Die Utopien der Kindheit

Die Hinterfotzigkeit des kindlichen Glücks

Zur gesellschaftlichen Relevanz der Utopie.

Das kindliche Spiel nimmt im Werk des argentinischen Autors Julio Cortázar eine zentrale Rolle ein. Das wohl bekannteste und zugleich deutlichste Beispiel diese Relevanz ist sein 1963 erschienerer Roman »Rayuela«. Hier spielt alles, und jeder mit jedem: Der Autor spielt mit seiner Leserin, indem er sie durch die Handlung springen lässt wie ein Kind beim Himmel-und-Hölle-Spiel (auf Spanisch: Rayuela); er spielt mit der Sprache und dem Format eines linearen, zusammenhängenden Textes; die Figuren des Romans spielen untereinander, indem sie sich in den letzten Winkeln von Paris suchen (»Ob ich die Maga finden würde?« heißt der berühmte erste Satz des Romans).
Das Spiel ist für Cortázar, der in seiner Frühphase kein Ideologe und in seiner Spätphase ein glühender Anhänger der lateinamerikanischen Revolutionen, aber nie politischer Theoretiker war, ein Refugium des Menschen. In seiner Flucht vor Rationalität und Kausalität der Moderne, der totalen Unterwerfung des Seins unter die Logik, wird das Spiel zum Vehikel, sich auf »die andere Seite« (so auch der Titel des zweiten von insgesamt drei Teilabschnitten in »Rayuela«) der Selbstvergessenheit zu retten.
Eine attraktive Thematik, besonders für Heranwachsende, die sich allmählich der Beschissenheit der Verhältnisse bewusst werden. Und so ist seit der Erstveröffentlichung 1963 die Lektüre von »Rayuela« für mehrere Generationen eben dieser Heranwachsender ein Türöffner in das imaginäre Paradies des Bohemiens gewesen. Cortázar findet auf seiner Suche nach der nicht vernunftdominierten Welt den Zen-Buddhismus, die Anfänge der Beat-Generation, die Pataphysik, die Jazz-Musik und Boxkämpfe. Er war, möchte man sagen, eben auch nur Kind einer Generation, die begann, schnelle Antworten auf den Kapitalismus in fernöstlicher Spiritualität, antiautoritären Strukturen und der Verherrlichung des Naturzustandes zu suchen.
Die materialistische Seite der kapitalistischen Vergesellschaftung und deren Folgen hingegen fasst der Bohemien Cortázar nicht ins Auge. Der bei Cortázar explizite Wunsch beziehungsweise das Bedürfnis, sich auf die andere Seite »hinüberzuretten«, ebenso wie das notwendige Scheitern dieses Versuchs, deckt jedoch ein zentrales Element unserer Vergesellschaftung auf: Das kindliche Spiel hat als Überbleibsel erfahren geglaubten Glücks für die Erwachsenenwelt eine enorme Bedeutung, die wiederum in die Welt der Kinder und ihre »Persönlichkeitsformung« zurückwirkt.

