Antwort auf den Schwerpunkt der vorigen Jungle World, »Deutsche Dörfer«

Das sind nicht die Neunziger, Baby!

Im Schwerpunkt der vorigen Jungle World-Ausgabe wurde behauptet, »in deutschen Dörfern und Städten« tobe »ein rassistischer Furor«, und zwar »klassenübergreifend, vom abgebrannten Hellersdorfer bis zur gutsituierten Traunsteinerin«. Diese allzu grobschlächtige These übersieht, wie unterschiedlich die Entwicklungen an verschiedenen Orten sind.

15 000 Menschen demonstrierten am 2. November in Hamburg gegen den Umgang des Senats mit rund 300 afrikanischen Flüchtlingen, die ursprünglich über die italienische Insel Lampedusa nach Europa gekommen waren und nun seit Monaten in der Hansestadt gestrandet sind. Seit Wochen schon dauert in Hamburg der Protest gegen die als rassistisch wahrgenommenen Personenkontrollen der Polizei an, mit denen Ausländer- und Innenbehörde die Flüchtlinge aufspüren wollen. Angeblich, um diesen bei einer »Lösung« ihres ungeklärten Status zu helfen – in Wirklichkeit jedoch, um ihre Abschiebungen vorzubereiten, so mutmaßen jedenfalls die Flüchtlingsgruppe selbst und ihre Unterstützer.
Letztere sind, wie gesagt, zahlreich: Bereits vor der großen Demonstration gab es innerhalb kurzer Zeit beinahe im Tagesrhythmus spontane Proteste gegen den SPD-Senat, mal mit 300, nach einem Fußballspiel des Zweitligisten FC Sankt Pauli aber auch schon mit geschätzt 8 000 Teilnehmern. Auch beim großen HSV, der sich keiner besonders linken Fantradition rühmt, hingen in den Fankurven Solidaritätsbanner für die Flüchtlinge. Die Beteiligung geht also deutlich über den Kreis der üblichen Verdächtigen aus antirassistischen Initiativen, Flüchtlingshilfegruppen und linksradikalen Politaktivisten hinaus.

So konnte man auch ein zum Teil sichtlich empörtes Opernpublikum bewundern, das auf dem Weg zu Arien und Chören aus Versehen in eine Spontandemonstration auf dem Gänsemarkt in der Hamburger Innenstadt gestolpert war. Der Zorn der Bürgerinnen und Bürger am Champagnertresen richtete sich allerdings keinesfalls gegen die Demonstrierenden, sondern gegen »die undemokratische Politik der SPD«, wie eine kulturbeflissene Mittvierzigerin im Abendkleid unter allgemeiner Zustimmung bemerkte. Viele Hamburger Kulturinstitutionen sammeln seit Wochen nach jeder Vorstellung Geld für die Flüchtlinge, die seit Monaten in einer Kirche schlafen – mit Unterstützung des lokalen Pfarrers. Die Solidarität mit den vor dem libyschen Bürgerkrieg Geflüchteten reicht bis weit in die bürgerlichen Kreise der Hansestadt.
Mit seiner harten Linie punktet Innensenator Michael Neumann (SPD) vor allem in anonymen Internetforen, die immer mehr zum Ventil derjenigen zu verkommen scheinen, die ohnehin nur die Gelegenheit suchen, ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Mit der politischen Realität in der Stadt hat diese Gruppe dagegen wenig zu tun. Die SPD jedenfalls schoss ein klassisches Eigentor und erntete bundesweit vorübergehend besetzte Parteizentralen – als Zeichen der Solidarität mit der Hamburger Flüchtlingsgruppe.

In der vorigen Ausgabe der Jungle World hingegen wurden Anwohner des Hamburger Stadtteils Wandsbek als Beleg für eine vermeintliche »Graswurzelbewegung« herbeizitiert, die »slumartige Zustände« und den Preisverfall ihrer Immobilien befürchteten. Allerdings handelt es sich dabei um keine wie auch immer geartete »Bewegung« – es gibt noch nicht mal eine Bürgerinitiative. Die Zitate stammen aus einem Artikel eines lokalen Anzeigenblatts, das über eine vom Bezirk einberufene Infoveranstaltung berichtet, zu der 300 Anwohner erschienen (zum Vergleich: Wandsbek hat mehr als 415 000 Einwohner). Dass zu einer solchen Veranstaltung eher diejenigen erscheinen, die etwas zu meckern haben, ist eine Binsenweisheit, denn wer mit Flüchtlingen in der Nähe kein Problem hat, wird bessere Abendgestaltungen finden, als sich von der Bezirksverwaltung in einem Neonröhrensaal die Pläne zu deren Unterbringung erläutern zu lassen.
Gänzlich ausgeblendet wird im Artikel darüber hinaus, dass selbst das Wochenblatt zu berichten wusste, dass im Saal »auch Stimmen laut« wurden, die »Hilfe anbieten« wollten. Gleiches gilt auch für den ebenfalls zitierten ARD-Panorama-Beitrag, der unter anderem im niederbayerischen Salzweg spielte: Auch hier waren neben den beschriebenen »Wutbürgern« durchaus Stimmen vertreten, die der Meinung waren, man solle den Flüchtlingen gefälligst helfen. Bereits anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, dass sich Unterstützung und Ablehnung von Flüchtlingen an vielen Orten durchaus die Waage halten, in Hamburg ist die Mehrheit der öffentlichen Stimmen sogar längst auf Seiten der Geflüchteten.
Während es in sächsischen Käffern wie Schneeberg gelingen mag, 2 000 Hinterwäldler aus dem Erzgebirge vor den Karren der NPD zu spannen, sind die Nazis in großen Teilen der Republik weder kampagnen- noch mobilisierungsfähig. Anstatt über eine vermeintliche »Bürgerbewegung gegen Flüchtlinge« zu schwadronieren, die sich angeblich von »Brandenburg über Sachsen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen bis nach Bayern« ausbreite, sollte man sich daher lieber mal fragen, ob die »Ergebnisse einer Leserdebatte auf Focus Online« wirklich »aufschlussreiche« Quellen sind, die man für eine adäquate Analyse nutzen kann – oder nicht eher die Fortsetzung von »PI-News« mit anderen Mitteln, die man in ihrer Bedeutung maßlos überschätzt.

