu einer Ermächtigung ablesen. Gestaltungswille kommt im Kleinen auf, nicht in der Biedermeierstimmung, die sich als Rückzug ins Private manifestiert, sondern in konkreten, fassbaren Ideen an konkreten, überschaubaren Orten.
In diesem Sinne bleibt der Umgang mit dem Utopischen etwas einseitig. Vermeidungsstrategien haben immer etwas Stagnierendes, Passiv-Aggressives. Utopien ganz zu vermeiden hieße zwar, Fehler zu vermeiden, aber es würde auch bedeuten, den Anspruch der Wirklichkeit selbst zu umgehen.

Utopien vermeiden. Werkleitz-Jubiläums-Festival.
sHalle (Saale). Bis 27. Oktober