Kindliches Glück – Glück der Kindheit

Common Sense ist, dass die Kindheit besonders schützenswert ist, dass sie im Idealfall »behütet« und »unbeschwert« sein sollte. Normativ festgehalten ist diese Auffassung beispielsweise in der UN-Kinderrechtskonvention oder in den bürgerlichen Gesetzbüchern. Und die meisten Menschen im Kapitalismus dürften ihre Kindheit zumindest retrospektiv und teilweise als etwas Schönes empfunden haben. Dies kontrastiert mit der Realität des Erwachsenen, der dem Kind jene von ihm diagnostizierte Unbeschwertheit neidet, mit der es seine Welt um sich herum wahrnimmt, jenes Ausleben der Emotionen, Wut, Trauer, Freude, die nichts mit den Rollen der nichtidentischen Erwachsenenwelt gemein haben. Jenes Gefühl der Selbstvergessenheit, mit dem Kinder sich einem Objekt hingeben und die das Außen schier inexistent werden lässt. Das Spiel mit Alltagsgegenständen, das Imitieren des Lärmes der Welt mit einem Brummen oder Summen, der gespielte Dialog, das »in angenehmer Weise außer sich und gerade dadurch bei sich«-Sein (Kellner 2010, S. 207). Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden und dient letztlich nur dazu, jenes Gefühl genauer zu definieren, das schon nicht mehr in der Welt ist: Glück.
Denn das Glück der Kindheit ist für Erwachsene so weit entfernt wie die Erinnerungen an dieses selbst. Das Leben ist eben nicht mehr unbeschwert, die (Selbst-)Unterwerfung des Individuums unter die kapitalistischen Produktionszwänge fordert ihren Tribut: »Das Gesicht Nikitas oder das von Dwight oder von Charles oder von Francisco, das Aufwachen durch den Wecker, das Sichanziehen je nach Wind und Wetter« sind zu ertragen, was zur Folge hat, dass die beiden Welten qualitativ sowie auch praktisch hermetisch voneinander abgeriegelt sind.
Aber war dieses kindliche Glück je real? Wahrscheinlich nicht. Entscheidend scheint vielmehr die Tatsache, dass Glück in der Rückschau auf die Kindheit als solches wahrgenommen wird. Von dem Ausruf des Wunsches, »nochmal Kind zu sein«, würde sich freilich kaum jemand ernsthaft distanzieren, auch wenn es mehr ein vages Gefühl und anekdotenhafte Erinnerungen sind, die uns in das ­Bewusstsein »herüberscheinen« und als bruchstückhafte Erinnerung zu einer »Ahnung vom Glück« werden, ein »Eden«, das dem Einzelnen im Kapitalismus versagt bleiben muss, welches aber zugleich unser Denken und Handeln als Subjekte bestimmt. So schreibt Siegfried Bernfeld in »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung«: »Unsere erinnerte Kindheit ist aber weit entfernt davon, treue Erinnerung zu sein, sie ist Tendenz, entstanden in den tiefsten Seelenwirbeln des Lebens, festgehalten, ausgestaltet als Waffe gegen mächtige Feinde innerhalb der eigenen Seele.« (Bernfeld 1973, S. 32) Gerade diese Erinnerung, die, so Bernfeld weiter, nur »ein entstelltes, lückenhaftes Bild der eigenen Kindheit« darstellt, ist es, die es im Erwachsenenalter als idealisierte Erinnerung zur Ressource gegen eben jene »mächtigen Feinde« werden lässt, obwohl »solch lückenhaftes, entstelltes Bild von der eigenen Kindheit keine zulängliche Basis für wissenschaftliche Einsicht ist«.

Kindliches Glück als Triebmotor