Der gesellschaftlichen Realität kommt man jedenfalls mit einer differenzierteren Betrachtung näher: So gibt es in keiner bedeutenden westdeutschen Großstadt derzeit eine relevante (und häufig sogar nicht mal eine irgendwie wahrnehmbare) Kampagne gegen Flüchtlinge – weder in München noch in Stuttgart, auch nicht in Nürnberg, Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Hannover oder Hamburg. Mithin spielen auch große Teile des Jungle World-Schwerpunkts eben doch in den »üblichen verdächtigen« Orten im Osten des Landes – und vor allem: auf dem platten Land.
Unrühmliche Ausnahme ist hier Berlin-Hellersdorf, was aber daran liegt, dass Berlin in diesen Fragen und in diesen Stadtteilen leider viel eher eine große Stadt in Ostdeutschland ist als die coole Hipstermetropole, die man zwischen Kollwitzplatz und Reuterkiez gerne simuliert. Berlin ist im Hinblick auf die Armut, die miese Erwerbsquote und die riesigen strukturellen Probleme eben genau nicht typisch, sondern im Vergleich zu den genannten Städten ein anderer Planet. Im aktuellen Prognos-Zukunftsatlas liegt die Stadt in der Kategorie Wohlstand von 402 Städten und Regionen in Deutschland auf Platz 400.
Echte Bürgerlichkeit fehlt somit genauso wie ökonomische Prosperität – und so werden die Flüchtlinge von einer durchaus rassistischen Wohnbevölkerung vor allem als Bedrohung des eigenen minimalen Lebensstandards wahrgenommen, der genau wie in Schneeberg, Greiz und anderswo sehr oft auf Hartz-IV-Niveau liegt. Letzteres entschuldigt nichts und niemanden, erklärt aber wesentlich besser, warum diese Mobilisierung in Hellersdorf möglich ist – und in Wandsbek eben überhaupt nicht.
Anlass zum Jubeln bieten natürlich dennoch weder die staatliche (EU-)Flüchtlingspolitik noch rassistisch motivierte Provinz-Proteste. Von einer übergreifenden völkischen Bewegung, die jenseits aller Schichten- und sonstiger Gegensätze eine breite rassistische Mobilisierung auf die Beine stellen könnte, kann aber keine Rede sein. In irgendwelchen Dörfern am Rande der Republik und auf den Klowänden des Internet mögen rassistische Wutbürger sich als Vollstrecker des Volkswillens fühlen – das war es dann aber auch.
Dort jedoch, wo die Entscheidungen getroffen werden, weiß man sehr wohl, dass nur Einwanderung im großen Maßstab der deutschen Wirtschaft bei der Verteidigung ihrer Weltmarktposi­tionen helfen wird – und darüber hinaus das einzige Mittel darstellt, um dem demographischen Wandel zu begegnen. Denn so sehr die Nazis sich anstellen mögen: Ihr sogenannter Volkstod kommt unausweichlich, da glücklicherweise immer weniger Frauen Lust haben, ihr halbes Leben der Kinderaufzucht zu widmen.
Weder Politik noch Wirtschaft noch große Teile des Bürgertums haben daher irgendein Interesse an einer breiten rassistischen Mobilisierung – ganz im Gegenteil. Daran ändert auch das elitäre Murren einiger Villenbesitzer in Bayern oder im Taunus nichts, die die Wirtschaft nun mit dem Kauf weiterer Alarmanlagen ankurbeln werden. Weil nicht der Volksmob die Geschicke des Staates lenkt, sondern die politischen und wirtschaftlichen Eliten, wird diese sogenannte Graswurzelbewegung keine Dynamik entfalten können. Umso weniger übrigens, je eher SPD, »Linke« und Grüne begreifen, dass es genau aus diesem Grund keine Ausweitung der Möglichkeit irgendwelcher »Bürgerbegehren« geben sollte – schon gar nicht auf Bundesebene.