Der marxistische Philosoph Ernst Bloch hat für das Bewusstsein kindlichen Glücks den Begriff »Heimat« gewählt und ihn an zentraler Stelle verwandt: Im »finale furioso«, ganz am Ende seines eineinhalbtausend Seiten starken Werkes »Das Prinzip Hoffung«, nimmt es eine zentrale Rolle als Utopie ein und wird zum Referenzmoment einer neuen Gesellschaft: »Hat er (der Mensch, D. G.) sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch 1985, S. 1628) (1)
Es soll an dieser Stelle nicht die Standhaftigkeit der Blochschen These diskutiert werden, inwieweit »die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur« aus der realen Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt werden kann. Interessant ist vielmehr, dass die einzige Querverbindung zur »wirklichen Genesis am Ende« jenes vage wahrgenommene Glück des Kindes ist.
Bloch formuliert damit in gewisser Weise ein Ziel, das im jetzigen Leben, wenn auch nur sehr schwach, so doch trotzdem real ist, was wiederum in einer »neuen« Welt vollends wirklich wird. Das kindliche Glück ist vielleicht eine Illusion, »in der noch niemand war«. Aber sie dient als Utopikum, das von Bloch deshalb benutzt wird, weil es jedem Menschen bekannt ist, und sei es nur als idealistische Überhöhung in der Rückschau.
Dieses Utopikum des Theoretikers Ernst Bloch ist es allerdings auch, von dem sich das vielen von uns wohl besser bekannte Glücksversprechen im Kapitalismus nährt: Auto und Eigenheim, Kinderkriegen und Patchwork­familie. Es ist genau dieses Herscheinen des Glücks, von dem das kapitalistische Glücksversprechen vorgibt, es zu sein, und welches das Individuum nicht bricht, sondern im Idealfall dazu bewegt, diesem Versprechen wieder und wieder hinterherzujagen. Gerade deshalb erweist sich die Freiheit zum Immergleichen nicht als hohl, weil sie sich an der unbewussten Überzeugung laben kann, schon einmal wahres Glück erfahren zu haben. Es sorgt dafür, dass wir angesichts der Zumutungen, die die Kapitalakkumulation mit sich bringt, eben nicht aufgeben, nicht resignieren und uns immer wieder in den Strudel werfen. Das in der Kindheit erfahrene Glück ist zu einem gewaltigen Teil dafür verantwortlich, dass wir uns, oftmals gar wider besseres Wissen, den Zwängen der Vergesellschaftung nicht nur unterwerfen, sondern ihnen auch noch immer und immer wieder die Stirn bieten und dem Befehl einer Düsseldorfer Popband gehorchen, aufzustehen, wenn wir am Boden liegen. Gleichzeitig bewahrt das Herscheinen des Glücks die meisten von uns auch davor, sich die Kugel zu geben oder über die nächste Hochhausklippe zu stürzen, und das, obwohl wir eigentlich wissen, dass das Versprechen nicht eingehalten werden wird. Adorno hat diese Utopie und ihre Scheinheiligkeit in der Musik Gustav Mahlers ausgemacht. Mahlers Musik, so Adorno, hält fest an »den Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein ihretwillen zu leben sich lohnte. Aber nicht weniger authentisch ist ihm das Bewusstsein, dass dies Glück verloren ist und erst als Verlorenes zum Glück wird, das es so nie war.« (Adorno 1977, S. 287) Die Hinterfotzigkeit des kindlichen Glücks besteht also vielmehr darin, existiert zu haben: Da alle meinen, in ihrer Kindheit zumindest zeitweise wirkliches Glück erfahren zu haben, ist das Hinterherjagen im Spätkapitalimsus eben keine Suche nach einem Goldeimer am Fuße des Regenbogens, sondern schlicht Verdammnis.

Glücksversprechen und Religion

»Außer sich und doch ganz bei sich zu sein« (Kellner 2010, S. 208), dieser Wunsch ist mittlerweile in der Mehrheitsgesellschaft angekommen. Völlig überrascht stellen ganze Gesellschaftsschichten fest, dass sie als Individuum sich seltsam »außer sich« fühlen und dass die materielle Welt, wie sie zwischen Kollegenfreunden und Home-Office so ist, nicht nur irreal scheint, sondern in ihrem Verlangen nach der vollständigen Hingabe ziemlich anstrengend ist. So ist es heute selbstverständlich, dass metaphysische Erfahrungen bewusst hergestellt werden.
Die Menschen meditieren, machen Yoga oder schließen sich Gruppierungen an, die sich den Spielarten der Esoterik hingeben. Jugend­liche lesen Paulo Coelho, Durchschnittsdreißiger praktizieren wie ihr Popidol Madonna die Kabbala, Mittfünfziger lesen Romane mit Küchentisch-Spiritualität und Rentner begeistern sich für den Hokuspokus eines Jürgen Fliege. Ein neues Bedürfnis nach Spiritualität ernährt mittlerweile mehrere Industriezweige, nur weil wir nicht in der Lage sind, »den verdammten Schuh« komplett durch die Tür zu ziehen; weil wir glauben, verlernt zu haben, wie es ist, selbstvergessen und sorgenfrei wie in unserer erinnerten Kindheit zu spielen.
Der Ausgangspunkt, der diesem Bedürfnis zu Grunde liegt, ist eben jenes bereits angesprochene Wissen um die Existenz des Glücks, und dass dieses niemals eintritt. Umso attraktiver wirken Rauschzustände und dementsprechend steigt die Nachfrage nach eben jene Zustände evozierenden Mitteln und Praktiken. Diese Nachfrage ist freilich so alt wie die Teilung der Gesellschaft in Klassen (Kellner 2010, S. 206), und es sind eben die Individuen selbst, die Spiritualität nachfragen (Opium des Volkes) und nicht die herrschenden Klassen, die, um noch einmal auf die bekannte Düsseldorfer Popband zurückzukommen, Religion als Opium für das Volk einsetzen, um es zu »betäuben«. Vor allem die Mittel zum Zweck geben dabei Aufschluss über die Gesellschaften. Die bewusste Herstellung von transzendierenden Bewusstseinszuständen birgt allerdings weniger ein umstürzlerisches Potential, als dass sie schlicht und einfach ein temporäres Ausklinken ermöglicht. In diesem Sinne unterscheiden sich esoterische Sitzkreise, die Massenanrufung des Heiligen Geistes und die Einnahme psychoaktiver Substanzen nur durch die Wahl des Mittels zum selben vermeintlichen Zweck. Denn es wäre töricht anzunehmen, dass eben jener transzendierende Zustand, jener Versuch der Wiederentdeckung des fernen kindlichen Glücks, nicht längst vom Zweck aufgezehrt worden wäre. Jedes Zeremoniell, sei es allabendlicher Gottesdienst, frühmorgendliche Gruppenmeditation oder eben der exzessreiche Freiluftrave, ist letztlich nicht mehr als »Urlaub von mir selbst« (Die Firma) oder »Urlaub fürs Gehirn« (K. I. Z.), der einen zwar möglicherweise in einen der kindlichen Selbstvergessenheit ähnlichen Zustand befördert, der aller dings stets damit verbunden ist, dass das Glück nicht, so wie für das Kind, unendlich ist. Denn spätestens am Ende der Gebetsstunde oder am schrecklichen Morgen danach muss das Individuum das Erfahrene in eine abstrakte, wenig greifbare Steigerung der produktiven Kraft übersetzt haben, will es langfristig nicht von den gesellschaftlichen Zwängen zu Grunde gerichtet werden. Diejenigen Charaktermasken, die Verständnis für die Selbstdiagnose des Individuums vorgeben, bieten dementsprechend bei aller Varietät lediglich Durchhalteparolen an: In einem Interview mit der FAZ diagnostizierte der populäre Psychologe Stephan Grünewald (»Deutschland auf der Couch«), welche Überraschung, eine »erschöpfte Gesellschaft«. Er rief angesichts dieser Diagnose dann allerdings nicht zum Umsturz der Verhältnisse auf, sondern vielmehr dazu, die Träume wieder in den Mittelpunkt zu rücken und sie als Ressource zu nutzen: »Die nächtlichen Träume können sehr kreativ und schöpferisch sein. Die Tagträume haben eher eine kompensatorische oder beschwichtigende Funktion. Ohne Tagträume könnten wir gar nicht bestehen, weil sie kränkende Erfahrungen korrigieren. Wenn wir merken, unser Chef beschimpft uns, können wir ihn im Tagtraum zur Schnecke machen. Oder wir schießen die Nationalelf in letzter Minute zum Sieg. Der Tagtraum lässt uns quasi triumphieren und ist ein Korrektiv gegen den gemeinen Alltag.« (Locke 2013)

»Die armen Kinder«

Das Gesicht des wenige Wochen alten Babys verrät, wenn überhaupt, eher Abneigung als Freude. Dessen große Schwester Kim hingegen hat das Lächeln auf Knopfdruck schon etwas besser raus. Beide sind von Eltern, Verwandten oder Freunden in ein Fotostudio geschleppt worden, wo ein Klick-Gewitter, begleitet von wärmenden, hellen Lampen, über sie ergangen ist.
Kim trägt ein weißes Kleid und einen weißen Hut, die durch die Schwarz-Weiß-Fotografie noch einmal besonders zur Geltung kommen. Sie lächelt das Zahnlückenlächeln einer Fünf­einhalbjährigen. Mit ihren Händen simuliert sie das Schieben eines Kinderwagens im Stil der zwanziger Jahre, in dem ihr kleines Geschwisterchen im Adamskleid liegt und etwas verdutzt zum Vater schaut, der hinter der ­Fotografin eifrig den Hampelmann am Samstagvormittag gibt, um den Blick in die Kamera zu provozieren.
Nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt ­bedurfte es keiner professionellen Fotografin. Das Bild aus der Digitalkamera reichte dem Fotostudio völlig. Die kleinen Gesichter der beiden Geschwister Aaron und Chantal mussten lediglich in das grellbunte Winnie-the-Poo-Bild montiert werden. Der zweijährige Aaron läuft in Tigerkostüm einem Schmetterling hinterher, seine Schwester liegt mit Kängurukörper rücklings auf einer grünen Wiese unter einem Baum.
Wer sich schon einmal die Ausgestaltung von Kinderfotos verschiedener sozialer Klassen zu Gemüte geführt hat, wird stilistisch viele Unterschiede erkennen. Kinder aus bürgerlichem Haus werden meist in weißer Kleidung abgelichtet, Babys vorzugsweise in schwarzweiß und vor allem nackt. Natürlichkeit, Reinheit und Unschuld soll das Bild transportieren. Kinder aus Unterschichtfamilien hingegen werden in Phantasiewelten katapultiert, in denen alles bunt und idyllisch ist und nichts und wieder nichts an die Realität des täglichen Kampfes ums soziale Überleben erinnert.
Nichtsdestoweniger schlägt sich bei aller Differenz in der Form dieselbe Vorstellung nieder: Kinder sind unverdorben, rein und müssen entsprechend von der Alltagsrealität ferngehalten werden, und sei es nur auf einem Foto. Das Wissen darum, dass es das Kind ist, das jenes Glück erleben kann, das der Erwachsene so stark vermisst, führt dazu, dass den Eltern die Kindheit zum Fetisch wird. Gerade in der Erziehung, die, wie Martin Dornis es formuliert hat, gar nicht relevant wäre, »stünden die Wetterzeichen in der Richtung, in die sie gehören«, manifestiert sich die Unfähigkeit der Eltern, das Verlorene zumindest den Nachkommen weitergeben zu können.
Idyllisch soll die Kindheit deshalb sein. Das kindliche Glück muss bewahrt werden. Aus dem aus der eigenen Erfahrung gespeisten Wissen um das Wertvolle des Kindseins heraus, das sich in der Phrase der »unbeschwerten Kindheit« zu gesellschaftlicher Relevanz aufschwingt, entsteht in der Folge eine Manie darüber, was alles mit dem Kind angestellt werden muss.
Zeugnis davon legt nicht nur eine unendliche große Zahl von Ratgebern und heftig geführten gesellschaftlichen Debatten über autoritäre versus antiautoritäre Erziehung oder Rassismus und Sexismus in Kinderbüchern ab. Die unendlichen und nur schwer erträglichen Konversationen von Eltern über ihre Sprösslinge reflektieren einerseits die Bestrebung des ­Individuums, die Chance nicht zu verpassen, sich als »Vater« oder »Mutter« noch einmal neu zu konstituieren, aber andererseits auch die Angst, irgendetwas falsch zu machen. Denn Erziehung ist nicht nur individuelle Persönlichkeitwerdung, sondern auch Ausdruck ­einer Allmachtsphantasie, dem Kind vorschreiben zu können, wie es zu sein bzw. zu werden hat: Es ist Persönlichkeitsformung.
Der Ausweg der Verweigerung, in der Praxis die vermeintliche Vorenthaltung oder Einschränkung der Welt des Warenkonsums, manifestiert sich, ähnlich wie in der Fotografie, in einem Trend zu einer intendierten Rückkehr zum vermeintlich Natürlichen. Eltern handeln aus der Überzeugung heraus, das Schlechte und Gute in der Welt erkannt zu haben. Dabei existieren gewisse Schemata meist nur noch in der Kulturindustrie: Der verhinderte Sport-Vater, der den Sohn am Spielfeldrand zu Höchstleistungen brüllt, kommt lediglich noch in amerikanischen Heranwachsenden-Filmen vor. Ebenso die strengen Eltern, die den Zögling zum Klavierüben mahnen. Einst galten sie den zum Bildungsbürgertum verkommenen Postachtundsechzigern als Anti-Schablone. Sie haben damals schon vermeintlich alles Falsche iden­tifiziert (globaler Finanzkapitalismus, industrielle Agrarproduktion, später Atomenergie) und wissen nur zu gut, wie sie sich angesichts dieser inakzeptablen Realität mittels ihres Konsumverhaltens neu positionieren müssen (Geldanlage bei der GLS-Bank, regionale Bio-Produkte, öffentlicher Nahverkehr). Dies schlägt sich auch in den Freizeitaktivitäten ihrer Kinder nieder. In Waldspielgruppen werden diese bei Wind und Wetter gezwungen, sich in sündhaft teurer »wettergerechter Kleidung« auf dem nassen Waldboden zu wälzen und »naturpä­dagogisch« Dinge aus Holz zu bauen, auch wenn das Playmobil zu Hause nicht nur angesichts des Wetters viel verlockender gewesen wäre. Einheitsschulen lehnen ihre Eltern übrigens ab. Außerdem könnten sich Chantal und Kevin, wenn sie denn wollten, den Esoterikkurs gar nicht leisten, in dem »mit Trommeln zum Krafttier« gereist wird und Traumfänger gebastelt werden. Es wäre wichtig, denn, so heißt es auf einer einschlägigen Internetseite, auf der eben jene Kurse für Kinder angeboten werden: »Auch und gerade Kinder haben in unserer heutigen Zeit eine Menge Herausforderungen zu bewältigen und dabei bleibt manchmal gar keine Zeit, sich aufs Träumen zu besinnen.« (2)

Kulturindustrie für Kinder

Begeistert berichtete mir vor einiger Zeit ein Freund von einem bebilderten Reimbuch, in dem ein Warzenschwein einen fast leeren Einkaufswagen vor sich hinschiebend durch den Supermarkt geht und sich eine ganze Reihe Produkte unter den absichtlich langen Mantel und in dessen Taschen stopft. Darunter stehen die Zeilen »Das Warzenschwein, das Warzenschwein, kauft heute wieder billig ein.« (3)
Das kleine Büchlein, das erstmals 1983 erschien und bis heute immer wieder neu aufgelegt wird, versteckt damit hinter dem Angebot der frühkindlichen Erlernung des Schreibens einen selten gewordenen Moment der Subversion. Eine Ausnahme. Eltern, die heute etwas auf sich halten, kaufen Produkte, die Sprachspiele enthalten, logisches Denken fördern oder sich mit der Vermittlung von bestimmten zeitgenössischen Werten beschäftigen. Die Produkte der Kinder-Kulturindustrie sind durch die Bank weg mit Lehren und Botschaften beladen, die der kindliche Konsument nach Gusto der auswählenden Erziehenden zu verinnerlichen hat. So unterscheiden sie sich zwar in ihrem Fokus stark, doch ebenso wie ihr Charakter als Produkte, die konsumiert werden wollen, ist ihnen vor allem ihre Zweckgebundenheit gemein. Japanische Anime-Serien oder Disney-Filme (»Gemeinsam schaffen wir es«, und Donald bekommt es immer wieder aufs Maul) differieren in diesem Sinne kaum von Produktionen wie der »Rappelkiste«, deren Hauptfiguren Ratz und Rübe die Thematik der Sendung immer auch in einer Art »Lernziellied« zusammenfassen mussten. Wie in einer handfesten Rambo-Schlägerei scheint das Kind mit der Hand am Hinterkopf gepackt zu werden, um es unaufhaltsam mit der Nase in die stinkende Brühe aus Wohlgemeintem hineinzutunken: Toleriere! Hab’ Phantasie! Sei klug! Die Produkte der Kulturindustrie für Kinder unterscheiden sich von ihren erwachsenen Verwandten vor allem darin, dass sie das »Füge dich« explizit machen. Und gerade das macht sie so anstrengend.
Das absehbare Ergebnis dieses Erziehungswahns ist dabei nicht unbedingt, dass der Spross zu einem toleranteren, phantasievolleren und klugen Menschen heranwächst, sondern vielmehr, dass der Konsum von Produkten insbesondere für Kinder des Bürgertums immer mehr zum Stahlbad wird. Heute muss das Mickey-Mouse-Comic nicht mehr madig gemacht werden, die zeitgenössischen Produkte der Kulturindustrie sind es bereits. Freude, Witz und Spaß finden jedenfalls meist nur noch dort statt, wo sie als Schematismus Motor der eigentlichen Botschaft sind. Alles, was gut ist, macht Spaß. Aber nicht alles, was Spaß macht, ist gut. Den Anspruch, Spaß zu machen, haben selbst »alternative« Produkte der Kinderkulturindustrie wie nicht-normative Kinderbücher, verlegt unter anderem im Berliner NoNo-Verlag. Allerdings würden solche Produkte zu Staubfängern in den Buchhandlungen werden, wenn nicht zumindest eine zentrale Botschaft enthalten wäre, die dem fertigen Weltbild der Eltern zu entsprechen vermag. Egal ob moralische Keule oder politischer Vorschlaghammer: Es gibt zwar qualitativ einen Unterschied zwischen »Kika«-Sendungen und linken Projekten wie eben jenen nicht-normativen Kinderbüchern. Gemein aber ist allen diesen Produkten, dass sie etwas vermitteln wollen und dass dieses Vermitteln, je höher der Bildungsgrad, um so deutlicher hervorsticht.
Zu Grunde liegt diesen als Erziehung missverstandenen Handlungen die Annahme, die Kinder seien »die Zukunft, um die sich die Erwachsenen selbst gebracht, (…) das Versprechen, das sie selbst gebrochen haben«. (Klaue 2010) Arme Kinder. Denn dass dergestalt etwas von jenem Kindesglück für die Zukunft bewahrt werden kann, das die Erwachsenenwelt so arg vermisst, ist Utopie. Zumal das Erreichen dieses vermeintlichen Glücks, sei es als das des Kindes oder das eigene, nicht um des Glückes willen selbst geschieht, sondern vielmehr Ausdruck von Hoffnungslosigkeit der Erwachsenen selbst ist. Cortázar hat dies in »Rayuela« so beschrieben: »Der Homo sapiens« sucht die Tür nicht, »um das Tausendjährige Reich zu betreten (…), sondern nur, um sie hinter seinem Rücken zumachen zu können und mit dem Hinterteil zu wackeln wie ein ausgelassener Hund, in der Gewissheit, daß der Schuh des verfluchten Lebens draußen bleibt, gegen eine verschlossene Tür donnert und dass man nun mit einem Seufzer der Erleichterung den armen Knopf am Arsch aufmachen kann und aufstehen und spazierengehen zwischen all den Blumen im Garten und sich hinsetzen und fünftausend Jahre lang eine Wolke betrachten oder zwanzigtausend, wenn das möglich ist und niemand sich aufregt, und, wenn eine Chance besteht, im Garten bleiben und die Blümchen ansehen«. (Cortázar, S. 405)
So bleibt der Versuch, das verloren geglaubte Glück zurück zu erlangen, ebenso wie die Erinnerung an eine glückliche Kindheit, nur Utopie, während des Kindes Wunsch, endlich »wie die Großen« zu sein, bereits den Betrug impliziert, zu dem das eigene Leben gerinnen wird. Doch ist es genau dieses antizipierte Glück, »wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, dass in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selbst gewesen sind«. (Adorno 1977, S. 289)

Anmerkungen
(1) Zum Begriff der Heimat bei Bloch schreibt Francesca Vidal: »Heimat meint nicht Herkunft, sondern Utopikum, denn Heimat umfasst die Welt als Ganzes. Ineins werden die materiellen Bedingungen des Naturverhältnisses und die gesellschaftlichen Entwürfe einbezogen, was Bloch mit der Marxschen Formel der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur veranschaulicht. Als Utopie einer menschen- und naturgerechten Gesellschaft sperrt sich die Metapher H. durch radikale Zukunftsorientierung jeglicher reaktionären Deutung.« (www.ernst-bloch.net/owb/fobei/fobei31.htm) Siehe auch: Vidal 2000.
(2) www.raja-schamanismus.de/Claudia-raja/Kindertage.html
(3) Bei dem Buch handelt es sich um »Das Tier-ABC« von Paul Maar.

Literatur
Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Gesammelte Schriften 13. Frankfurt/M. 1977
Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt/M. 1973
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Band III, Frankfurt/M. 1985
Cortázar, Julio: Rayuela. Himmel und Hölle, Berlin 1983
Gambetta, Aida N.: Julio Corázar, Homo ludens, in: »Relaciones« 52, (1992), Vol. XIII
Kellner, Manuel: Kritik der Religion und Esoterik, Stuttgart 2010
Klaue, Magnus: Ein Zimmer für sich allein, in: »Jungle World«, 27. Mai 2010
Locke, Stefan: »Wir brauchen Träume als Korrektiv zum Alltag«, (Interview mit Stephan Gründwald), FAS, 3. April 2013, www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/die-erschoepfte-gesellschaft-…
Maar, Paul: Das Tier-ABC, Stuttgart 1983
Vidal, Francesca: Sein wie Utopie. Zur Kategorie Heimat in der Philosophie von Ernst Bloch, in: Klaus Kufeld/Peter Zudeick (Hg.): Utopien haben einen Fahrplan, Talheimer 2000, S. 40 ff.

Lukas Böckmann, Annika Mecklenbrauck (Hrsg.): The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse. Ventil-Verlag, Mainz 2013, 256 Seiten, 14,90 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.